Der Wiener Künstler, Kunstpädagoge und Non-Profit-Aktivist Frank Gassner ist seit 27 Jahren an den Aktionsspielen des Orgien Mysterien Theaters in vielfältiger Form beteiligt. Er hat Hermann Nitsch, den Schöpfer des spektakulären Gesamtkunstwerks, kurz vor dessen Eintritt in das Krankenhaus im Jänner 2022 das letzte Mal gesehen. Sie besprachen damals, was nun vollendet wird.
Worum geht es in der Kunst?
FRANK GASSNER: Um alles, was sonst in keine Schublade passt. So einfach ist das für mich.
Worum geht es im Orgien Mysterien Theater?
GASSNER: Um ein tiefes Seinsbegreifen. In einer Collage wird die europäische Kunst- und Kulturgeschichte der letzten 3.000 Jahre aufgearbeitet.
Das erste Sechstagespiel hat Hermann Nitsch 1998 realisiert. Es war das einzige zu seinen Lebzeiten. Sie schliessen nun als Co-Regisseur die letzten drei Tage einer zweite Version ab. Was sind die markante Unterschiede nach so vielen Jahren?
GASSNER: Die Partitur, mit der wir arbeiten, ist wesentlich schlanker und einfacher. Die Anweisungen sind weniger fein ziseliert und der Aufwand, was etwa die mythischen Leitmotive betrifft, geringer. Die erste Partitur war viel dichter. Wir haben jetzt eine bequem umzusetzende Vorlage zur Hand.
Im zweiten Sechstagespiel fehlen die Tierschlachtungen vor Publikum.
GASSNER: Ja, das ist rausgeflogen. Nitsch wollte nicht, dass der Blick auf seine Arbeit wieder davon verstellt wird. Am fünften Tag kommt ein mit Gedärmen und Blumen gefüllter Sack ins Spiel, den wir aufschneiden, um darin zu wühlen. Am Morgen des sechsten Tages entborstet der Koch Max Stiegl ein Schwein und bricht es für einen seiner Sautänze auf. Am Nachmittag musiziert als weiterer Sidekick Moša Šišic mit seinem Ensemble. Diese Elemente sind als Teil des volksfesthaften Charakters des sechsten Tages zu sehen und stehen als solche nicht in der Partitur.
Hätte Nitsch solche Gastspiele in seinem Monumentalwerk akzeptiert?
GASSNER: Vermutlich sicher schon. Ich erinnere mich an eine Lehraktion als Vorspann für ein Gala-Menü in einem Restaurant am Pöstlingberg in Linz. Wenn es Geld gab, hat sich Nitsch durchaus breitschlagen lassen und seine Arbeit fremden Bedürfnissen angepasst.

Zur Professionalisierung des OM Theaters gehört, dass die Regie aus der handschriftlichen Original- eine Arbeitspartitur erarbeitet, die alle Akteure erhalten.
GASSNER: Das erleichtert die Proben. Die Arbeitspartitur enthält Skizzen, um die Abläufe bei den Proben schneller in den Blick zu bekommen, und auch Fotos, die verständlich machen, was gerade passiert. Jeder kann sehen, wie das gewünschte Bild ausschauen soll. Es gibt diesmal auch ein halbstündiges Video für die Akteure vorab, wo ich den Ablauf erkläre.
Erfahren die verwendeten Gerätschaften, also Tragen, Tische und Tröge, auf und in denen Materialien gemischt und zermanscht werden, auch so eine Verfeinerung?
GASSNER: Nein. Technisch gesehen gab es beim ersten Sechstagespiel viel kompliziertere Arrangements als heute. Im Jahr davor war in Neapel eine Aktion als Prozession auf einen Weinberg geführt worden. Dafür hat man erstmals Tragen mit Sitzen gebaut. 1998 waren dann schon drei solche Gefährte nebeneinander im Einsatz, obenauf ein totes Schwein hängend. Solche Vorgaben sind wieder einfacher geworden. Nitsch selbst hatte zwei linke Hände. Er bestellte 1998 in meiner sehr improvisierten Werkstatt auf der Wiese hinter dem Schloss, was am nächsten Tag der Proben nötig war. Einfach und schlicht musste es aussehen, das war alles. Um technische Details hat er sich nicht gekümmert.
»Die Langsamkeit der Aktionen geht in der
Filmdokumentation vollständig verloren«
Die zahlenden Zuschauer·innen heissen in Prinzendorf »Spielteilnehmer«. Ihnen sind laut Hausordnung bei dem Exzess private Foto- und Videoaufnahmen zum Schutz des Werkes verboten.
GASSNER: Herrmann Nitsch fordert zum unmittelbaren sinnlichen Registieren des realen Geschehens auf.

Diese Ikonophobie war doch schon 2022 und 2023 vollkommen unrealistisch, weil praktisch jeder Anwesende ein Mobiltelefon mit Fotofunktion in der Tasche hatte.
GASSNER: Das ist tatsächlich ein neues Problem. Dass die Szenen im Hof im Überblick festgehalten werden, ja mein Gott, das wird man nicht verhindern können. Aber der Einsatz von Handys in der Nähe wäre kontraproduktiv für das eigene Erleben. Er steht dem Registrieren des realen Geschehens im Weg. Es würde dem Werk einfach nicht guttun, wenn die Leute aufdringlich Aktionen festhalten. Bei Nitsch geht es darum, dass ich tatsächlich hinschaue, tatsächlich etwas angreife, und das wird mit dem Handy in der Hand nicht gelingen. Auch ein Kurzvideo ersetzt in keiner Weise das reale Erleben.
Hat sich mit der rasanten Ausbreitung der Kommunikationstechnologie nicht unser Erleben verändert? Der aktuelle Mensch denkt doch: Was ich nicht unmittelbar festhalten kann, das existiert nicht.
GASSNER: Pech gehabt! Dieser Mensch ist er beim charmant antiquierten Werk von Nitsch falsch angesiedelt. Man muss das OM Theater aus seiner Entstehungszeit heraus sehen; es bemüht sich um Zeitlosigkeit, aber die Ära, in der es erfunden wurde, ploppt dann doch immer wieder auf. Wir bemühen uns intensiv um dauerhafte Formen, die unser Dasein mit dem Kosmos verbinden. Hermann Nitsch hat zu Recht lange damit gehadert, dass dieses Werk im Film dokumentiert wird und das auch schriftlich so festgelegt. Was wir aus der Zeit vor dem Dreitagespiel 1984 haben, sind filmische Bruchstücke oder eigenständige künstlerische Arbeiten der Experimentalfilmemacher Stan Brakhage, Peter Kubelka und Jonas Mekas, oder der seit kurzem wieder zuänglich gemachten Film von Maria Lassnig. Erst Peter Kasperak hat die durchgehende Dokumentation beim Dreitagespiel etabliert. Wenn man diese Filmdokumente sieht, denkt man, dieses Theater war ein einziges Blutbad. Dass die Menschen zwei Drittel der Zeit mit dem Schmalzbrot beim Tisch gesessen sind, kommt darin gar nicht vor. Die Langsamkeit, das Kontemplative, das es in den Aktionen auch gibt, geht in der Filmdokumentation nahezu vollständig verloren.

Das Publikum kann nach Belieben den Standort wechseln, es kann die Szenerie von nahem oder aus der Ferne beobachten. Es switcht zwischen den euphorisierenden und den mediativen Momenten eines Theaters, das nichts darstellen will und trotzdem etwas vorspielt. Wie gehen Sie als Regisseur mit diesem inneren Widerspruch um?
GASSNER: Er ist unauflösbar, und er hat sich erst in der Geschichte dieses Theaters entwickelt. In den frühen Partituren, die im Wiener Mumok archiviert werden, ist das noch verwurschtelt. Da sind die »Spielteilnehmer« die Akteure und die »Akteure« die Spielteilnehmer. Irgendwann scheint Nitsch dann verstanden zu haben, dass bei ihm nicht nur eine Gruppe von Leuten anwesend ist. Er begann zwischen den Handelnden und den Zuschauern zu unterscheiden. Anfangs liebte er die Vorstellung, dass sich alle für zwei lange Monate in Schloss Prinzendorf versammeln und das Aktionsspiel so sorgfältig vorbereiten, dass am Ende jeder machen kann, was er will. Alle wüssten, was geschehen soll und könnten darum intensiv teilnehmen. In diesem Fall würden auch die sogenannten Ordensregeln Sinn machen. Man hätte es mit einer Gemeinschaft zu tun, die etwas mit sich selbst für sich selbst produziert. Unsere Realität 2025 ist aber eine einzige Probenwoche.
Findet das Orgien Mysterium für die zahlenden Besucher und Besucherinnen statt oder dient es dem Erleben der direkt Mitwirkenden?
GASSNER: Im Sinn des Erfinders wären vollkommen neutrale Akteure gefordert. Das ist gerade der Knackpunkt oder der Fehler im System. Sensuelles, Haptisches, Katharsisches erleben nämlich vor allem die Akteure und nicht die Besucher, die dem Geschehen nur mit Augen und Ohren folgen. Was tun die Akteure? Sie stellen ein Bild. Das hat etwas von einem barocken Tableau vivant, wo jemandem etwas gezeigt wird. In diesem Punkt bleibt Nitsch, ob er das nun wollte oder nicht, dem bürgerlichen Schauspiel tief verbunden. Schillers Ideal, dass wir dasitzen, bis die grosse Einsicht über uns kommt, und dann hinausgehen und sagen: »Jetzt bin ich ein besserer Mensch!« – dieses Schema konnte Nitsch nie überwinden.

Die Mitwirkenden sind Freiwillige. Kann man Freiwilligen verübeln, dass sie das eigene Erleben in den Vordergrund stellen?
GASSNER: Wer etwas macht, erlebt immer etwas. Aber bisher hat mir kein einziger Akteur von einer grossen Erleuchtung oder totaler Triebbefriedigung berichtet. Du bist in der Aktion mit ganz konkreten Dingen beschäftigt. Es ist kalt, es stinkt, du musst dich beeilen, weil du bald den Kübel holen musst, usw. Dabei kommt niemand so weit, dass sich für ihn alles ändert.
»Nitsch hat einmal den Wünsch geäussert,
eine Aktion nur mit
wohlbeleibten Menschen zu machen«
Sind die Akteure auf derselben Ebene wie die Tiere und die Requisiten angesiedelt?
GASSNER: Sie sind das durchnummerierte Material der Kunst. Es heisst in der Partitur ganz nüchtern: »Nr. 35 nackt am Kreuz«. Nur wenige Personen werden, wie in den Protokollen der Aktionen 1969-79, namentlich genannt. Der Spielleiter, der dem Modell Blut in den Mund schüttet, wird interessanter Weise überhaupt nie erwähnt. Nitsch formulierte den Höhepunkt der Ritualhandlung überwiegend im Passiv. Akteure und der Musiker·innen spielen also als Individuen überhaupt keine Rolle. Anderseits war es Nitschs sehr ernst mit der Intention, dass es einen Ruck durch die Person der Anwesenden gibt.
Die Fragen stellte Wolfgang Koch © 2025
