Weit oberhalb des letzten Dorfes lebte einer … Nein, genau genommen, war es ganz anders. Als der 22jährige Dichter Norbert Conrad Kaser aus dem Südtirolerischen Bruneck am 27. August 1969 bei einer Studientagung der Südtioler Hochschülerschaft seine Rede hielt, lachten die Kommilitonen dreimal laut auf. Bei der Invektive »Zuchtstier«, dann bei »armes Würstchen« und schliesslich bei der Schmähphrase »Vox populi – vox Rindvieh«, die des Volkes gesunde Stimme in den Kuhstall verwies.
»Hassrede« wäre ein viel zu ungenauer Begriff für das, was der junge Dichter da in den 23 Minuten seines Auftritts ablieferte. Hassrede wirkt weiträumig wie die Wüste Gobi. Hier handelte sich eher um eine haltlose intellektuelle Gaudi, die laut und verletzend sein wollte. Um Übertreibungskunst, an derem Ende Blutfliessen und Absolution hinausgebrüllt wurde. Höre, Gen Z! Wer Anspruch auf die Achtsamkeit der anderen stellte, galt in der Protestgeneration der 1960er-Jahre selbst als rigoros.
Eingeklemmt in den Bergen
Damals, in den wilden Jahren der Kettenraucher und der Wehrdienstverweigerer, der Achselhaare und der Autostopper, hielt man noch jeden moralischen Gehalt einer Meinung, die jemand äussert, für öffentlich verhandelbar. Die Menschen diskutierten, die Jugend las Bücher. Die jungen Generation verstecke sich nicht hinter Sprachregelungen, verschanzte sich nicht in Echokammern, wo jeder nur das hört, was er hören will.
Kaser griff die zeitgenössische Lyrik als »Exkremente einer total vertrottelten Bozener Schiessbundengesellchaft« an. Er behauptete die Existenz eines alle Kreativität erstickenden Mumelter-Clans (in den er auch gleich den Organisator der Veranstaltung, Gerhard Mumelter, miteinbezog). Kaser attackierte mit heftigen Vorwürfen den führenden Literaturwissenschafter dieser Jahre und die Südtiroler Medien, darunter auch die Kultur- und Literaturzeitschriften.
Schlächter im Anmarsch
Ein gutes Haar liess er nur an bestimmten Vorboten des Neuen (Franz Tumler, Paul Flora, Karl Plattner) und an den aus Südtirol exilierten Autorenkollegen Herbert Rosendorfer, Joseph Zoderer, Claus Gatterer und Kuno Seyr.
Kasers bewusst undiplomatisch gehaltene Brixner Rede gilt heute als historischer Auftakt zu dem kulturellen Aufbruch der Provinz. Der junge Dichter verbot sich nationalistische Töne im Heimatdusel. Er beklagte die »Schmachtfetzen« und die »Vertrottelung« der Tirolensen. Die Berge sollten nicht länger als Zäune des Weltbilds dienen; Goethe nicht mehr länger als »die grosse Warntafel an der Kreuzung nach Süden« stehen. Kaser verlangte nach einem lebendigen Austausch zwischen den Autor·innen und Kulturschaffenden deutscher, italienischer und ladinischer Sprache.

Umsonst! Vergeblich! Erfolglos! Die Empörung war, angeheizt vom Chefredakteur der meistgelesenen Tageszeitung Dolomiten, enorm im Land. Die rachsüchtigen Stimmen der Majorität degradierten den Jungautor zum »Kasermandl« und der Brixner Auftritt stand mit diesem Ochsentitel nicht mehr am Beginn einer glanzvollen literarischen Karriere, sondern am Beginn von Kasers Isolation. Der Störenfried schlug sich fortan in prekären Verhältnissen durch, überwintere im Kapuzinerkloster, bewohnte ein Schebergartenhäuschen in Wien, wurde aus Not Hilfslehrer an Südtiroler Bergschulen. So könnte die Epoche den Jungen aus dem Kleinhäusler holen, aber nicht den Kleinhäusler aus dem Jungen.

Es gelang diesem wunderbaren Dichter zu Lebzeiten kein einziges kommerzielles Buch zu publizieren. Vier Sammlungen seiner Gedichte entstanden im Selfpubishing für Freunde. Wäre Norbert C. Kaser nicht im Jahr nach seinem Tod – er starb am 21. August 1978 in Bruneck an den Folgen einer fortgeschrittenen Leberzirrhose – vom Wiener Kulturjournalisten Hans Haider auf den Schild gehoben worden, hätten wir den wahrscheinlich originellsten Schreiber der Protestgeneration nicht mehr kennen gelernt.
Einfühlsamer Pädagoge
Dass Kaser mehr als Gift & Galle versprühen konnte, wird nicht nur in den Sammlungen seiner Gedichte in deutscher und italienischer Sprache sichtbar, sondern auch im Widerstand gegen die Gleichgültigkeit der Schulbehörde. Als der Dichter 1974/75 als Hilfslehrer der III. und IV. Klasse in Flaas tätig war, Gruppen zu je zwanzig Schüler·innen, monierte er, dass die Kinder ausgerechnet mit Schulbüchern aus der BRD an das Leben herangeführt wurden. In den Rechenbeispielen der dritten Schulstufe sollte laut Lehrplan die Zahlensumme von 1000 nicht überschritten werden. »Da nun viele Rechenprobleme auf Geld gebaut sind«, so Kaser, »kommt man bei uns mit 1000 Lire nicht weit, wo doch schon der Wert von 100.000 den meisten Kindern ein realer, lesbarer, verwertbarer Begriff ist. Eigentlich müssten wir sämtliche deutschen Geldwerte in den Problemen umrechnen, was ein Wirrwarr ergibt und unserem Schokoladenpreis bei weitem nicht entspricht«.
Kasers Sensibilität und sein Mitgefühl für Schwache, seine Parteinahme für das Unkraut, seine minutiöse Beobachtungsgabe findet sich in Hunderten von Gedichten. Etwa in dem kurzen Versen unter dem Titel ›drohung‹:
ob faust
oder erhobener zeigefinger
die geste bleibt gleich
solange du die hand
nicht auftust
777777
lass fallen
die drohung
den inhalt deiner hand
77777
leere haende sind
voll guter dinge
(zit. n. Gesammelte Werke, Bd. 1: Gedichte, Haymon-Verlag 1988).
Der Tiroler Grafiker und Museumsaktivist Matthias Breit hat in dem schmalen Bändchen einer neuen zeithistorischen Reihe des Haymon-Verlags die Brixner Rede mit einem Kommentar des Germanisten Roland Innerhofer ediert. Als Texte abgedruckt sind darin auch die zeitgenössischen Reaktionen auf den jungen »Hitzkopf« und »Brunstschädel«, auf das »heiliges Rindvieh«, den »Hund und dreckigen Fock«. – Am vornehmsten noch: »Die Zäsur zwischen den jungen und älteren Generationen ist nun einmal da«. Heftig [Lesewarnung!]: »Alle Schützen aus unserer herrlichen und teuren Heimat Südtirol werden dich verfolgen bis zu hin bist«.

Ein Link der Publikation führt zu einem renovierten Mitschnitt der Rede, deren Tonqualität zwar weiterhin zu wünschen lässt, die jedoch die Atmosphäre im Saal mitdokumentiert, sowie die überraschend selbstsichere Bassstimme dieses Kämpfers für eine bessere Welt.
© Wolfgang Koch 2025
bei goethe ist stop. nobert c. kasers brixner rede 1969. mit einem essay von roland innerhofer, Haymond: marginalien 01, 72 Seiten mit Audiolink, ISBN 978-3-7099-8260-0, 19,90 €
Präsentationen:
11.11. um 20.11 Uhr im Treibhaus in Innsbruck
9.12. um 19.30 Uhr im Republikanischen Club, Wien
