Es erschien zunächst als kluger, diplomatischer Schachzug des neuen deutschen Außenministers Johann Wadephul, sich bei seinem Antrittsbesuch in Israel zunächst mit den Familien der verbliebenen Hamas-Geiseln zu treffen, gehören sie doch zu den schärfsten Kritikern Netanjahus und des anhaltenden Gaza-Krieges. Auch sein Hinweis auf die Notwendigkeit einer politisch zu erreichenden Zwei-Staaten-Lösung und seine Ablehnung einer dauerhaften Vertreibung der Palästinenser aus Gaza hätte vielleicht die Chance auf eine tatsächliche Kursänderung der Politik Netanjahus eröffnet. Mit seiner bizarren Forderung eines 5%-Zieles für Verteidigungsausgaben (das wären ca. 45% des Bundeshaushaltes), die blind einer impulsiven Idee Trumps folgte, hat Wadephul jedoch bereits am Folgetag zusammen mit seiner generellen politischen Glaubwürdigkeit auch jegliche Seriösität einer deutschen Friedensinitiative begraben.
Die humanitäre Katastrophe im Gaza-Streifen spitzt sich in den letzten Tagen weiter zu. Seit März wurden keine Hilfslieferungen mehr in das Gebiet gelassen. Die letzten Suppenküchen von Hilfsorganisationen, die noch eine minimalste Versorgung mit Nahrung leisten konnten, schlossen in diesen Tagen, weil es schlichtweg keine Vorräte mehr gibt. In einem bewegenden Appell an die gemeinsame Verantwortung aller politischen Akteure hat der Arzt und Direktor der Notfallprogramme der WHO, Mike J. Ryan, die Lage vor ein paar Tagen geschildert:
„We are breaking the minds and bodies of the children of Gaza. We are starving the children of Gaza because if we don’t do something about it we are complicit in what is happening before our very eyes. We are complicit, we are causing this, you, us, and everyone who does nothing about it. It’s horrific, and the children of Gaza should not have to pay the price as all children have done in the past for the sins of anyone around them. This just has to stop. Any right thinking human being will stand up and say, this just must stop.“
Neben der Hungerkatastrophe, die auch die israelischen Militärs vor Ort wahrnehmen, wird die militärische Offensive mit ungeminderter Härte fortgesetzt und schließt die Bombardierung von zivilen Zielen wie Schulen, Kirchen, Spitälern, Ambulanzen und Flüchtlingsunterkünften mit ein, die oft zu vielen Dutzend Todesopfern führten und führen. Vereinzelt haben auch die Terror-Organisation Hamas und die jemenitischen Huthis in den vergangenen Monaten ihre Raketenangriffe auf Israel fortgesetzt. Mit dieser weiteren Eskalation der Gewalt schwinden selbstredend die Aussichten für ein Überleben oder gar die Freilassung der letzten israelischen Geiseln aus der Gewalt der Hamas.
Innerhalb und außerhalb Israels wächst der Unmut am Vorgehen Netanjahus und seines Kabinetts. Schon im Dezember letzten Jahres kritisierte der frühere Verteidigungsminister Moshe Yaalon, dass in Gaza Kriegsverbrechen und ethnische Säuberungen stattfänden. Wie viele andere Personen in der Armeeführung warnte auch vor kurzem der ehemalige Chef des israelische Militärgeheimdienstes, Tamir Hayman, dass ein vollständiger militärischer Sieg über die Hamas kaum möglich sei und Friedensverhandlungen für die künftige Sicherheit Israels zielführender wären. Im letzten Jahr quittierten über 500 höhere Offiziere ihren Dienst aus Frustration über die ziellose militärische Operation.
In der israelischen Zivilgesellschaft können wir zahlreiche und kontinuierliche Proteste gegen das militärische Vorgehen Netanjahus beobachten: Gerade sprachen sich 67 Ex-Geiseln für eine politische Lösung zur Befreiung der restlichen Geiseln aus; Demonstrationen in Israel, an denen auch Holocaust-Überlebende mitwirken, forderten ein Ende der humanitär verheerenden Blockade des Gazastreifens. Sie beklagen, dass wenn wir unser Mitgefühl gegenüber dem Anderen aufgeben, wir auch unsere Menschlichkeit verlieren werden.
Auch die jüdische globale Gemeinschaft ist wie die israelische Gesellschaft heterogener, als dies meist in deutschen Medien dargestellt wird: Weltweite jüdische Organisationen wie die Jewish Voice for Peace, Rabbis4Ceasefire, IfNotNow und prominente Einzelstimmen wie die Pariser Rabbinerin Delphine Horvilleur appellieren an die israelische Regierung, rasch ihren Kurs zu ändern und einen ernsthaften Friedensprozess zu beginnen (wenn auch die sehr medienpräsenten, anti-zionistischen Splittergruppen wie die Neturei Karta sicherlich nur eine Randerscheinung sind).
Während in israelischen, französischen und britischen Medien der Gaza-Krieg seit vielen Monaten bereits kritischer und differenzierter betrachtet wird, kann es als Indiz für einen Meinungsumschwung gewertet werden, dass in den deutschen Leitmedien der politischen Mitte nun auch vermehrt sehr kritische Stimmen am Vorgehen der israelischen Regierung laut werden. In ihrem Leitartikel in der Süddeutschen Zeitung stellt Sina-Maria Schwelke klar, dass es keine bedingungslose Solidarität mit Netanjahu geben könne, wenn das Völkerrecht und die Grenzen der Humanität überschritten werden. Und ebenso wie Mike J. Ryan warnt Juliane von Mittelstaedt im Spiegel vor der möglichen Komplizenschaft der neuen Bundesregierung, sollte sie weiterhin nur so verhalten Kritik am israelischen Kabinett äußern.
Um die Dramatik der jetzigen Situation zu erfassen, muss man sich deren historische Dimension verdeutlichen. Keine bisherige Auseinandersetzung, die mit der Staatsbildung und Verteidigung Israels in Zusammenhang steht, hat bisher so viele Opfer gefordert wie der jetzige Konflikt: nicht die gegenseitigen Gewaltexzesse von Juden und Palästinensern in den 1920ern und 1930ern; nicht der israelische Unabhängigkeitskrieg mit seinen bis zu 15.000 Todesopfern und der Vertreibung von ca. 750.000 Palästinensern und fast ebenso vielen Juden aus arabischen Ländern; nicht der Sechstagekrieg (1967) und der Jom-Kippur-Krieg (1973) mit ihren jeweils bis zu 40.000 Opfern und auch nicht die erste und zweite Intifada von 1987 bis 2005 mit mehreren Tausend Opfern. Im Moment zählt man über 52.000 palästinensische Opfer im Gazastreifen (darunter ca. 18000 Kinder) sowie 900 im Westjordanland und über 1200 israelische Todesopfer durch den furchtbaren Angriff der Hamas sowie ca. 400 gefallene Soldaten der IDF. Was hier und heute in Gaza passiert, wird auf viele Jahrzehnte einen Aussöhnungsprozess zwischen Palästinensern und Israelis verunmöglichen und das Verhältnis von Muslimen und Juden weltweit schwer belasten.
Das Existenzrecht und die Sicherheit Israels ist deutsche Staatsräson, so hat es Angela Merkel 2008 vor der Knesset für künftige Generationen festgeschrieben. Dieser Satz ist angesichts unserer geschichtlichen Erfahrung, der deutschen Verantwortung für den Holocaust und damit auch für die Gründung des Staates Israel, absolut richtig und wichtig. Aber wie diese Staatsräson nun ausdefiniert wird, ist – wie William Glucroft schon kurz nach dem brutalen Terroranschlag der Hamas bemerkte – bisher nie geklärt worden, insbesondere wenn sich Konflikte mit den Zielen des humanitären Völkerrechts abzeichnen, das der Kriegsführung Regeln zum Schutze der Zivilbevölkerung vorgibt.
Die „besondere Verantwortung“ für Israel bedeutet – zu Ende gedacht – dass die Sicherheit und Existenz dieses Staates nur auf der Basis einer dauerhaften und gerechten Friedensordnung zwischen Israelis und Palästinensern sowie den Nachbarstaaten möglich ist. Es gibt keine Alternative, wenn ein Ende der Gewaltspirale erreicht werden soll. Deutschland erwächst aus seiner geschichtliche Rolle eine „besondere Verantwortung“ für den fortwährenden Kampf gegen den Antisemitismus, aber ebenso für den Friedensprozess der beiden Völker. Aus der geschichtlichen Erfahrung Deutschlands erwächst zudem eine universale Verantwortung, sich für die Einhaltung des humanitären Völkerrechts einzusetzen, wo immer dies möglich ist.
In der Vergangenheit haben es deutsche Regierungen leider vernachlässigt, die friedensorientierten Akteure der Region zu stärken und den radikalen Fliehkräften beider Seiten Grenzen aufzuzeigen. So viel Potential wurde verschenkt, eine konstruktivere Rolle im Friedensprozess zu spielen – Deutschland ist nach den Vereinigten Staaten der wichtigste politische, wissenschaftliche und ökonomische Partner Israels. Der alte und der neue Papst haben wiederholt ihre Bestürzung über die Situation in Gaza zum Ausdruck gebracht, eine sofortige Waffenruhe und eine Freilassung aller Geiseln gefordert. Ist es so schwer, sich nun als Vertreter der deutschen Regierungspartei mit dem großen C im Namen diesem Appell mit aller Deutlichkeit anzuschließen?
Wadephul hat bei seinem Antrittsbesuch betont, dass die dortige Regierung nicht das Völkerrecht verletze, da sie ankündige, Schritte zu unternehmen, um die Versorgung der Bevölkerung in Gaza zu verbessern. Dies ist ganz offensichtlich nicht der Fall, eine neue militärische Offensive beginnt an diesem Wochenende, während die dringend benötigten Hilfskonvois weiter nicht hineingelassen werden. In einer Zeit, in der bei entscheidenden globalen und lokalen Akteuren weder Mitgefühl, noch Scham, noch Anstand vorhanden zu sein scheinen, bleibt zu hoffen, dass die Bundesregierung bald zu einem klaren Bekenntnis zur Humanität findet. Jeder Tag zählt!
Ich bin vollkommen einverstanden.
Außerdem bin ich betroffen, dass Palästinenser:innen nach der Meinung mancher Politiker viel weniger zählen als Israelis.
Ich finde die Berichte über Gaza und die apokalyptischen Bilder von dort unerträglich,
und die Idee, die Menschen von dort nach Libyen oder in den Sudan zu verfrachten, unsäglich.
Auch wenn ich nicht für sie gewählt habe, schäme ich mich für die Haltung der deutschen Politiker, die diese Menschenrechtsverletzungen nicht anprangern, sondern für ein Fortsetzen der Waffenlieferungen an Israel sind.
Nach meinen Äußerungen ist es unnötig zu sagen, dass ich weder antisemitisch noch pro-Hamas bin.
Ich tue es aber trotzdem. Ich bin für Frieden. Gerade als Deutsche tragen wir Verantwortung, menschenverachtende Situationen nicht zuzulassen.