Der Bär flattert schwach in östlicher Richtung.
Am Mittwoch legten sie die neunzigjährige Frau Krüger zu mir. Ihre Tochter begleitete sie und regelte alles. Frau Krüger war angenehm und zurückhaltend. Abends fanden wir beide das Fernsehprogramm unerträglich, also schalteten wir den Apparat ab und redeten miteinander. Sie erzählte mir, daß sie in Charlottenburg geboren wurde und neben Zilles Wohnhaus aufwuchs. Sie arbeitete in den Seifen-Geschäften ihres Vaters, der hatte in ganz Berlin Filialen. Das interessierte mich, weil Jörgs Mutter Edith als junges Mädchen ja auch in den Filialen der Firma Seifen-Losch gearbeitet hatte, also bei der Konkurrenz. Frau Krüger fand das natürlich ebenfalls interessant und berichtete, daß Seifen-Losch manchmal direkt neben ihren Läden eine Filiale eröffnete – Verdrängungswettbewerb.
Mit zwanzig hat Frau Krüger geheiratet, bekam 1941 ihre Tochter und war mit fünfundzwanzig Witwe, ihr Mann war gefallen. Den Krieg erlebte sie in ihrer Wohnung in Charlottenburg, im Luftschutzbunker hat sich sie das Beten angewöhnt: »Ich bete täglich, aber man sollte nicht nur bitten, man muß auch mal danken.« Es war keine Bombe auf ihr Haus gefallen und sie hatte den Krieg gut überstanden. Sie fand: »Es ging uns etwas besser als den anderen, da wir einen Garten hatten und Gemüse und Kartoffeln ernten konnten.« In den fünfziger Jahren heiratete sie wieder, ihr zweiter Mann war zehn Jahre älter: »Es gab damals ja wenig Männer, die meisten waren im Krieg geblieben.«
Frau Krüger lebt noch immer in Charlottenburg, allerdings jetzt in einem kleinen Appartement im Parterre ihres Hauses. Sie versorgt sich auch selbst und arbeitet noch immer im Garten. »Mir geht es gut«, erzählte sie, »ich bin jetzt weniger krank als früher und brauche keine Tabletten. Das einzige, was nicht so schön ist: Alle meine Freunde sind mittlerweile gestorben. Nun habe ich neue Freunde, mit denen ich konditern gehen kann, oder wir laden uns gegenseitig ein und spielen Karten. Aber es sind eben neue Freunde, die so jung sind, daß sie meine Kinder sein könnten.« Auf meine Frage: »Wie alt sind die?« sagte sie: »Siebzig.«
Wir gingen jeden Tag den Flur entlang und erkundeten das Schlaflabor. Ich hatte inzwischen keine weiße Maske mehr, sondern nur noch weiße Punkte überall, auch die Nasespitz war weiß.
Abends schalten wir den Fernseher nur für die Nachrichten ein und reden dann. Frau Krüger machte sich Sorgen wegen ihres Hautkrebses. Ich erzählte vom Tod meiner Schwiegermutter, und daß sie in Pankow beerdigt werden wollte. Frau Krüger möchte anonym beerdigt werden, weil sie befürchtet, daß sowohl ihre Ekelin, als ihr Urenkel das Grab verwahrlosen lassen würden, und das wäre ihr peinlich. Selbst erstaunt über ihre Offenheit sagte sie: »Darüber habe ich ja noch nie mit jemand geredet.« Dann erfuhr ich, daß viele Charlottenburger im Südwest-Kirchhof Stahnsdorf beerdigt wurden, zu dem vom S-Bahnhof Wannsee eine vier Kilometer lange Stichlinie der S-Bahn führte, mit der auch die Särge transportiert wurden. Hierhin fuhr sie als kleines Mädchen mit ihrer Mutter und bepflanzte die Gräber der Großeltern. Ihre Mutter legte immer Schokolade hinter den Grabstein, damit sie gern mitfuhr, denn die Tochter mußte die Gräber gießen. Jetzt, zum 150. Geburtstag von Zille, hatte Frau Krüger mit ihrer Tochter einen Ausflug zum Friedhof gemacht, sie waren erst zu seinem Grab gegangen, dann zeigte sie der Tochter den Weg zum Familiengrab. Und tatsächlich fanden sie den Grabstein ihres Großvaters, er war umgefallen und lag im Gras wie die anderen Grabsteine auch. So will es das Denkmal-Konzept, denn seit der deutschen Teilung sind viele Grabfelder mit Waldgebüsch und Unterholz zugewachsen. Und es gibt wegen der weiten Entfernung zu Berlin und weil in den Zeiten der DDR die S-Bahn-Anlage abgerissen wurde, nur noch wenige Beisetzungen.
Frau Krüger und ich redeten aber nicht nur über die letzten, sondern auch über die heitern Dinge des Leben. Zum Abschied empfahl sie mir, ich solle meinen Mann öfter mal loben und weniger meckern.
(BK)