vonWolfgang Koch 08.05.2025

Wolfgang Kochs Wienblog

Vom letzten Glanz der Märchenstadt oder wie es sich an der blauen Donau gerade lebt.

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Vieldeutige Werke müssen aus vielen Perspektiven gelesen werden. Dabei wird jede Sicht ihre eigene Geschichte hervorbringen. Das Hauptwerk des österreichischen Künstlers und Mythen-Dramatikers Hermann Nitsch, sein monumentales Sechstagespiel des Orgien Mysterien Theaters, schliesst die Möglichkeit kanonischer Lektüren aus, da es Tiefe durch Direktheit und den Effekt erwartbarer Begegnungen durch die Erregung von ruhiger Achtsamkeit weckt.

Zu Pfingsten 2025 gelangen erstmals die letzten drei Tage der zweiten Fassung des Sechstagespiels in Schloss Prinzendorf und Umgebung zur Realisierung. Etwa eine Stunde vor der Sonnenuntergangsmusik am fünften Tag (das wird der 8. Juni sein), schlägt die Partitur vor, eine überreife rote Weinbeere auf der Zunge zu zerquetschen. Dazu soll zugleich der Geruch von Bier und Most registriert werden. Hermann Nitsch nennt das Ergebnis dieses Zusammenwirkens von Mund und Nase einen »abreaktionsgeschmack«.

Zweites Sechstagespiel im Jahr 2022 / Foto: Feyerl, Hermann Nitsch GmbH

In derselben Stunde hätten wir nach dem Willen der Partitur auch noch Kreuz-, Christus- Monstranz-, Orgasmus-, Grals- und Auferstehungsgeschmack zu registrieren. Auf dieses sinnliche Bombardement folgen dann Räucherversuche mit verschiedenen Essenzen, welche die Nase weiter strapazieren. Dann tönen dreissig Minuten lang die Glocken in den Ohren.

Ordnungen hinwegspülen

Keiner der anwesenden Gäste wird diesen Anweisungen des Autors buchstabengläubig folgen können. Man wäre bei dem Versuch, das ganze Bukett von Reizen aufzunehmen, schon nach ein paar Minuten heillos überfordert. Wozu steht es dann aber in der Partitur geschrieben? Wozu hat der Künstler nur zum Teil realsierbare Pläne für das »schönste Fest der Menschheit« auf voluminösen 776 Seiten festgehalten?

Nun, wörtliche Bedeutungen sind zum Ding erstarrter Geist, und der findet in diese gewaltige Performance gar nicht hinein. Nitschs Anweisungen sind maximal experimentierfreudig und von stupender Präzision. Sie eröffnen der Regie einen breiten Handlungsraum, und sie lassen auch den Zufall bewusst mitspielen, der ja ohnehin durch das unvorhersehbare Wetter und auch durch die Möglichkeit der »Spielteilnehmer«, wie die 500 erwarteten Gäste heissen, ihren Standort und damit die Perspektive zu wechseln, ständig gegeben ist.

Erstes Sechstagespiel im Jahr 1998 (100. Aktion) / Foto: Archiv Cibulka-Frey, Nitsch Foundation

Die Überfülle der Regieanweisungen und Kompositionen entspricht erstens der Exzess-Philosophie des Künstlers, der sich sein Leben lang »alles einverleiben« wollte. Sie führt zweitens jenen Moment der poëtischen Fiktion fort, den Nitsch in seinem 1982 in einer Auflage von 300 Stück erschienen literarischen Erstling ›die wortdichtung‹ angelegt hat. Und die Überfülle signalisiert drittens den Zeugen der Performance eine starke Aufforderung zur Freiheit des Erlebens.

Das theatralische Ereignis

Der Zufall ist im Orgien Mysterien Theater genauso willkommen, ist darin eingebaut, wie die Aufwallung des Todes im Symbol des Kreuzes, oder wie der Ordnungswunsch in der wiederkehrenden Symmetrie der Szenen. Und da Kunst, wie Nitsch sagte, »nichts als sich selbst ausdrückt«, löst die Erfüllung von visuellen, auditiven und olfaktorischen Eindrücken die entworfenen Bilder und Klangflächen auf in reines Entzücken.

Nitsch betrachtet den Weinkrug. Wenn wir ihn mit Wein füllen, wird uns der Wein berauschen. Aber das Glas gibt uns bereits vor dem ersten Schluck zu trinken: Freude und Frieden, Staunen darüber, auf der Welt zu sein, lebendig zu sein, Intensität, Wiederverbundenheit.

Es ist diese radikale Verwobenheit des Menschen mit der Welt, das heisst mit der Umwelt und mit dem Kosmos, die das OM Theater ausmacht und die es als etwas auszeichnet, das aus dem 20. Jahrhundert in die sterilen Lebenszentren der Zukunft hineinragt.

Mit unerbittlicher Sorgfalt

So paradox es auch erscheinen mag, das Kunstwerk ist in Wahrheit ein unvorbereiteter Text. Die Partitur setzt uns bloss aus, enthüllt, was zu dieser Zeit gegeben werden kann. Die Kunst von Hermann Nitsch verbirgt nichts vor uns, indem er Materialien und Handlungen vorschreibt, die formen, während sie geformt werden. Sein Spielplan arbeitet gegen den Zwang an zu Verschlüsseln, zu Verrätseln, Bedeutungen aufzutürmen. Darum hatte er auch keinen Grund sein Werk abzuschliessen; er überwand den Zwang zu vollenden, etwas zu schaffen, das im Schaffensprozess fixiert wird.

Letztlich besteht das Mysterium dieser Kunst, ihr Hyperkörper, lediglich im Bezug zu konkreten Stoffen: zu frischer Luft, blühenden Stauden, Büffelmozzarella, stockenden Blutlachen oder den Gesichtern fremder Menschen. Hier blitzt der vom Obst fett gewordene Bacchus auf, dort das Orchester als riesige Orgel.

Tag 3 des Zweiten Sechstagspiels 2023 / Foto: Elisa Partenzi, Hermann Nitsch GmbH

Hermann Nitsch ging es in seiner Arbeit einzig und allein um unsere Verbundenheit mit den Dingen. Er bestimmte Farben, Tiere und Töne nicht aufgrund ihrer ästhetischen Schönheit zu Mitspielern. Das wäre viel zu einfach gewesen. Er wählte die Sensationen seiner Spiele mit unerbittlicher Sorgfalt aus aufgrund ihres So-Seins, ihrer Realität, ihrer poëtischen Macht.

© Wolfgang Koch 2025

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