Wie nähern wir uns möglichst untouristisch einer fremden Stadt? Nun, dazu müssen wir einen emotionalen Aspekt finden, der – am besten schon vor Antritt der Reise – ein interessantes Netz über den unbekannten Ort aufspannt. Das werden eher selten die Menschen sein, die das Ziel bewohnen. Wir würden in den Sozialen Medien doch nur in ein paar Blasen vordringen, wo man uns mit geschönten Portraitaufnahmen, Hochzeitstorten und Babyfotos umgarnt.
Im Fall der bevölkerungsreichsten Stadt der Türkei bieten sich vielleicht Moscheen oder Kaffeehäuser an – aber auf diese Idee kommt auch die Fremdenverkehrsvorsorge. An manchen Orten ist es die besten Idee, sich den Freiluftmärkten und Basarvierteln zuzuwenden. Trödelmärkte erzählen mehr als Museen. Sie erzählen von den Freuden und Moden von gestern, von den Triumphen und Niederlagen des Lebens.
Vor der Reise
Um Istanbul zu entdecken, legt uns der Berliner Dağyeli Verlag einen nahezu unschlagbaren Schlüssel in der Hand: 18 Erzählungen über die im Menschen- und Häusermeer am Bosporus lebenden Tierwesen, also Streunerkatzen, Strassenhunde, stolze Tauben, eine Mördermöwe und Kinoraben.
Der kleine handliche Band, in dem sogar die Seitenzahlen ein Eigenleben führen, eröffnet mit einem wahren Feuerwerk. 2021 hat Dağyeli die wunderbaren Weisheitsgeschichte ›Das Buch des Amba Besarion‹ von Besik Kharanauli veröffentlicht. Auf demselben literarischen Hochniveau wie der Georgier aus der stummen Generation liefert der Babyboomer Şükrü Erbaş im Istanbul-Band ein Knäul aus Seelenpein, geheftet an das Schwanzwedeln eines Hundes.
Die Begegnung von Menschen mit anderen Lebewesen wird in ›Meine Einsamkeit namens Tarçın‹ geradezu existenziell. »Nicht die Zeit, die Welt zieht vorbei am Menschen«, heisst es an einer dunkeltraurigen Stelle. »Ein Teil von dir verläuft sich in den Strassen, ein Teil von dir ist das Abbild des Verfalls in den Häusern, ein Teil von dir ein zerschlagener Wunsch, der am Galgen der Basare baumelt. Alles liegt in Stücken, jeder Ort ist verloren, alle sind sprachlos. Der Mensch erreicht seine Toten nicht«.
Was geschehen ist, wird klar, als Tarçıns fünf vierbeinige Freunde gleichzeitig ihre Schwänze senken. In anderen Erzählungen lacht Istanbul hell auf wie kleine Mädchen. Wir durchstreifen mit einem Vogelzüchter den Himmel auf der Suche nach den Wesen, die ein flatterendes Klatschen in der Leere hinterlassen. Stadttauben laufen einem auf den Moscheehöfen und Plätzen Istanbuls ständig vor die Füsse. Ein »bleiblaues, grünes und pupurn schillerendes Gerucke, Gepluster«. Dazwischen Strassenkatzen, die ausser dem Umstand, Katzen zu sein, keine besonderen Merkmale haben.

Die Erzählungen des schönen Bandes sind in einem aberwitzigen Gothic-Font gesetzt und geben Tipps zur Tierhaltung und zum Bau von Katzenhäusern; der Poët Haydar Ergülen, ein Babyboomer, ruft auf, »eine Vereinigung von Freiwilligen für Katzen und Hunde« zu gründen.
»Die Anschaffung eines Tieres muss man so sehen, als bekäme man ein Kind, und nicht, als nehme man vorübergehend einen Gast bei sich auf«, lesen wir in ›Die Volkstauben von Istanbul‹ von Ali Ayçil. Der Autor aus der Generation X beobachtet »eine uralte, sich unverändert wiederholende Szene«: eine nach Herzenlust Wasser trinkende Taube. »Wenn Tauben aus einem Brunnen in Istanbul trinken, ist es ein besonderer Moment, in dem diese Vögel, die dem Menschen so nahe sind, und die Architektur, die der Stadt ihre Identität verleiht, in einem Bild verewigt werden, das einen Platz an der unsichtbaren Wand der Zeit erhält«.
Gebrauchsanweisung für Koko
Wir schlüpfen in den Kopf eines im Wald ausgesetzen Hundes, wir bewundern das Weiss der Flügel von Dachvorsprung-Bewohnern, und wir studieren eine ›Gebrauchsanweisung für Koko‹ vom frühen Morgen bis zum Abschiedsgassi um 23.00 Uhr.

Städtische Tiere tauchen häufiger in Reportagen, Filmepen und Roman als in Erzählungen auf. Man denke an die gequälten Zootiere, mit denen Kriegsberichterstatter die Emotionen ihres Publikums zu rühren versuchen. Nobelpreisträger László Krasznahorkai, ein Babyboomer, lässt in seiner Osteuropa-Parabel ›Az ellenállás melankóliája‹ (Melancholie des Widerstands, 1989) eine riesige Population verwilderter Katzen in einer kleinen Stadt in Südostungarn auftreten. »Übergewichtige Geschöpfe, sichtlich verwildert, geboren aus einem langen Traum, die unter diesen günstigen Umständen eindeutig zu ihren uralten Raubtierinstinkten zurückkehrten, Zeugen, Zaren eines lange erwarteten dunklen Zeitalters, das endlos zu dauern schien, die neuen Herren einer Stadt, in der […] die Zeichen eines fortschreitenden und allgemeinen Verfalls nur allzu deutlich zu erkennen waren.«
Rigide Männer
Wer nach dem nivellierenden Diskurs der letzten Jahrzehnte noch in der Lage ist, die Geschlechterdifferenz als Quelle von Lust und Lebendigkeit zu erfahren, wird mit der Erzählung ›Koko. Pati und die anderen‹ des Autors und Dokumentaristen Gökhan Akçura, ein Babyboomer, viel Freude haben. Darin heisst es: »Wenn Sie einen Mann erziehen wollen, schenken Sie ihm eine Katze. Denn entweder lernt er, mit Katzen so umzugehen, wie sie es mögen, oder er muss sie wieder aus seinem Leben verbannen. Diese Art von Beziehung ist nur möglich, wenn der Mann bereit ist, Zugeständnisse bei seinen Gewohnheiten zu machen. Vor allem, wenn er vorher mit einem Hund zusammengelebt hat, muss er sich komplett umstellen«.

Und dann richtet sich Akçuras Erzähler direkt an den groben Kerl im Mann: »Sie sind jetzt mit einem Wesen zusammen, das nicht kommt, wenn Sie es rufen, nicht tut, was sie ihm sagen und sich nicht einfach überall knuddeln und streicheln lässt. Sicher, nach einer Weile lieben Sie ihre Katze, aber diese Liebe ist überhaupt nicht so, wie Sie sich das vorgestellt haben. Sie werden zusehends dazu gezwungen, sich so zu verhalten, wie sie es will. Man kann eine Katze nur zu ihren Bedingungen lieben, nur so kann eine Beziehung aufgebaut werden. Dies wiederum bedarf einer grundlegenden Veränderung des Mannes, der diese Art von Nachgiebigkeit nicht gewohnt ist. Aus diesem Grund ist es für rigide Männer gar nicht einfach, Katzen zu halten und zu lieben. Ein harmonisches Zusammenleben mit einer Katze ist dann möglich, wenn der Mann seine Rigidität aufgibt. Männer, die dies auch in ihrem zwischenmenschlichen Leben umzusetzen vermögen, können eine stimmige Beziehung zu Frauen aufbauen. Ja, ich wiederhole: Eine Katze kann in dieser Hinsicht eine gute Lehrerin sein!«
© Wolfgang Koch 2025
Tuğçe Isıyel (Hg.): Von Tieren, Menschen und der Stadt. Geschichten aus Istanbul, Übersetzungen von Sara Heigl, 168 Seiten, ISBN: 9783910948051, 22,- Euro
