Ist schon wieder Monate her, dass ich von einem Kollegen berichtet habe, dessen Arbeitsprogramm spielend ausreicht, drei lange Historiker- und vier kurze Dichterleben zu füllen. Der Schriftsteller und Physiker Peter Maria Schuster hat soeben einen Vortrag über Christian Doppler in Rio de Janeiro gehalten und dort – über einen Emigranten – neue historische Quellen entdeckt. Danach ist der Vielreisende von Wien aus mit Air Berlin um 29 Euro nach Lübeck, um im Archiv etwas für seinen Boltzmann-Roman zu recherchieren, und von dort mit Ryanair weiter nach Dublin, um mit seiner Familie Ostern zu feiern.
Als neuer Präsidenten der History of Physics-Group der EPS (Europäische Physikalische Gesellschaft) hat Schuster knapp vor Rio noch drei Tage in Genf beim CERN vorbeigeschaut, wo gerade das grösste Experiment der Physikgeschichte vorbereitet wird. In diesem Tempo reisst der Mann unermüdlich herum, um seinen ehrgeizigen Plan zu verfolgen. Am Ende sollen sich Aufsätze, Gedichtbände und Einzelmonographien zu einer umfassenden Geschichte der zentraleuropäischen Physik im 19. und 20. Jahrhundert verdichten.
Allein: Österreichs Autoren, sie neigen schon traditionell zu zwei totalen Extremen: zu einem Werk aus Schnippsel und Fragmenten (Bsp. Peter Altenberg), und dem kompletten Gegenteil davon, also dem monolithischen Textmonument (Bsp. Egon Friedell). Unter dem Strich kommt dann häufig weder das eine noch das andere heraus, sondern die sprichwörtliche eierlegende Wollmilchsau: das »fragmentarische Monument« – ein Unding, das es laut Literaturwissenschaften gar nicht geben kann, ein Denkmal in Bruchstücken, siehe Musil und Wittgenstein.
Wozu und warum denn überhaupt Physikgeschichte? Existiert nicht der begründete Einwand, eine Detailgeschichte der exakten Wissenschaften sei völlig überflüssig? Die Pragmatiker und Tüftler sagen: Was zählt, sind allein die Messungen, Ergebnisse und die Theoreme, die aus den Messungen hervorgehen – das Was der Forschung. Wie hingegen ein Wissenschafter zu seinem Resultat gekommen sei, der Weg dorthin, kann der Nachwelt gestohlen bleiben.
Peter Maria Schuster ist da anderer Auffassung! Der Wiener will um jeden Preis herausfinden, was für ein inneres Leben in den Entdeckern und Pionieren der Physik und der Chemie lebendig war. Was ihn umtreibt, ist der psychologische Konflikt, der bestimmte Menschen dazu gebringt, radikal mit den Konventionen und dem Wissen ihrer Zeit zu brechen. Es waren ja meistens persönliche Dramen, die zu den Gedanken und Formeln geführt haben, die unser heutiges Weltbild prägen – Konflikte des Forschers mit Kollegen, Familie, Gott, Gesellschaft, Konflikte mit sich selbst.
Wer hat denn 19. Jahrhundert die Grenzen des Ichs aufgezeigt? Das waren die Forscherpersönlichkeiten dieser Epoche. Sie haben den Begriff der Evolution erprobt, sie haben das gradualistische Denken zu den sensationellen Erkenntnissen über den kleinsten Baustein der Materie, das Atom, geführt.
Klingt nach Geniegeschichte, ist es aber nicht! Sicher besteht immer die Gefahr, dass uns Wissenschaftshistoriker eine schwülstige Erzählung von den Wundertaten grosser Männer vorführen – das Märchen, mit dem die Kulturgeschichtsschreibung endlich gebrochen hat.
Schuster bastelt vielleicht an einem »fragmentarische Monument«, doch an keinem neuen Geniekult. Dieser Autor misstraut der oberflächlichen Bewunderung abstrakter Grösse, er misstraut dem Pathos der Akademien und der Ehrengräber, ja Schuster misstraut selbst der eigenen Sprache, der Sprache des Populärwissenschafters. Und er tut das, indem er dem Sachbuchton des Historikers, der er ist, die epische Lyrik des Dichters, der er ebenfalls ist, entgegen wuchtet.
Es ist diese publizistische Doppelstrategie Peter Maria Schusters, die sein Grossunternehmen so unerhört spannend macht, sein gewagter Versuch auf sämtlichen Kirtagen zugleich zu tanzen: historeographisch für das Geschichtsfach, erkenntnistheoretisch für die Physik und literarisch für den Kenner und Liebhaber der Wortkunst.
© Wolfgang Koch 2007
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