Ich komme an einem Weinfeld vorbei, einem von vielen hier in der Languedoc.
Verwundert sehe ich, dass die Reihen sternförmig von meiner Betrachterinnen-Position in die Weite des Feldes hineingebaut sind. Wie Tortenstücke, vom mittleren Sahnehäubchen aus betrachtet.
Ich gehe weiter und sehe wieder diese Tortenstücke oder: Alleen von Weinstöcken, die direkt auf mich zulaufen.
Und am anderen Feldrand ist es ganz genau dasselbe.
Da stimmt was nicht. Das sind ja dieselben Pflanzen. Sie können sich doch nicht gleichzeitig verschiedenen Betrachtungen in barocker Unterwürfigkeit symmetrisch fügen?
Der Dopplereffekt ist ein physikalisches Phänomen, das man von vorbeifahrenden Feuerwehr-Fahrzeugen kennt. Wenn sie kommen, tönen sie heller, als wenn sie wegfahren. Das liegt daran, dass der Schall mitfährt, also bei dem ersten Wegstück Anschubhilfe hat; beim zweiten Wegstück muss er zurücklaufen, wird also langsamer und der Ton tiefer.
In der Astronomie beobachtet man den Effekt in der Rotverschiebung der Lichtwellen, die von weit entfernten Galaxien die Erde erreichen. Und zwar beobachtet man das – Achtung: in alle Richtungen des Universums.
Daraus hätten größenwahnsinnige ForscherInnen schließen können, dass die Erde, oder meinetwegen unser Sonnensystem, das Zentrum des Universums ist. (Die antike Wissenschaft oder die kanonische Kirche wären für diese Beweise sicher dankbar gewesen, um ihr Erd-zentriertes Weltbild abzusichern). So wie ich, wenn ich aus dem mir folgenden Strahlenkranz aus Weinstöcken schlösse, diese Pflanzen würden sich ihrer Natur zuwider immer wieder neu aufstellen, weil ich so wichtig bin.
Nein, die ForscherInnen haben aus ihrer Beobachtung den Schluss gezogen, dass das Weltall als Ganzes sich ausdehnen muss, und zwar überall gleichmäßig, sodass es von jedem Punkt darin so aussieht, als ob der Rest der Sterne gerade vom Ausgangspunkt der Betrachtung flieht.
Diese von Demut und Klugheit eingegebene Überlegung beendet die Idee vom Zentrum, bzw. überführt sie als eine Hilfsvorstellung, mit der das Subjekt sich zur Allgemeinheit ins Verhältnis setzt – übrigens auch: wenn das Zentrum woanders geortet wird. Leider hat diese Erkenntnis die Selbst- und Fremdwahrnehmungen in den sozialen Beziehungen noch nicht erreicht. Die Sterne und die gesellschaftlich verbundenen Menschen verhalten sich wie Elemente im Innern von Schwärmen. Es gibt kein Zentrum und keine Kommandozentrale. Wenn der Schwarm kontrahiert oder expandiert, kann jedes einzelne Element darin glauben, dass die anderen jetzt alle zu ihm wollen oder von ihm weg wollen. Das macht aber nichts, das denken alle.
Die Weinstöcke sind also in Wirklichkeit Teil eines Schwarmes, der expandiert und deshalb von der vorbeiwandernden Betrachterin als in alle Richtungen fliehend wahrgenommen wird.
Expandierend und die Landschaft erobernd.
Die Languedoc leidet unter der Wein-Monokultur. Es gibt kaum noch Gegenden, die nicht kahl rasiert und mit Weinstöcken voll gestellt sind. Die beklagten Folgen sind Bodenerosion, Verschwinden der botanischen Vielfalt, z.B. der Orchideen, Verschwinden von landwirtschaftlichen Nutztieren und Tierherden aller Art. Abhängigkeit von Import landwirtschaftlicher Produkte. Und alles nur, weil alle Welt Wein trinken will, weil er ja so billig ist. Und weil der Wein unter dem internationalen Konkurrenzdruck so billig ist, muss man Unmengen davon produzieren, um über die Runden zu kommen. Es gibt inzwischen Prämien für ausgerissene Weinstöcke und für stillgelegte Weinfelder. Hier und da sieht man wieder Getreideanbau. Und auch Olivenhaine sollen wieder mehr kultiviert werden. Aber das dauert.
Noch immer werden auf Fußballfeld-großen Flächen neue Weinfelder angelegt – im immer gleichen Raster – Pflanzenabstand: 1,50 m; Reihenabstand: 2 m. Ich hab’s nachgemessen.