vonBlogwart 14.02.2010

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Die Bundesregierung hält ihre Hartz-IV-Politik für so unpopulär, dass sie beim Bekanntwerden interner Dokumente mit neuen Protesten dagegen rechnet. Einen Antrag der taz gemäß Informationsfreiheitsgesetz auf Einblick in Unterlagen zu Zwangsumzügen von Hartz-IV-Empfängern hat das Bundesarbeitsministerium mit folgenden Argumenten abgelehnt (PDF, 8 Seiten, 2,5 MB):

Dieses Thema war schon vor einigen Jahren Gegenstand einer heftigen politischen Kontroverse um die sog. Hartz-IV-Gesetze. In zahlreichen, nicht zuletzt von der Partei Die Linke organisierten Demonstrationen wurde versucht, außerparlamentarischen Druck auf die politischen Entscheidungsträger aufzubauen. Die ausgesprochen emotionalisiert geführte öffentliche Debatte dürfte einen nicht unerheblichen Einfluss auf das Scheitern der damaligen rot-grünen Koalition und die Durchführung vorzeitiger Neuwahlen gehabt haben. (…)

Vor diesem Hintergrund ist es nach meiner Einschätzung naheliegend, dass im Falle einer Veröffentlichung der Argumente des Bundes aus der Klageschrift (ebenso wie der Gegenargumente des Landes) durch die TAZ und den für diese arbeitenden Herrn Heiser Gefahren für die Unabhängigkeit und Entscheidungsfreiheit der mit der Sache befassten Mitglieder des Bundessozialgerichts entstehen. (…)

Vor allem bestünde die naheliegende Gefahr, dass das Verfahren zum Anlass genommen würde, um den Versuch zu unternehmen, an einzelnen Aussagen aus den gewechselten Schriftsätzen eine erneute öffentliche Debatte über die Hartz-IV-Gesetze zu entzünden und so die Auseinandersetzung gleichsam aus dem Gerichtssaal auf die Straße zu verlagern. Käme es hierzu, so wäre die Folge, dass alle Beteiligten des Verfahrens – insbesondere auch die hiermit befassten Richter – einem erheblichen öffentlichen Druck ausgesetzt wären, dem sie in dieser Form üblicherweise auch als Richter eines obersten Bundesgerichts nicht ausgesetzt sind.

Es geht dabei um ein Gerichtsverfahren des Bundes gegen das Land Berlin vor dem Bundessozialgericht zu Zwangsumzügen, also zu der Frage: Wie schnell soll das Jobcenter jemanden, der arbeitslos geworden ist, zum Umzug in eine günstigere Wohnung zwingen? In § 22 des Sozialgesetzbuches II heißt es, die Kosten für die bisherige Wohnung werden vom Jobcenter so lange bezahlt, wie es „nicht möglich oder nicht zuzumuten ist, durch einen Wohnungswechsel, durch Vermieten oder auf andere Weise die Aufwendungen zu senken“. Dabei gibt das Gesetz auch einen Anhaltspunkt für den Zeitraum vor: Die höheren Kosten für die bisherige Wohnung sollen „in der Regel jedoch längstens für sechs Monate“ übernommen werden.

Die rot-rote Koalition auf Landesebene lehnt Zwangsumzüge politisch ab und versucht, sie im Rahmen der Umsetzung des Bundesrechts möglichst zu vermeiden. Dabei argumentiert der Senat auch finanziell: Schnelle Zwangsumzüge würden sich für das Jobcenter oft nicht lohnen. Schließlich muss das Jobcenter auch das Umzugsunternehmen bezahlen und die zweifache Miete für den Umzugsmonat. Die dadurch entstehenden einmaligen Kosten amortisieren sich zwar langfristig durch die Einparungen bei der Miete – aber das gilt nur, wenn die Hartz-IV-Bezieher auch langfristig auf Hartz IV bleiben.

Der Senat argumentiert aber: Wenn ein Hartz-IV-Bezieher kurz nach seinem Umzug einen Job findet, dann hat sich der Umzug finanziell für den Staat nicht gelohnt. Denn das Jobcenter hat zwar alle Kosten für den Umzug zu tragen, profitiert aber nur kurze Zeit von der niedrigeren Miete in der neuen Wohnung. Außerdem habe der Hartz-IV-Bezieher mehr Zeit für die Jobsuche, wenn er nicht parallel noch seinen Umzug in eine billigere Wohnung organisieren müsse. In den Ausführungsvorschriften hatte Berlin daher festgelegt: Die Wohnkosten „werden zunächst für die Dauer eines Jahres ab Beginn des Leistungsbezuges in tatsächlicher Höhe übernommen“.

Der Bund aber rechnete anders. Seiner Ansicht nach hätte es Geld gespart, wenn das Land Berlin die Hartz-IV-Empfänger zu schnelleren Umzügen gezwungen hätte. Und weil die Kosten der Miete zwischen Bund und Kommune aufgeteilt werden (der Bund zahlt etwa zwei Drittel), verklagte der Bund das Land Berlin vor dem Bundessozialgericht auf Erstattung seines Anteils der angeblich zu viel gezahlten Mietkosten – gut 47 Millionen Euro.

In der taz hätte uns nun interessiert, wie die Berechnungen des Bundes aussehen, mit denen er die Berechnungen des Landes Berlin angreift. Wer hat recht? Welches ist der wirtschaftlichste Zeitpunkt für Zwangsumzüge? Daher stellten wir im Februar 2009 beim Bundesarbeitsministerium einen Antrag nach Informationsfreiheitsgesetz, um die Klageschrift einzusehen.

Das Arbeitsministerium – damals noch unter Olaf Scholz (SPD) – wies den Antrag ab. Es berief sich damit auf einen der vielen Ausnahmetatbestände im Informationsfreiheitsgesetz. Dort heißt: „Der Anspruch auf Informationszugang besteht nicht, wenn das Bekanntwerden der Information nachteilige Auswirkungen haben kann auf (…) die Durchführung eines laufenden Gerichtsverfahrens“. Nachdem ich den Bundesbeauftragten für Datenschutz und Informationsfreiheit einschaltete, prüfte das Ministerium meinen Antrag noch einmal seeeeeehr intensiv (so lange, bis sogar die Bundestagswahl vorbei war) und schickte dann eine ausführliche Begründung an den Bundesdatenschutzbeauftragten – übrigens mit der ausdrücklichen Bitte um „vertrauliche Behandlung“.

Das Ministerium offenbart in dem Schreiben auch sein Demokratieverständnis:

Damit ist offensichtlich, dass der Streitgegenstand des vorliegenden Verfahrens in hohem Maße die Gefahr mit sich bringt, dass das Verfahren vor dem Hintergrund der damaligen Kontroversen über die Hartz-IV-Gesetze politisiert geführt wird. Umso notwendiger ist es, das Gerichtsverfahren von den Gefahren einer Einflussnahme durch eine hoch emotionalisierte Debatte freizuhalten und nach den sachlichen Kriterien eines allein Recht und Gesetz verpflichteten Gerichtsverfahrens zu orientieren.

Wir lernen: Nach Ansicht des Ministeriums ist der beste Weg, über Zwangsumzüge zu entscheiden, wenn kundige Fachleute in einem geregelten Verfahren Argumente austauschen, die möglichst nicht an die breite Öffentlichkeit gelangen sollen. Sonst besteht womöglich die Gefahr einer Debatte, die „emotionalisiert“ ist, in der also die sachlichen Argumente der Fachleute untergehen. Und kann man als Ministerium denn wirklich zulassen, dass Laien darüber entscheiden, was in diesem Land passiert – bloß weil sie in der Mehrheit sind?

Das Gerichtsurteil

Am 15. Dezember 2009 fällte das Bundessozialgericht übrigens sein Urteil: Es konnte die Berechnung des Bundes, der ja gut 47 Millionen Euro wollte, nicht nachvollziehen. Das Gericht rügte, der Bund habe zwar eine „statistische Auswertung übersandt“, aber „weiteres für die Schadensermittlung relevantes Material haben die Beteiligten trotz gerichtlicher Aufforderung nicht vorgelegt“. Das Gericht kam bei seiner eigenen Berechnung jedenfalls nur auf einen Schaden von 13,1 Millionen Euro für den Bund: Es ging davon aus, dass die Mietkosten in der Realität durch Zwangsumzüge lediglich um diesen Betrag gesunken wären. Die Argumentation des Landes Berlin, wonach durch Zwangsumzüge auch zusätzliche Kosten entstehen und ein Abwarten sich amortisiert, spielte für das Verfahren keine Rolle. Die Frage, ob schnelle Zwangsumzüge sich eigentlich lohnen, ist also nach wie vor ungeklärt. Zumindest, wenn man die Frage unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten betrachtet. Unter politischen Gesichtspunkten dagegen ist auch dem Bundesarbeitsministerium klar, wie unpopulär seine Position ist.

Sebastian Heiser ist Redakteur für Landespolitik in der Berlin-Redaktion der taz und Autor des Readers Auskunftsrechte kennen und nutzen – So kommt man an Aktenschätze.

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