vonWolfgang Koch 20.12.2025

Wolfgang Kochs Wienblog

Vom letzten Glanz der Märchenstadt oder wie es sich an der blauen Donau gerade lebt.

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Drei Anläufe hat es nach dem Tod von Hermann Nitsch gebraucht, um die letzte Partitur des österreichischen Theaterneuerers in dramatische Bilder, Szenen und wuchtige Klänge umzusetzen: 2022, 2023, 2025. Was für ein Gesamtkunstwerk haben die 1.500 Besucher zu Pfingsten im österreichischen Schloss Prinzendorf zu sehen bekommen? Teil 1

Das zweite Sechstagespiel des Orgien Mysterien Theaters ereignete sich in drei Etappen. Hat es dabei an Dynamik gewonnen?

Frank Gassner: Tag 1 war noch überschattet vom Tod des Künstlers. Wie fragten uns: Lässt sich das Spiel überhaupt ohne ihn machen? Im folgenden Jahr war dann schon klar: Es ist machbar, und heuer waren wir uns völlig sicher, dass es niemanden anderen gibt, der das so hätte machen können.

Ihr Co-Regisseur Leonhard Kopp empfand die Arbeit mit den Akteuren ausgesprochen harmonisch.

Gassner: Die jungen Menschen, die heute mitwirken, sind eben schon viel geübter darin, gemeinsam in Strukturen zu arbeiten, als die Generationen vor ihnen. Mehr als die Hälfte der Akteure ist dem Künstler nie lebend begegnet. 80 Mitwirkende waren gar nicht immer ausreichend, beim Schlussbild hätten wir 150 Leute brauchen können.

Fusswaschung am Tag 4 des zweiten Sechstagespiels / Foto: eSeL, Atelier Nitsch

2025 wurde eine Reihe von Einsparungen vorgenommen, von den Porzellantellern über die Holzrampe im Becken bis hin zu einer Musikkapelle.

Gassner: Das war immer so. Am Rand des Möglichen zu kratzen, ist einfach Teil des Unternehmens.

Was wurde während der Proben am Spielablauf geändert?

Gassner: Eine Menge. Das Andreaskreuz zum Beispiel war ein Einfall von Leonhard Kopp.

Warum wurden die Magnesiumfackeln am Ende der Kelleraktion durch eine LED-Spotleiste ersetzt?

Gassner: Bei der Rauchentwicklung im Schlosskeller wären wir innerhalb einer Minute gestorben. Schon die normalen Wachsfackeln waren nach eineinhalb Stunden total stinkig. Auch die angelieferten gefüllten Gedärme wurden eingespart. So war es einfacher, die Aktionspartitur zu realisieren.

Das Auferstehungsmotiv in der Partitur verlangt aber doch ausdrücklich den Geruch von Kot.

Gassner: Das ist mir wurscht! Das OM Theater ist oft weit pragmatischer, als es in den theoretischen Texten den Anschein hat. Rita Nitsch wünschte sich zum Beispiel, dass die Männer im Keller mit nackten Oberkörper dastehen. Das mussten wir wegen der Kälte wieder streichen.

Präzise Handgriffe, ozeanische Gefühle. Tag 4 des zweiten Sechstagespiels / Foto: eSeL, Atelier Nitsch

Nitsch castete seine passiven Modelle souverän nach ästhetischen Kriterien. Sie haben die Mitwirkenden freundlich um freiwillige Meldungen für Positionen gebeten.

Gassner: Nitschs Casting wäre heute nicht mehr zeitgemäss. Unser Ergebnis war das gleiche.

Im Lauf der Proben wurden dann Modelle doch wieder ausgewechselt, etwa wegen zu auffälliger Tattoos.

Gassner: Es kommt eben darauf an, ob jemand in einer Einzelposition nackt im Hof steht oder unter einem Schwein liegt.

Im Interview: Frank Gassner

geboren 1973, ist Künstler, Queer-Aktivist, Rauschforscher und Pädagoge für bildnerische Erziehung an einem Wiener Gymnasium. Von 1998 bis 2007 war er der persönliche Assistent von Hermann Nitsch. Er gründete den gemeinnützigen Verein WERKIMPULS und Eduqueer, eine offene Gruppe für lesbisch/bi/schwule, Trans- und Inter-Lehrer·nnen, 2010 eröffnete er den ersten »offenen Bücherschrank« in Wien.

Beim Zweitagespiel 2004 schulterten nur Männer die langen Gral-Sperre. Im diesjährigen Mysterienspiel stemmten auch Frauen eine der fünf Meter langen Waffen.

Gassner: Da wurden alle verfügbaren Personen gebraucht. Wir mussten aber ersthaft überlegen, ob auch die Frauen barbussig gehen oder nicht. Wir haben uns für Bekleidung entschieden. Die Frauen hätten sonst alle Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Sie auf alle fünf Speere zu verteilt, hätte zu Grössenunterschieden geführt.

Worum war das grosse Betonbecken im Schlosshof nie vollständig mit Tuch ausgelegt?

Gassner: Nitsch-Partituren verlangen keine strikte Umsetzung, die Aktion ist als reales Ereignis an die Gegebenheiten anzupassen. 1998 zum Beispiel stand simpel »Der Stier wird geschlachtet« in der Vorlage. Das hätte bei dem Aufwand, der zwei Stunden lang mit Tierarzt, Absperrungen und so weiter betrieben worden ist, kein Mensch vermutet.

»Man muss nicht hundertmal wiederholen,

wenn die Leute mit faden Gesichtern dastehen«

Die Hälfte der Akteure stand für nur drei Probetage zur Verfügung. War das ausreichend?

Gassner: Wir hätten sogar noch ein paar Tage weniger proben können. Man muss die Sachen nicht hundertmal wiederholen, wenn es keinen Mehrwert hat und die Leute mit faden Gesichtern dastehen.

Viele schwärmen von dem Erlebnis, als am Ende des verregneten fünften Tages der Sonnenschein durch die Wolkendecke brach.

Gassner: Das ist Reiz der Aktion unter freiem Himmel. Spiel, Musik und Wetter wuchsen zu einem einzigartigen Zustand zusammen. Die Partitur bietet viel Platz für solche Zufälligkeiten.

Die Proben befassten sich auch mit den Gefahren beim Tragen und Wühlen. Den Akteuren wurden sogar vorsorglich die Fingernägel geschnitten. Gab es Unfälle?

Gassner: Ein eingezogener Splitter und eine Krankenhauskontrolle von einem Akteur, dem Blut in die Nase geronnen war. Am letzten Tag soll ein besoffener Zuschauer umgefallen sein. Also nichts Dramatisches im Vergleich zur Blutvergiftung von zwei Personen vor zwei Jahren, die damals auf der Intensivstation landeten.

Haben Sie während des Spiels in die Handlung eingegriffen?

Gassner: Wenn die Aktion früher fertig war als die Musik, verlängerten wir die Pausen bis zur nächsten Position. In anderen Situationen verzichteten wir auf Wiederholungen, weil sonst die Luft aus der Aktion raus gewesen wäre.

Prozession auf der Dorfstrasse. Tag 4 des zweiten Sechstagespiels /Foto: eSeL, Atelier Nitsch

Laut Partitur hätte die grosse Stiertrage am sechsten Tag vier Stunden lang im Hof herumgetragen werden sollen. Gedreht wurden schliesslich nur zwei Runden.

Gassner: Das stimmt! Tag 6 wurde mit dem Tragen und Monstranz-Hochhalten in eineinhalb Stunden sehr frei interpretiert. Das war beeindruckend und lange genug.

Hätte Hermann Nitsch der Abschluss seines Lebenswerks gefallen?

Gassner: Für mein Empfinden war es in seinem Sinn.

Laut dem britischen Künstler Joseph Sakoilsky fand am 9. Juni 2025 der Wiener Aktionismus mit der letzten Arbeit seines letzten Protagonisten sein historisches Ende.

Gassner: Dann hab ich halt den Wiener Aktionismus zu Grabe getragen! Jetzt ist aus, keine Fortsetzung mehr möglich.

Woran arbeiten Sie zurzeit?

Gassner: In der Dissertation, an der ich schreibe, untersuche ich das OM Theater als kulturwissenschaftliches Spielphänomen. Es ist erstaunlich, wie genau sich Nitsch an die Formvorgabe Spiel gehalten hat. Auch die Frage, was das OM Theater mit dem Leben zu tun hat, lässt sich unter diesem Aspekt erklären.

Inwiefern?

Gassner: Ist es zum Beispiel notwendig, dass ich mich in die Gedärme schmeisse, um mich dabei zu verändern? Meiner Ansicht nach war für viele Mitwirkende die soziale Interaktion weit wichtiger als die Kunst selbst. Sie lernten andere Personen kennen, lebten einige Tage am Land. Diese Erlebnisqualitäten kommt in den Dokumentationen überhaupt nicht vor.

Spielte das für Nitsch eine Rolle?

Gassner: Nein, ihm ging es um den grossen Blick auf die Kultur und Menschheitsgeschichte.

Eine von Nitschs Lieblingsphrasen war die »unbedingte Verwandtschaft aller Motive«. Er teilte acht Kernmotive in drei Gruppen: Zerreissung des Dionysos, Kreuztod und Liebesmotiv.

Gassner: Da liegt mir sein Wort »An Kunstwerk is ka Kreuzworträtsel« auf der Zunge. Die Leitmotive hat er bei Richard Wagner abgeschaut. Sie genau aufzudröseln, nimmt der Aktion den Reiz der formalen Spielerei. Nitsch verstand sich als Künstler, nicht als Wissenschaftler. Die Sachen mussten vor allem einmal gut ausschauen.

»Etwas formal Gelungenes kann

zugleich total verstörend sein«

Hat Hermann Nitsch nicht erwartetet, dass Kunst eine Antwort sucht auf das Grundproblem: wie ein Mensch zu sich findet oder durch welche Mächte er daran gehindert wird, zu sich zu finden?

Gassner: Meiner Beobachtung nach fiel seine Wahl nach rein formalen Kriterien. Hat man schon einmal bemerkt, dass das Zitat des christlichen Opferlamms eigentlich gar nicht funktioniert, weil die Seitenwunde in ein Schwein hineingeschnitten wird?

War denn Nitsch nicht überzeugt davon, dass archetypische Bilder im Ritus ihre kollektive Bedeutung entfalten? 

Gassner: Natürlich wirken die szenischen Bilder stärker, wenn sie einen Assoziationszusammenhang ergeben. Und sicherlich dient das Anspielen bestimmter Themen dazu, dass wir sie in uns abhandeln. Aber ich denke immer die Zufälligkeit mit. Bei der Zuordnung der Gerüche zu den Motiven hat sich der Künstler nicht viel gedacht, sondern einfach die Nachschlagwerke zur Hand genommen, die gerade auf seinem Arbeitstisch herumlagen.

Morgenprozession am Teg 6 des zweiten Sechstagespiels / Foto: Daniel Pucher, Atelier Nitsch

Hermann Nitsch hat seine Arbeit auf über dreitausend Druckseiten erklärt. Auch das macht ihn einzigartig.

Gassner: Ja, aber die Sprache der Kunst ist die Form, nicht der Inhalt. Das war seine Botschaft. Dabei kann etwas formal Gelungenes total verstörend sein. Es gibt Kunstwerke, zu denen wir »Nein!« und trotzdem »Es schaut schon gut aus!« sagen. Auch 2025 sind uns Bilder mit diesem Gänsehauteffekt gelungen. Nitsch wusste, wie man ein monumentales Bild aufbaut, um etwas anzutriggern. Er hat mir einmal in Zürich Ferdinand Hodlers Gemälde ›Blick in die Unendlichkeit‹ (1913/16) mit den Worten gezeigt: »Schau Franz, so macht man Monumentalität! Nicht eine tanzende Frau, fünf davon!«

Müssen Szenen gekreuzigter und begossener Körper als chiffrierter Niederschlag von Erfahrungen einer ganz anderen, averbalen Ebene der Wirklichkeitserfassung verstanden werden?

Gassner: Ich denke, Nitschs Assoziationen hätten auch völlig belanglos sein können. Sie sind es aber gerade nicht! Das ganze Konstrukt weisst faszinierende Brüche auf, wir stolpern über die ganze Rätselhaftigkeit des Menschen. Die Motivik bis zum Ende zu diskutieren, führt allerdings zu nichts. Die theoretischen Äusserungen in den Partituren liegen auf einer Ebene mit den angeführten mathematischen Formeln, die den Reiz des Geheimnisvollen haben, ohne dass sie verstanden werden. Das erklärt auch die vielen Widersprüche in den Texten. Trete ich einen Schritt zurück, so erkenne ich sie als Teil des Mysteriums. Der Theorie des OM Theaters muss man mit wohlwollender Distanz begegnen. In der Mathematik spricht man von einem »schönen Beweis«, wenn eine Lösung eine unglaubliche Befriedigung erzeugt. Auch wenn’s rational nicht ganz aufgeht, es ist und bleibt ein schöner Gedanke.

Die Fragen stellte Wolfgang Koch © 2025

 

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