vonWolfgang Koch 18.12.2025

Wolfgang Kochs Wienblog

Vom letzten Glanz der Märchenstadt oder wie es sich an der blauen Donau gerade lebt.

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Frau Géraldine Muhlmann, 2022 haben Sie gegen die »theologisch-politische Heuchelei« von Agamben, Habermas und Moffe in der Geschichtsphilosophie polemisiert. In ihrem neuen Buch betonen Sie die Langlebigkeit der Tatsachen. Wie definieren Sie Fakten?

Géraldine Muhlmann: Ich behaupte, dass die Faktizität eines jeden Sachverhalts ein Material ist, das durch die Sinne erfasst wird. Und das gilt selbst für Statistiken, die auf der Grundlage von sinnlich erfassten Einzelfällen basieren. Sie sind »faktisches Material«, ein Ausdruck von Hannah Arendt, wenn die behandelten Gegenstände anfechtbar und zugleich konstruiert sind. Bereits im stillen Akt des Sehens und Empfindens gibt es etwas Konstruiertes, was die Faktizität jedoch keineswegs aufhebt.

Was wird aus den Fakten in einer zunehmend virtuellen Welt?

Muhlmann: Unser Zusammenleben und unsere Demokratie stehen auf dem Spiel. Selbst die hitzigsten Debatten benötigen ein Fundament allgemein anerkannter Fakten, um verstanden und geteilt werden zu können. Die KI ist nicht der Hauptgrund für die Probleme des Journalismus. Wir befinden uns in einer Welt aus Filterblasen, so dass alle absolut das Gleiche denken. In Filterblasen bleiben wir unter uns. Neugier wird durch die Dynamik der Gespräche unterdrückt. Wenn wir uns gegenseitig in einer Meinung bestärken, gehen wir nicht mehr von Tatsachen aus, die in die Welt passen. Wir verleugnen ihre Existenz. Jeder lebt tendenziell in seiner eigenen Realität.

Die Übersetzung Ihrer Thesen erscheint in Wien, der Stadt von Karl Kraus.

Muhlmann: Ich habe die ausserordentliche Ironie von Kraus bereits in meiner Doktorarbeit 2001 gewürdigt. Er hat in seiner Zeitschrift Die Fackel gezeigt, dass es kein anderes Reich gibt als den Journalismus, in dem wir der Moderne entkommen können, um in aller Gelassenheit Kritik zu üben. Wir befinden uns im Inneren dessen, was wir angreifen. Die gedankliche Wucht von Kraus ist grossartig, weil er genau wusste, dass sein einziges Werkzeug die Presse war.

»Die Geschichte der Zeitung

ist mit der Vorstellung

eines Gemeinsinns verbunden«

Stellt das Aufkommen von Fake News und alternativen Fakten das Fundament der Öffentlichkeit infrage?

Muhlmann: Wir sind in der schwersten Krise, die der Journalismus seit Entstehung der Nachrichtenmedien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erlebt hat. Journalistenhass ist so alt wie der Journalismus selbst. Zur Zeit ihres Aufstiegs im 19. Jahrhundert wurde die Presse vom Adel und dem Bürgertum, den Vertretern der etablierten Ordnung, gehasst, weil sie deren umfassenden Blick auf die Gesellschaft fürchteten. Die Geschichte der Zeitung ist mit der unbestreitbaren Vorstellung eines Gemeinsinns verbunden. Das Publikum hat das Recht, die Wahrheit zu erfahren. Fast alle führenden Persönlichkeiten der Französischen Revolution waren Zeitungsredakteure. Während der Pariser Kommune wurden innerhalb von 70 Tagen 70 Zeitungen gegründet. Heute sieht sie sich der Journalismus einer neuen Feindseligkeit ausgesetzt; ihm wird vorgeworfen, gegen das Volk zu sein. Heute entsteht der Hass von unten. Journalisten werden pauschal den Eliten zugerechnet, Nachrichtenmedien in einer ständigen Komplizenschaft mit den Mächtigen wahrgenommen.

Wie entkommen Medien der zunehmenden Verachtung, ohne in blinde Selbstgefälligkeit zu verfallen?

Muhlmann: Wir müssen zur Idee des 19. Jahrhunderts zurückkehren, dass es einen Reporter braucht, der die Dinge körperlich überprüft. Mein Aufschrei ist eine Beunruhigung. In jedem bedeutenden Bericht, selbst wenn er vollkommen korrekt und detailliert ist, liegt die Verantwortung bei einem Erzähler, der unweigerlich seine eigenen Entscheidungen getroffen und seine eigene Perspektive zum Ausdruck gebracht hat. Jeder Bericht ist ein Werk, das sowohl Zeugnis ablegt als auch dezentriert.

Im Interview: Géraldine Muhlmann

geboren 1972, ist Professorin für Politikwissenschaft und Politische Philosophie an der Universität Paris II Panthéon-Assas. Die Absolventin der New Yorker University School of Journalism moderiert die Radiosendung »Avec philosophie« auf france culture. Ihr Buch ›Zur Verteidigung der Fakten‹ ist im Passagen Verlag (162 Seiten, 25 Euro) erschienen.

»Ich mag nicht mit einem einzigen Konzept alles erklären« / Foto: Nathalie Guyon

Führt uns dieser Weg hinaus aus der postdigitalen Realität?

Muhlmann: Die Flut an unterschiedlichen Diskursen, Gesprächen, Stimmungen und endlosen Kommentaren verschlingt jede faktische Materie, über die wir eigentlich sprechen sollten. Dazu kommt die Überzeugung, dass es überhaupt keinen Sinn hätte, den Dingen auf den Grund zu gehen. Alle theoretisieren vor sich hin. Darum ist es ganz wichtig, auf die Ausgangsidee des Journalismus zurück zu kommen, die darin besteht zu recherchieren, eine Situation zu untersuchen und die gewonnenen Fakten miteinander zu teilen. Sinnliche Erfahrungen sind teilbar. Für mich ist es klar, dass eine flexiblere journalistische Perspektive und eine grössere Vielfalt an Stimmen derjenigen, die an der Erzählung beteiligt sind, unweigerlich zu einem reichhaltigeren Informationsfluss führen.

»Das Publikum steht im Zentrum

des Bemühens um Unparteilichkeit«

Eröffnen Sie eine neue Realismus-Diskussion?

Muhlmann: Nein! Weder eine Realismus- noch eine Positivismus-Diskussion. Ich verteidige die Tatsachen nicht auf positivistische Weise und denke, dass es wissenschaftliche Wege gibt, die den bekannten überlegen sind. Es gibt keinen Realismus im Sinn eines übergeordneten Standpunkts, der die Wahrheit sagt. Die Tatsachen sind greifbar, und zwar sinnlich erfahrbar. Sie vermitteln sich zuerst dem Körper, der einzigartig ist. Zu einer Unparteilichkeit der Wahrnehmung zu gelangen, ist ein Projekt.

»Der schwache Geist wehrt sich unbewusst gegen Zuviel-Wissen« –
Géraldine Muhlmann am grössten Buch-Event Österreichs / Foto: Passagen Verlag

Wann ist das Tatsachenmaterial als »wahr« anzusehen?

Muhlmann: Der Reporter weckt eine gemeinsame Neugier, den sogenannten human interest. Er lenkt den Fokus der Leser auf die gemeinsame Sache und nimmt wahr, wie jeder beliebig andere auch wahrnehmen würde. Zu fragen, ob die erzählende Person unparteiisch genug ist, heisst zu fragen, ob man ihr vertrauen kann. Unparteilichkeit ist fortwährende Arbeit an sich selbst.

Das erinnert an Ludwig Feuerbachs Grundsatz von 1843, dass wir an dem zweifeln, was wir allein sehen, und allein das gewiss ist, was auch der und die andere sieht.

Muhlmann: Feuerbach verstand sehr gut das sinnlich Erfahrbare der Praxis. Wenn zwei Menschen etwas fühlen, teilen sie das sinnlich Erfahrbare, noch bevor sie versuchen, die Dinge zu theoretisieren.

Was deutet das für die Frontberichterstattung, die es im Drohnenkrieg ja gar nicht mehr geben kann?

Muhlmann: Jean Hatzfeld hat 1994 sein Buch über die Jugoslawienkriege ›L’Air de la guerre‹ genannt, um darauf hinzuweisen, dass der Krieg einen gewissen Geruch und Geschmack hat, etwas, das erfahrbar ist und das der Reporter versuchen muss zu vermitteln. Der Drohnenkrieg macht das sehr viel schwieriger.

»Unparteilichkeit ist der Weg,

Gefühle zu universalisieren«

Wie kommen wir im permanenten Spannungsfeld der Erregung über das Falsche der Wahrheit näher?

Muhlmann: Fakten haben immer auch eine spaltende Wirkung. Sie erst ermöglichen unsere unterschiedlichen Urteile und Meinungen, und damit ins Gespräch zu kommen. Man muss akzeptieren, dass ein Urteil über die Fakten nie vollständig abschliessbar ist, sondern auf ein Abwägen hinausläuft. Die libertäre Journalistin Caroline Rémy, genannt Séverine, und Jules Vallès, ein grosser Romancier und Publizist, versuchten an ihren Emotionen zuarbeiten, damit sie empfinden wie die Bürger oder das Volk, um ihre Arbeit so weit zu teilen, wie nur irgendwie möglich. Unparteilichkeit ist ein Konzept, die Empfindungen und Emotionen nicht einzigartig bleiben zu lassen, sondern universalisierbar zu machen.

Warum begeistern Sie sich für Serien und Podcasts?

Muhlmann: Sie befriedigen etwas, das der Journalismus nicht mehr zu geben vermag – das Verlangen, dem Leben der Anderen näherzukommen und den Wunsch nach Langsamkeit.

Was nützt die journalistische Berufsethik, solange die Information in erster Linie eine Ware bleibt, mit der Verlage Gewinne machen?

Muhlmann: Natürlich gab es einen kommerziellen Aspekt bei der Erfindung des Neuigkeiten-Formats. Aber seltsamer Weise hat die Presse auch eine moderne Deontologie erfunden. Joseph Pulitzer, Eigentümer der US-amerikanischen Zeitung New York World, nannte die drei bedeutensten Worte im Journalismus: »Accuracy, accuracy, accuracy«. Er betonte damit die entscheidende Rolle der faktischen Korrektheit in der Berichterstattung. Schon in der englische und in der schottische Aufklärung hat etwa Adam Smith die Idee des gemeinsamen sinnlich Erfahrbaren formuliert.

Die französische Medienlandschaft teilen sich heute zehn Multimilliardäre untereinander auf.

Muhlmann: Es gab immer sehr reiche Leute, die über das Presse- und Verlagswesen Einfluss auf die Politik nehmen wollten. Das Neue an der heutigen Situation ist, dass wir es mit einem Konzern zu tun haben, der die politische Macht erobern will. Dieses Projekt ist viel expliziter.

Stimmen Sie der These von Ingo Dachwitz und Sven Hilbig zu, dass das Zeitalter des Kolonialismus nicht zu Ende ist und heute in der Virtualität einen neue Dimension erreicht?

Muhlmann: Ich mag nicht mit einem einzigen Konzept alles erklären. In solchen Gewissheiten der Geschichtsphilosophie gehen Zweifel, Kontingenz und Komplexität verloren.

 

Es interessiert Sie nicht, ob KI-Modelle intelligent sind. Sie kritisieren, dass KI uns Inhalte mit der Gewalt aufzwingt, die wir von überraschenden Fakten her kennen.

Muhlmann: Es ist offensichtlich, dass uns KI berührt. Vor zwei Jahren sprachen wir von Deepfake. Inzwischen kennt KI unsere inneren Zustände und Stimmungen sehr genau. Die These zur Virtualisierung der Welt, die ich entwickle, wird dadurch verstärkt. Das Unheimliche war bisher das eigentliche Zeichen für die Wahrheit des Faktischen. Das ist ein völlig anderes Problem als das einer Maschine, die uns durch ihre komplette Verselbstständigung bedroht.

Wie profitiert politische Macht von der Virtualisierung?

Muhlmann: Hinter dem Wunsch nach dem Einfachen steckt oft ein sozialer Schmerz. Der schwache Geist sieht nur das, was er zu ertragen vermag. Er wehrt sich unbewusst gegen Zuviel-Wissen. Der Trumpismus ist eine Geisteshaltung, die im Zentrum der gegenwärtigen Virtualisierung der Welt steht. Trump hat gezeigt, dass die gegenwärtige Erosion des Begriffs Fakt selbst die Macht ergreifen kann.

Hatte George Orwell in seinem Jahrhundertroman recht damit, dass jene, die am besten wissen, was in der Gesellschaft gespielt wird, am weitesten davon entfernt sind, die Welt zu sehen, wie sie tatsächlich ist?

Muhlmann: Der Philosoph Claude Lefort hat auf Orwells tiefes Verständnis für den Körper und den Blick hingewiesen. In seiner Dystopie haben die Leute, die der politischen Klasse angehören, ganz kleine Augen und sehen aus wie ein Skarabäen. Eine wichtige Metapher! Winston, der Romanheld, hingegen erlebt eine tiefe fleischliche Liebe und lernt dabei die Realität mit seinem Körper zu sehen, wie sie ist. Das macht ihn gefährlich für das Regime.

Woran arbeiten Sie zurzeit?

Muhlmann: Ich bin ziemlich hart mit mir selbst. Ich spreche nie über Bücher, bevor ich sie geschrieben habe.

Interview: Wolfgang Koch, Übersetzung: Isolde Schmitt

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