1. Platz: SPECTRUM der Tageszeitung »Die Presse«, Redaktion: Karl Woisetschläger
Top der Woche: Ein sympathischer Essay des austrifizierten Kulturtheoretikers Wolfgang Müller-Funk über den Wandel der Grenzen im Allgemeinen und den der Staatsgrenze im nördlichen Waldviertel im Besonderen. In diesem weit ausholenden Beitrag meditiert ein gut informierter Autor, der seinen Blick an den Bewegungsformen der Kunst schult, über die Entwicklung von Differenzprofilen und den Sinnwandel bei Markierungen von Räumlichkeiten. Ist der moderne Traum von der Grenzenlosigkeit am Ende totalitär? Nein, sagt Müller-Funk, ohne Grenzziehung keine Kultur.
Flop der Woche: Franz Schuh, Platzhirsch der Wiener Intelligenz, liefert eine schaumschlägerische Bildbetrachtung des Renaissanceportraits »Der Humanist Jakob Ziegler« von Wolf Huber (1544). Nicht nur, dass Schuh in gewohnt arroganter Manier kunsthistorische Fakten in den Wind schlägt, er umflort das, was er »in das Bild hineinsieht«, mit einem solchen Schwulst, dass wir ihm auf dem beigestellten Autorenfoto [sieben Mal so groß wie das gegenständliche Kunstwerk abgebildet] einen Reiszweck unter den Hintern schieben möchten. Schuh bleibt blind gegenüber dem Antikisierenden der Bildinschriftentafel; er erkennt nicht, dass die Hintergrundlandschaft dem Geographen Ziegler geschuldet ist; stattdessen: eine »leichte Traurigkeit« im Gesicht des Portraitierten, die natürlich mindestens eine »Traurigkeit der Erfahrung« ist – unter solchen Einsichten ins verwandte Menschenwesen geht’s nicht. Eine »Kraftquelle« will Schuh in den Augen Zieglers entdeckt haben. Nigromanzi, Ziegenfuß! Wer braucht so was? Die schwarze Kleidung des Humanisten symbolisierte gerade nicht den Kirchenmann, sondern den berufsmäßig Gelehrten, deren Schuh bloß ein ignoranter zu sein scheint. Ein Theaterensemble, das solche Pretiosen in der Gemäldegalerie der Kunsthistorischen Museums (KHM) zur Aufführung bringen will, scharrt gewiss schon in den Löchern.
2. Platz: EXTRA der »Wiener Zeitung«, Redaktion: Gerald Schmickl
Top der Woche: Eine Kolumne der in Zürich lebenden Verena Mayer über den angeblichen Militärfimmel der Schweizer. Der kurze Text führt uns kräftig in die Irre, bis die Autorin am Ende mit einer knappen Pointe das klar macht, was dem Rektor der neuen Friedensuniversität Schlaining, Gerald Mader, auf zwei vollen Seiten derselben Ausgabe (»Die Utopie einer Welt ohne Krieg«) nicht zu sagen gelingt: dass wir Waffen immer genau so lange für böse ansehen, als sie die Waffen der anderen sind.
Flop der Woche: Österreich exportiert erfolgreich einen Unterhaltungsautor. Über zwei Interviewseiten darf sich Daniel Glattauer zu den Auflagenzahlen seiner Bücher äußern, sowie zu den Fragen, ob er ein »Frauenversteher« sei (Nein), ob er sich für einen »Beziehungsschriftsteller« halte (Ja), und was er sich denn gerne selbst einmal gefragt hätte. – Die F.A.Z. wollte diese Woche von Jonathan Franzen wissen: Ob es für die amerikanische Identität noch entscheidend sei, woher jemand komme? Ob die politischen und ökonomischen Einschnitte seit 9/11 auch die Psyche des Menschen verändert haben? Ob wir heute allzu oft Freiheit mit Glück verwechseln? Ob der ständige Konkurrenzdruck einen Optimierungswahn ausgelöst hat, dem immer weniger gewachsen sind? Ob der Schriftsteller das Bewusstsein für das Thema Umweltschutz schärfen möchte? Ob Franzen in großen Fernsehsserien eine Konkurrenz zu Romanen siehe? – Sogar das elitenferne Magazin News schafft es den Schriftsteller Peter Handke in der aktuellen Ausgabe zu fragen: »Haben Sie je mit Drogen experimentiert? … Haben Sie die Debatte um Norbert Gstreins Roman Die ganze Wahrheit verfolgt? … Wandert die Literatur ins Netz?« – Solche Fragen führen mit etwas Glück zu lesenswerten Schriftsteller-Interviews. Aber das EXTRA scheint an Glattauer nur das Vorurteil bestätigen zu wollen, dass österreichische Autoren philosophische Fliegengewichte und politische Dummies sind.
3. Platz: ALBUM der Tageszeitung »Der Standard«, Redaktion: Christoph Winder
Top der Woche: Ein Interview mit dem ehemaligen Bürgermeister von Bogotá Enrique Peñalosa. Die exemplarische Durchsetzung der »demokratischen Mobilität« im innerstädtischen Verkehr von Kolumbiens Hauptstadt ist keine echte Neuigkeit. Doch der Interviewer Wojciech Czaja hat einen Österreich-Besuch des visionären Verkehrsplaners zum Anlass genommen, den Mann in seiner erfrischenden Emotionalität dazustellen. So aus vollem Herzen schadenfroh, wie Peñalosa hier über Autobesitzer herzieht und für Fußgänger, Fahrräder und Busse Partei ergreift, wird man das von Österreichs Politikanten noch in 50 Jahren nicht hören.
Flop der Woche: Peter Fuchs wagte sich für die Leserschaft in der dänischen Hauptstadt Kopenhagen im Neoprenanzug ins Wasser, um an einem Schwimmwettbewerb für Amateure zu teilzunehmen. Die Schwimmbrille dürfte er zuvor bei Baedeker erworben haben. Denn was Fuchs da beim Kraulen so alles erblickt, geht auf keine Kuhhaut mehr. »Bei Atemzügen links erkennt man die bunten Fresken an der Fassade … beim Atemzug rechts erscheint das Gebäude der Nationalbank kurz im Gesichtsfeld. Ihre vom dänischen Star-Architekten Arne Jacobson entworfene Fassade mit grauen Marmorplatten ohne Schnörkel ist ein reizvoller Gegensatz zur gegenüberliegenden Börse…« – Sicher wird man diesen lesenden Schwimmer bald in Venedig auftauchen sehen.
Gesamtwertung der Wiener Feuilleton-Konkurrenz 2010: 1. Platz: SPEKTRUM (28 Punkte), 2. Platz: EXTRA (19 Punkte), 3. Platz: ALBUM (13 Punkte) – Wir gratulieren!
© Wolfgang Koch 2010