vonWolfgang Koch 04.04.2025

Wolfgang Kochs Wienblog

Vom letzten Glanz der Märchenstadt oder wie es sich an der blauen Donau gerade lebt.

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Fasten- oder Hungertücher, wie sie auch heissen, haben nichts mit medizinischer Beschwerdelinderung, mit Erholung der Verdauung, Gewichtsverlust oder Verbesserung des Stoffwechselns zu tun. Sie dienen den Gläubigen in der österlichen Busszeit dazu, sich von überflüssigen Genüssen zu befreien. Man/frau stimmt sich auf das höchste christliche Fest ein.

Seit dem 9. Jahrhundert verdecken Hungertücher die oft prachtvollen Altäre und Kruzifixe vor neugierigen Blicken. Oder sie trennen den Altarraum vom Rest des Kirchenschiffes, so dass der Vollzug des Mysteriums im Abendmahl nicht genüsslich betrachtet werden kann. Verzicht … Konzentration … Selbstbeschränkung, um einen inneren Freiraum zu gewinnen, sich empfänglich machen für das Wunder – dieses Vorhaben wird durch eine Renaissance der Fastentücher seit dem II. Vatikanischen Konzil 1967 neu belebt, und sie hat in Kärnten-Koroška und in Nordrhein-Westfahlen besonderen Anklang gefunden.

Fasten- oder Hungertücher sind kunsthistorisch betrachtet, wie der steinerne oder hölzerne Lettner, eine Weiterentwicklung der mittelalterlichen Altar- oder Chorschranken. In der Tradition des jüdischen Tempelvorhangs trennen sie die Gemeinde vom optischen Geschehen des Gottesdienstes, worauf die Redewendung »am Hungertuch nagen« zurückgeht.

Historischer Bedeutunsgwandel

Während der jahrhundertelangen Praxis hat sich in den Verzicht auf Schau und Effekt ein paradoxer Bedeutungswandel eingeschlichen. Die anfangs schmucklosen Tücher wurden im Lauf der Zeit künstlerisch immer raffinierter ausgestaltet. Im 12. Jahrhundert begann man im sogenannten Felder-Typus des Fstentuchs mit der Darstellung der Heilgeschichte – meist mit der Erschaffung der Welt und dem Jüngsten Gericht am Ende. Das liturgische Tuch diente so der Verkündigung des Glaubens mittels einer lebendigen Armenbibel, die auch Analphabet·innen verstehen konnten.

Seit den 1980er-Jahren kommen verstärkt progressive Gegenwartskünstler·innen und Laien bei der Gestaltung zum Zug. Den Professionisten geht es in der Regel um die Unmittelbarkeit, das Grundmerkmal des Bildes, also um seinen ursprünglichen Widerstand gegen die Mediation.

Inhaltlich verschiebt sich der Schwerpunkt der neuen Tücher stets weiter auf die pathetische Darstellung von Verletzlich- und Abschiedlichkeit des Lebens. Aus der freudigen Erwartung und der zuversichtlichen Hoffnung auf das Osterfest wird so ein düsterer Todeskult der Selbstanklage, die österliche Busszeit versinkt in einer neuen Lust am Memento mori mit Totenschädel (Gottfried Helnwein), Kreuzblut (Valentin Oman) und Flüchtlingszelten (Jakob Kirchmayer).

Schwierige Suche nach Qualität

Unter den etwa 300 Fastentüchern in rund 170 römisch-katholischen Pfarren Kärnten-Koroškas findet sich heute ein Wulst naiver Bauernmalerei, ein Berg von religiösem Kitsch aller Art, volksfromme Näharbeiten, eine Kopie des Turiner Grabtuchs, farbige Handabdrucke und zahlreiche ungelenke Collagen von Kinder- und Jugendzeichnungen. In dieser disparaten Bilderwelt Qualitätvolles aufzuspüren, ist nicht einfach. Ein wenig hilft dabei die bereits in der dritten Auflage erschienene Reisebroschüre ›Fastentücher in Kärnten-Koroška‹ von Roland Stadler und Monika Suntinger. Zusätzlich lässt sich die Website der Katholischen Kirche Kärnten-Koroška konsultieren.

1. Fasttuch von Haimburg, 1504

Fraglos das kostbarste der erhaltenen Kunstschätze mit dem Flair altniederländischer Landschaftsmalerei. Der Künstler ist unbekannt. Ein netzartiger Untergrund bildet sechs Register, in denen die 36 durch das altrote Gitter getrennten Bilder des ikonographischen Programmes wie in einer Streifenprojektion förmlich zu laufen scheinen. Diese lebende Bibel beginnt in gütigen Szenen mit einem aschgrauen Schöpfergott, der jung auf uns wirkt, weil die Menschen vor einem halben Jahrtausend noch nicht sonderlich alt wurden. Es treten Gestalten von Cranach’scher Zartheit in grünen Landschaften in Erscheinung und vermitteln uns neben der christlichen Botschaft auch ein Bild von der zeitgenössischer Kleidung und den Rüstungen, als noch Pfalzgrafen mit Heerhaufen durch Europa marschierten und den Bannspruch der Reichsacht zu fürchten hatten. Umgebung, Akzent und Hintergrund der Bilder sind mythisch: sie würden nicht aussagen, was sie aussagen, wären sie auf die heutige Plausibilität reduziert.

 

2. Fastentuch von Oswalt Kreusel in Millstatt, 1593

In der prachtvollen Ausstattung der Pfarrkirche St. Salvator und Allerheiligen fügen sich vier Stilepochen harmonisch ineinander. Wir betreten das Innere durch das romanische Trichterportal. Eine zusätzliche Trennwand im Vorraum verstärkt noch die uterale Atmosphäre, bevor uns am Ende des Hauptschiffs ein perfekt ausgeleuchtetes Hungertuch in den Bann zieht, dessen Schönheit spielend jeden barocken Hochaltar übertrifft. Der Sankt Veiter Kunstmaler hat es in einer Höhe von 8,4 Metern im Auftrag des St-Georgs-Ritterordens geschaffen, mit Wasserfarben ausgeführt und die Trennlinien der 29 Szenen aus dem Neuen Testament mit schwarzen Strichen markiert. Schon das unterscheidet dieses Tuch von allen anderen. Den Abschluss bildet ein Weltgericht, – und das tut es umso verblüffender, als unmittelbar daneben, an der Südwand des Kirchenschiffs, das sieben Jahrzehnte ältere und inzwischen arg ramponierte Weltgerichtfresko von Urban Görtschacher prangt. Durch die Hängung verdoppelt sich also der Weltenrichter auf dem Regenbogen, verdoppeln sich die posauneblasenden Engel, vervielfacht sich die aus dem Unendlichen tretende Herde der Erlösten und ebenso die aus dem Unendlichen strömende Rotte der nackten Verdammten.

3. Fastentuch von Karl Wolschner im Maria Saaler Dom, 1994

Die sich seit den 1980er-Jahren epidemisch ausbreitende Fastentuch-Mode erliegt, wo nicht gerade Kinder- und Jugendzeichnungen zusammengeschustert werden, einem fatalen ästhetischen Hang zur Abstraktion. Schmerz, Leiden, Konzentration, Busse – das alles scheint sich in der Kunst der Gegenwart nur mehr in einer ungegenständlichen Sichtweise mit den entsprechenden pathetischen Effekten abbilden zu lassen. Umso höher ist die Leistung von Karl Wolschner einzuschätzen, dessen Tauchbatiktechnik das Raster des klassischen Felder-Typs in der Textur fein zitiert. Ursprünglich für den Stephansdom vorgesehen, strahlt das von einer gotischen Plastik kopierte Antlitz des Erlösers nun in Ocker- und Brauntönen mutig monumental durch den Dombau zu Maria Saal. Der Zeremonienraum bleibt dabei frei. Tränen kleben dem Geschundenen wie Nacktschnecken am Lid. Kopfhaar und Bart laufen in psychedelischen Schlieren aus. – Kein Hungertuch würde sich besser zur Heilighauptandacht eignen als genau dieser verspätete Surrealismus Wolschners. Perfekt dazu passend eröffnete die Geistlichkeit eine Passionsmesse mit zurückhaltenden Gamelanklängen und Wolken von wohlduftendem, entzündungshemmendem, schmerzlinderndem, immunmodulierendem und antimikrobiellem Weihrauch, wie man ihn in keiner Wiener Kirche mehr in dieser Menge abzubrennen wagt.

4. Fastentuch in der Pfarrkirche St. Martin von Baldramsdorf, 1555

Der Ort liegt nahe bei Millstatt. Beim Betreten der putzigen zweischiffigen Halle glaubt man zunächst an einen Irrtum, weil einem das blaumarmorierte Gehäuse des Hochaltars von 1773 ganz unverhüllt entgegenquillt. Keine Angst, das Baldramsdorfer Fastentuch aus acht senkrechten Bahnen ist heute im südlichen Schiff an der Wand installiert, wo die 39 restaurierten Bildfelder in aller Ruhe inspiziert werden können. Gemalt wurde mit Leimfarbe auf Leinwand. Etliche Motive übernahm der unbekannte Künstler ungeniert aus Holzschnitten von Lukas Cranach und Albrecht Dürer. Der Reigen beginnt mit der Erschaffung der geozentrischen Welt, in der Symbole von Sonne und Mond in Bahnen um die Erde kreisen. Die Ecce-Homo-Episode ist auf die Urteilsverkündung durch den römischen Statthalter Pilatus reduziert.

5. Violettes Fastentuch in der Klagenfurter Stadthauptpfarrkirche St. Egid

Die grosse Emporenkirche der Landeshauptstadt hat mit der Gruft des frankoamerikanischen Schriftstellers und Konvertiten Julien Green (›Die Sterne des Südens‹, ›Jeder Mensch in seiner Nacht‹), sie hat mit den Deckenfresken von Josef Ferdinand Fromiller und sie hat mit der 1989 von Ernst Fuchs gestalteten apokalyptischen Psychonauten-Sakristei so viele Attraktionen auf einmal zu bieten, dass sich das Haus ganz unbeschwert auf die ursprüngliche Tradition des Fastentuchs verlassen kann. Bis zum Passionssonntag bleibt der Hochaltar mit seinen Kreuzen und Standbildern durch ein einfaches samtenes violettes Tuch verhüllt. Das ist nicht so ungewöhnlich und auch in kleinen Kirchen wie zum Beispiel in der Pfarre Maria Rain / Žihpolje immer noch gängige Praxis. Wenn weniger mehr sein soll und die Fastenzeit dazu dient, uns für die Feier des Osterfestes bereit und empfänglich zu machen, dann fastet das Auge bestimmt nur dort, wo es sich konsequent der neugierigen Blicke enthält.

6. Monumentales Fastentuch im Gurker Dom, 1458

In Kärntens grösstem romanischen Kirchenbau ist das Fastentuch der Superlative zu besichtigen. Das »älteste erhaltene bemalte Stück Europas« mit 99 Bildfeldern besteht eigentlich auch zwei Tüchern, die zusammengenäht wurden und einst wie ein Vorhang geöffnet werden konnten. Als Jesus starb, heisst es im Evangelium, »riss der Vorhang des Tempels entzwei« (Mt 27,51). Die Passionsgeschichte nimmt hier nur vierzehn Prozent des reichlich vorhandenen Bildraums ein. Mitten in die Heilserzählung – und gewissermassen zur Unterhaltung – wurden auch mythische Stoffe wie die Ermordung Julius Cäsars und Alexander der Grosse vor dem Hohepriester gemischt. In der Ecce-Homo-Darstellung tritt Pilatus mit vor der Brust verschränkten Armen neben den gefesselten Christus, was gebildete Demokrat·innen an die Interpretation des Johannes-Evangeliums erinnern könnte, die der österreichische Staatsrechtsgelehrte Hans Kelsen 1920 von der »grossartigsten Darstellung [des demokratischen Prinzips] in der Weltliteratur« gegeben hat. Nach Kelsen lud der Statthalter Roms die versammelten Juden schlicht zum Abstimmung darüber ein, ob sie lieber einen selbstermächtigten Herrscherkönig über ihren Köpfen oder den fiesen Räuber Barabbas begnadigen wollen. Kelsen erkannte darin quasi die Urszene im ewigen Krieg zwischen Autoritarismus und demokratischer Volksvertretung. – Bereits im Museum, nämlich in der Schatzkammer Gurk, ist das mittelalterliche Fastentuch der kleinen Pfarrkirche Steuerberg zu besichtigen. Die Transformation der Sakralkunst in von spirituellem Sinn befreites Kulturerbe ist auch in Kärnten-Koroška in vollem Gang. Die ihres Hungertuchs beraubten katholischen Gläubigen in Steuerberg müssen jetzt mit einem Textildruck afrikanischer Volkskunst aus dem Weltladen Vorlieb nehmen.

7. Fastentuch von Ferdinand Penker in der Pfarrkirche St. Nikolaus in Strassburg, 2009

Hier hängt ein zwölf mal sechs Meter grosses Fastentuch, das der Abwesenheit des Körpers Fleisch, das heisst Karnation und Sichtbarkeit durch die Anmutung einer raumfüllenden Serien von Röntgenaufnahmen verleiht. Der Durst, das Unsichtbare zu sehen, wird in 103 rot gerahmten und mit Schriften garnierten Feldern befriedigt, die dumpfe Knochenmasse im Negativ festzuhalten scheint. Zweifellos bewohnen hier mehrere Stimmen das »Tuch der vierzig Tage« und erziehen uns zu einer nebulosen Botschaft von Unschuld und Spiegelverkehrung, von Homonymie des Bildes und Erschliessung des Schriftsinns, von Weltende und Auferstehung.

8. Fastentuch von Maria Bichl / Lendorf in der Klagenfurter Rektoratskirche Christkönig, 16. Jh.

Zu dem erst 1924 wiederentdeckten Leidenstuch gelangt man durch das Diozesanhaus in der Tarviserstrasse. Der vom Wiener Dombaumeister Karl Holey geplante Sakralbau mit buntfärbigem Terrakotta im Inneren erinnert nicht zufällig an den Rustikalstil von Clemens Holzmeister, als dessen Vorläufer Holey gilt. Die 36 erzählenden und bereits stark verblassten Bilder der Biblia pauperum sind auf der Vertikalen durch Säulen unterteilt. Kurioses wie die Verlobung von Josef und Maria oder der Abschied des Gottessohnes von seiner Mutter wird neben kanonisierten Darstellungen ins Bild gesetzt. Wir erkennen heilige Handschläge und Christus bei der Himmelfahrt im knallroten Raumfahrer-Cape.

9. Kreuzweg-Fastentuch von Valentin Oman in Latschach / Loče am Faakersee, 2006

Wer den ›Piraner Kreuzweg‹ (1991/2016) in der neuromanischen Seminarkirche Tanzenberg, ein Hauptwerk in Mischtechnik auf Holz des slowenischen Kärntner Künstlers, kennt, wird das blutumspülte T-förmige Antoniuskreuz in der Pfarrkirche St. Ulrich sofort als Doublette identifizieren. Doch der im nahen Finkenstein lebende und arbeitende Artist lässt auf den ersten 13 Kreuzwegstationen des acht mal fünf Meter messenden Fastentuchs noch deutlicher als in Tanzenberg bedrucktes Zeitungspapier – eine Collage von kroatischen Zeitungsausschnitten der Kriegstage – als Malgrund für das Kreuz erkennen. Das XIV. Bild zeigt wiederum wie in Tanzenberg den Übergang von Chaos und Gewalt zum Frieden. Doch welche Überlegung hat den Palimpsest-Fanatiker Oman geritten, zwischen den beiden letzten Stationen einen mannshohen Durchgang aus dem Tuch zu schneiden und so den Blick auf das goldglänzende Allerheiligste freizugeben? Soll das Fastentuch denn nicht gerade den Prunk verhüllen? In Latschach hat der Künstler den ohnehin schon paradoxe Schaueffekt dieses Bildformats also noch eine quälende Windung weitergedreht. Und wir erkennen auch: Der Tiroler Künstler Jakob Kirchmayer hat es Oman 2024 mit den gerafft und geknittert 140 Quadratmeter Stoff in der Wiener Michaelerkirche, der ebenfalls spektakuläre Durchblicke auf den Hochaltar gestattete, nur nachgemacht.

10. Installationsvorhang von Anton Schurrer in der Klagenfurter Domkirche St. Peter und Paul, 2025

Dieses Leidenstuch in der ehemals grössten protestantischen Kirche Österreichs ist zunächst gar nicht als solches zu erkennen. Der steirische Lichtkünstlers hat aus einem schwarzen Vorhang mit der Aufschrift »JENSEITS« einen Riesenphallus zwischen Kreuz- und Hochaltar aufgepflanzt. Es handelt sich bei der Installation um einen betretbaren zwölf Meter hohen Tunnel, in dessen Inneren sich eine Videoprojektion abmüht, den Staunenden ein Gefühl der Schwerelosigkeit zu vermitteln. Der Künstler will damit die ausserkörperliche Erfahrung von »Nahtoderlebnissen symbolisieren«. Das wollten auch die Hippies schon mit L.S.D. Airlines – und zwar ohne Garantie für die Einhaltung der Abflugzeiten. Immerhin originell, dass sich der Nahtod-Tunnel oben im Schiffsgewölbe exakt auf das Fresko von Mariens Himmelfahrt hin öffnet und die Neugierigen gleichsam mit ihr der Erde entschweben.

© Text und Foto: Wolfgang Koch 2025

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