Der Interamerikanische Menschenrechtskommission (CIDH) wird die Dominikanische Republik vor dem Menschengerichtshof in San José, Costa Rica, anklagen. Die Kommission will dadurch die dominikanische Regierung zwingen, Auskunft über das Schicksal des am 26. Mai 1994 verschwunden Universitätsprofesoren und Journalisten Narciso „Narcisazo“ González, ein politischer Gegner des damaligen Staatspräsidenten Joaquín Balaguer, zu geben. Gemeinsam mit der dominikanischen Wahrheitskommission, die das Verschwinden des Oppositionellen untersucht, hat das Zentrum für Gerechtigkeit und Internationales Recht (CEJIL) den Fall vor die Menschenrechtskommission gebracht. González war wenige Tage nach den Präsidentschaftswahlen vor 16 Jahren verschwunden. Wegen Wahlfälschungen war es damals zu schweren Unruhen gekommen.
Im Jahre 2002 habe ich dazu Artikel veröffentlicht, die versucht haben, dem Schicksal des Verschwundenen nachzugehen:
„Hey, Narcisazo“, hörte Narciso González eine männliche Stimme seinen Spitznamen aus einem Fahrzeug rufen, das auf der Straße Duarte parkte. González war gerade aus dem Kino gekommen. Es war gegen 21 Uhr. González bückte sich hinunter und schaute ins Wageninnere. Der Gedanke, sich um diese Uhrzeit, wo alle Weit nach Hause will, in einem der überfüllten Busse über abgasschwangere Straßen Richtung westliche Vororte schaukeln zu lassen, war nicht gerade verlockend. Außerdem musste er bald seine Tabletten einnehmen, die ihm die Ärzte gegen seine Epilepsieanfälle verschrieben hatten.
Narciso „Narcisazo“ González
Der kameradschaftliche Ruf beim Spitznamen überzeugte. González öffnete die hintere Tür und ließ sich auf den Rücksitz fallen, auf dem ein weiterer Mann saß. Nach wenigen Metern bog der Wagen in die Straße Benito ein. Einige Querstraßen weiter, ganz in der Nähe des Präsidentenpalastes, sprang die Ampel auf Rot. González sah aus dem Augenwinkel einen Jeep neben dem Fahrzeug hatten. Plötzlich überstürzten sich die Geschehnisse. Die Hintertür wurde aufgerissen und brutale Hände griffen nach ihm. In Sekundenschnelle zerrten ihn mehrere Männer in den Wagen mit dem Vierradantrieb. González war wie gelähmt. Als er begann, sich zu wehren, war es schon längst zu spät. Der Schlag nahm ihm die Besinnung.
So könnte sich die Entführung von Narciso González abgespielt haben – und viele spricht für diese Version. Am 26. Mai 1994 verlor sich die Spur des Journalisten und Universitätsprofessoren für Literatur, in der Innenstadt von Santo Domingo, der Hauptstadt der Dominikanischen Republik, keine drei Straßenblocks von der Polizeizentrale entfernt.
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„Warum wurde Narciso González verschleppt?“ Raphael Dominguez, ein enger Freund und Kampfgefährte des Verschwundenen kann nicht sofort antworten. Das ganze Viertel ist plötzlich in tiefe Nacht gehüllt. Eine gespenstige Stille, als schlagartig die Musikanlagen mit der dröhnenden Merengue-Musik verstummen. Wieder einmal ist der Strom ausgefallen. Erst einmal gilt es, eine Petroleumlampe zu holen, die fortan Licht spendet.
„Weil er ein unbeugsamer Mensch und Störenfried war“, sagt der 50-Jährige. Dann umreißt der Schriftsetzer das Szenarium des Jahres 1994. Zehn Tage vor dem Verschwinden Narcisazo“ hatten im karibischen Ferienparadies der Deutschen Präsidentschaftswahlen stattgefunden. Nach ersten Auszählungen lag die damals oppositionelle sozialdemokratische Partido Revolutionario Dominicana (PRD) in Führung. Am Ende erklärte sich die Sozial-Christliche Reformpartei (PRSC) von Joaquín Balaguer zum Sieger. Selbst unabhängige Wahlbeobachter wie Jimmy Carter sprachen, wenn auch vornehm zurückhaltend, von „Unregelmäßigkeiten“ bei der Stimmauszählung. Trotzdem trat der damals 87-jährige Balaguer sein Amt an, auch wenn er auf ausländischen Druck einer Amtszeitverkürzung auf zwei Jahre zustimmen musste.
Joaquín Balaguer (1. Sept. 1906 – 14. Juli 2002) diente schon dem Diktator Rafael Trujillo.
Balaguer hatte so schon öfter Wahlen für sich entschieden. Mal fiel der Strom für die Computeranlagen aus, dann konnten die Stimmzettel nicht mehr nachgezählt werden, weil sie verschwunden waren. Der „alte Fuchs“ und seine Clique fand immer einen Weg. Die Palast-Clique, wie sie im Volksmund nur genannt wird, schreckt auch vor Mord nicht zurück, sagt José Israel Cuello. Der renommierte Verleger und Fernsehkommentar ist ein intimer Kenner des Machtspiels, das der spanische Schriftsteller Manuel Velazquez Montalbán so prägnant beschrieben hat. „Balaguer sitzt wie eine Spinne im ihrem Netz“, sagt Cuello, „alle Fäden laufen bei ihm zusammen.“ Seit fast 70 Jahren bestimmt „el doctor‘ mehr oder weniger die Politik – obwohl blind und inzwischen bettlägerig. Dem blutrünstigen Diktator Trujillo hat er das Szenario der Machtübernahme im Jahr 1930 geschrieben. Der Freizeit-Poet diente „el Jefe“ als Botschafter, Minister und Regierungschef. Als der „Ziegenbocks“, wie „Weiberheld“ Trujillo auch genannt wurde, bei einem Attentat umkam, wurde Balaguer der neue Mann Washingtons in der Karibik. Extralegale Hinrichtungen waren an der Tagesordnung.
Schon als 20-Jähriger hatte Narciso González gegen Trujillo gekämpft. Während der „April-Revolution“ des Jahrs 1965 verteidigte er die konstitutionelle Regierung gegen die US-Intervention mit der Waffe in der Hand. In 70-er Jahren, den „blutigen Jahren“ von Balaguer, machte er mehr als einmal die Bekanntschaft einer Polizeizelle. „Seitdem war er Balaguer in Feindschaft verbunden und macht daraus auch öffentlich keine Hehl“, sagt Dominguez. Nach der Veröffentlichung des offiziellen Wahlergebnisses brannten 1994 auf dem Universitätsgelände Barrikaden, über dem Viertel lag der beißende Geruch des Tränengases. Auf einer Vollversammlung in der Alma Mater am Morgen seines Verschwindens hatte auch der Literaturprofessor González das Wort ergriffen und zum Generalstreik aufgerufen.
„Einer von drei Gründen für das Verschwinden“, sagt Dominguez, Mitglied der „Wahrheitskommission“, die das Schicksal González’ aufklären soll. Der Zweite liegt gedruckt auf dem Tisch: Die Zeitschrift „La Muralla“. Tage vor der Präsidentschaftswahl im Jahre 1994 hatte der Verschwundene in der von ihm herausgegebenen „Wandzeitung“ eine Polemik unter dem Titel „Zehn Beweise, die zeigen, dass Balaguer der Perverseste ist, den Amerika jemals hervorgebracht hat.“ In deftigen Worten nannte „Narcisazo“ den Staatschef einen Mörder, der für die Armut im Land verantwortlich sei und seine Herrschaft auf Wahlbetrug gründe. Seine Berater, die „Palast-Clique“, bereicherten sich an öffentlichen Geldern, schrieb González und nannte Fälle. „Das reicht hier, um sich Ärger einzuhandeln“, sagt Raphael Dominguez.
In der Altstadt von Santo Domingo hat der Anwalt Tomás Castro sein Büro. Er vertritt die Familie des „Verschwundenen“. Castro erzählt, er wisse, dass ein enger Mitarbeiter Balaguers über Narciso González gesagt habe, „dem muss man endlich das Maul stopfen.“ „Woher wissen Sie das?“ „Das Land ist klein, hier bleibt kaum etwas wirklich geheim“, antwortet der Strafrechtler sibyllinisch. Der streitbare Jurist kennt sich aus. Er vertrat auch die Familie von Orlando Martinez. Der Journalist war vor 25 Jahren auf offener Straße erschossen worden. Enge militärische Mitarbeiter Balaguers wurden im vergangenen Jahr zwar wegen Mordes verurteilt, sind befinden sich jedoch auf freiem Fuß.
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Altagracia Ortiz, sitzt auf einer gepolsterten Wohnzimmerbank mit dunkelbraunen Mahagonilehnen. An der Wand hängt in einem Goldrahmen ein Gemälde. Vom kräftigen Grün des Hintergrunds hebt sich das Ölporträt von Narciso González ab, den seine Freunde nur „Narcisazo“ riefen. Auf einem kleinen Beistelltischchen stehen die Bildrahmen mit den Fotos der gemeinsamen Kindern: Ernesto (30), Rhina (29), Jenny (27) und Amaury (22).
Altagracia „Tati“ Ortiz
„Ich hatte Angst, das ihm was passiert ist. Denn er war ein sehr pedantischer Mensch und musste seine Tabletten nehmen“, erzählt sie von jenem Abend im Mai, als sie vergeblich auf ihren Lebensgefährten wartete. „Irgendwann habe ich Freunde angerufen und wir sind die Krankenhäuser abgefahren. Aber das sein Verschwinden mit Politik zu tun haben könnte, daran habe ich keine Sekunde gedacht.“ An nächsten Abend klingelte dann das Telefon. Eine anonyme Männerstimme teilte ihr knapp mit, dass sich ihr Mann im Gewahrsam des militärischen Geheimdienstes „J-2“ befinde. „Beeilen Sie sich“, habe der Anrufer noch empfohlen und aufgelegt. „Das wusste ich, dass es um Politik ging.“
Altagracia Ortiz, die von ihren Freunden Tati gerufen wird, ging an die Öffentlichkeit. In einer“urgent-action“-Briefaktion machte amnesty international auf den Fall des Publizisten aufmerksam und forderte von der dominikanischen Regierung eines sofortige Untersuchung über das „Verschwindenlassen“ González auf. Bis heute vergeblich. Aufgeschreckt durch das internationale Interesse wurden „Tati“ und ihre Kinder sogar ins Präsidentenpalais gebeten. Zum Schluss habe der heute 95-jährige Karibik-Caudillo ihr sogar eine „Staatsrente“ angeboten, erzählt Ortiz.
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„Wir haben inzwischen minutiös alle Fakten zusammengetragen“, resümiert Castro die Recherchen über den Verbleib von Narciso González. „Es gibt keinen Zweifel. Er wurde von Militärs entführt und ist in der Haft gestorben.“ Gegen 14 Uhr wird der 1941 geborene Publizist von einer Kaffeeverkäuferin auf der Pferderennbahn „Perla Antilla“ gesehen. „Mein Mann hat gerne auf Pferde gewettet, eine Leidenschaft“, erklärt Altagracia Ortiz. Fünf Stunden später wird er beim Betreten und gegen neun Uhr abends beim Verlassen des Kinos gesehen. Er sei in ein Auto gestiegen, berichteten Augenzeugen der „Wahrheitskommission“. Es gibt noch eine andere Zeugin. Sie sieht, wie ein paar Straßenblocks weiter der sich wehrende Professor aus dem Auto gezerrt und in einen Jeep bugsiert wird. „Das Fahrzeug trug das Kennzeichen ‚0-11172’. Es wurde als Tarnfahrzeug des Militärischen Geheimdienstes ‚J-2’ benutzt“. Festgehalten wurde der entführte González nach Angaben eines Offiziers, der sich später an die Wahrheitskommission wandte, im Büro des Militärgeheimdienstes. Durch eine Türspalt habe er ihn im „EI Mercadito“, dem „kleinen Markt“ genannten Gebäudekomplex gesehen „halb ohnmächtig, aber lebendig“. Ein Polizeimitarbeiter berichtet später vertraulich, der Geheimdienst habe, nachdem der Fall öffentlich geworden sei, vergeblich versucht, den verletzten González auf mehreren Polizeistationen los zu werden. „Die Ware sei schon beschädigt gewesen“, kolportiert Dominguez den zynischen Kommentar des Informanten.
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Eine Anklage gegen den Ex-Präsidenten Balaguer wegen Beteiligung an der Entführung hat das oberste Gericht der Dominikanischen Republik abgelehnt.
Die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte hat sich dagegen in den Fall Narciso González eingeschaltet. Derzeit führt Castro Klage vor dem Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte. Vermutlich als Reaktion darauf hat der Chefankläger des Landes im August des vergangenen Jahres den ehemaligen Verteidigungsminister Constantino Matos Villanueva wegen „Verschwindenlassens“ von González angeklagt. Seitdem ist nichts mehr passiert. „Es fehlt am politischen Interesse, den Fall endgültig zu klären“, urteilt Castro.
Leonel Fernández übernahm 1996 sein Präsidentschaftsamt von Balaguer. Jetzt muss sich sein Land dafür verantworten, dass das Verschwindenlassen von „Narcisazo“ González noch nicht aufgeklärt ist.
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Narciso González „hat nie ein Blatt vor den Mund genommen“, sagt Raphael Dominguez. Angst kannte er nicht, Respekt vor den Mächtigen war für ihn ein Fremdwort. „Auf dem Markt, wo man sein Bewusstsein verkauft, geh’ ich noch heute“, hat der dominikanische Hochschullehrer und Journalist in einem Gedicht bereits 1986 angekündigt und „den Herrschenden“ ein Geschäft vorgeschlagen: „Also gut, nehmt meinen Körper, mein Denken und meine Stimme, und zum Tausch für all das, gebt mir die Revolution.“ Sie haben ihn betrogen – und zum Schweigen gebracht.