Ein hübsches Wort, das FTD-Chefvolkswirt Thomas Fricke da erfunden hat:
Es kann natürlich sein, dass uns durch die Wahl (Guido Westerwelles) die Augen geöffnet wurden und Deutschland zum Abbruch bereit ist. Könnte aber auch sein, dass sich manch einer in Zweckalarmismus verliert, nur weil gerade eine neue Regierung kommt. Kein Spaß. Nachher wird wieder heillos an Dingen herumreformiert, die nicht das Problem sind. Höchste Zeit, den Politeifer auszuschalten und nachzusehen, wo die Krise eigentlich herkommt.
Zweckalarmismus ist hervorragend geeignet zur Beschreibung der Tätigkeit jedweder Lobby, die ja niemals ein „Verweile doch, du bist so schön!“ von sich geben darf, sondern immer auf jene Katastrophen hinweisen muss, die drohen, wenn irgendeine Subvention oder sonstige Vergünstigung gestrichen bzw. nicht gewährt wird. Ich wäre froh gewesen, auf dieses Wort selbst gekommen zu sein, als ich das Jammern zur volkswirtschaftlich wertvollen Kernkompetenz Deutschland erhob, 2003 in meinem Buch Vorbild Deutschland (pdf). Falls sich jemand nicht durchs ganze Buch lesen wil, hier die entsprechende Passage im Originalton.
Das Jammern ist nämlich kein Laster, keine Last, sondern ganz im Gegenteil eine traditionelle Stütze unseres Wirtschaftssystems! Eine der reichsten Gesellschaften, die die Weltgeschichte jemals hervorgebracht hat, kommt so nämlich gar nicht erst auf die Idee, sich auf ihren Lorbeeren ausruhen zu können.
Dieses permanente tränendrüsige Streichkonzert ist natürlich ganz fürchterlich undankbar. Schon Ludwig Erhard war verschnupft, wie hartnäckig die Deutschen trotz allen Wirtschaftswunders an ihrer Jammerei festhielten: „Die gleichen Leute, die im Jahre 1956 mit ihrem wirtschaftlichen Schicksal nicht zufrieden sind, hätten zwar im Jahre 1947 und 1948 nicht entfernt zu hoffen gewagt, acht Jahre später da zu stehen, wo sie heute angelangt sind. Das hindert sie allerdings keineswegs, heute trotzdem unzufrieden zu sein.“ Doch was den Vater des Wirtschaftswunders enttäuschte, hat die Fortsetzung des Wirtschaftswunders erst ermöglicht: Jammern ist eine notwendige Bedingung für den Erfolg des deutschen Way of capitalism.
Und mehr als das – es ist eine perfekte Mimikry, mit der wir andere Länder davon abhalten, unser so effizientes System zu kopieren. Es merkt nämlich keiner, wie gut es uns tatsächlich geht. Nicht einmal unsere Nachbarn, wie – immerhin einer – der Franzose Michel Albert erkannt hat. In „Kapitalismus gegen Kapitalismus“ machte er bereits 1991 den damaligen polnischen Staatspräsidenten darauf aufmerksam, was da westlich von Oder und Neiße tatsächlich los ist: „Man würde Lech Walesa sicher glücklich machen, wenn man ihm versicherte, er habe nicht vollständig unrecht, wenn er von einem Modell träumt, das die Effizienz und den Wohlstand des amerikanischen Kapitalismus und die relative soziale Sicherheit des ehemaligen kommunistischen Systems miteinander verbindet. Ein Modell, bei dem, um einen in Warschau verbreiteten Scherz aufzunehmen, die Leute wie die Japaner leben können, ohne aber mehr zu arbeiten als die Polen. Ist eigentlich bekannt, dass Deutschland von dieser Vorstellung gar nicht so weit entfernt ist?“
Es war natürlich nicht bekannt. Es ist auch heute noch nicht bekannt. Und je lauter wir jammern, desto weniger fallen unsere Stärken auf.