vonzwiespalt 21.12.2020

Zwiespalt der Ordnungen

Von kleinen und großen Herrschaftsverhältnissen, von Zwickmühlen der Realpolitik und den Ambivalenzen ihrer Ordnungsgrundlage.

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Krisen sind Zeiten der Veränderung – klar – irgendwie steckt das im Begriff der Krise. Und wenn man die Krise als gesellschaftliche Krise, nicht also nur als private Krise begreift, dann betrifft die Veränderung gesellschaftliche Ordnungen insgesamt. Ich denke nun, dass sich innerhalb der Veränderung zwei Modi unterscheiden lassen, in denen sie für Gesellschaften eine Rolle spielt: Veränderungen als >Reaktionen< auf die Krise und Veränderungen als >Aktionen< gegenüber der Krise. Im ersten Fall findet die Krise einfach >statt< und Gesellschaften regieren bloß darauf. Im zweiten Fall wird eine Strategie der Politikgestaltung entworfen, von der Krise nicht getrieben zu sein, sondern in sie einzugreifen und ihre Bedingungen selber zu ändern – eine aktive Intervention, wenn man so will. Vergleicht man den Krisenumgang zum Beispiel der asiatischen und westlichen Ländern, könnte man ersteren tendenziell den aktiven und letzteren tendenziell den passiven Modus zuschreiben.

Erwähnenswert ist in der gegenwärtigen Coronakrise nun nicht nur der Umgang mit dem Virus in Begriffen der Freiheit und Sicherheit, sondern auch der Umgang oder die Verbindung zu anderen gesellschaftlichen Konflikten. Einer der ersten und historisch längsten Konflikte ist sicher der zwischen Arm und Reich, staatlicher (demokratischer) und ökonomischer Macht. Wie spielt sich dieser Konflikt im Laufe der Coronapandemie aus? Nun, regelmäßig – und das schon Monate lang – kann man von einem stetigen Reicherwerden der Superreichen lesen. In einer Situation also, in der die Ärmsten, mitunter das Dienstleistungspersonal der Gastronomie, um ihr ökonomisches Überleben kämpfen, wächst der Wohlstand für ohnehin sehr reiche Gruppen weiter an. Hier könnte man nun von Zufall sprechen, oder von Schicksal, von einem >höheren< Eingriff in unsere Leben, der so beschaffen ist, dass eben bestimmte Menschen, Berufe und Strukturen nachteilig betroffen sind und andere profitieren. Man könnte hier aber auch auf die Logik des Modus der passiven Krisenbewältigung zurückgreifen, um zu sagen: ob etwas an der Krise zufällig ist oder nicht – es hat diese konkrete Gestalt der Benachteiligung und Bevorteilung auch angenommen, weil die Regierungen in einem Modus der Passivität befangen waren. Sie hätten an der Ungleichheit etwas ändern können, haben es aber nicht getan. Sie sind bloß reaktiv geblieben gegenüber den Einschnitten, die die Krise verursacht hat. Sie haben in einer Situation der Krise, die eine tendenzielle Leerstelle in der gesellschaftlichen Ordnung schafft, indem sie die Ordnung aufbricht und unterschiedliche Probleme und Lösungen in den Horizont des Möglichen stellt, an einem alten Ordnungsmuster der Ungleichheit festgehalten, ohne neue Möglichkeiten auszutesten. Mehr noch – und das ist eine schärfere These – könnte man sagen, dass die Regierungen nicht nur an alten Ordnungsmuster festgehalten haben, sie haben diese Ordnungen auch in die Krise oder durch die Krise, so gut es ging, aktiv verlängert und damit die Machtverhältnisse, die hier immer auch Ungleichheitsverhältnisse waren, fortgesetzt (was an dieser Stelle nicht implizieren soll, die asiatischen Länder hätten im Zuge der Krise aktiv solche Ungleichheitsverhältnisse verändert – soweit soll der Vergleich nicht gehen).

Ich denke, das lässt sich beispielhaft an der gegenwärtigen (durchaus vielgelobten) CDU-Forderung zeigen, den Online-Handel zu besteuern. Natürlich kann man sagen: das ist doch gerade der Beweis für eine aktive Politik ausgleichender Gerechtigkeit! Man kann aber auch sagen: das ist es eher nicht – oder besser: das ist sogar das Gegenteil davon. Dann müsste man betonen, dass das, was hier vorgeschlagen wird, eine beispielhafte Fortsetzung des Modus der Passivität im Zeichen oder Auftrag der Ungleichheit sein kann. Den Online-Handel in dieser Form einer Besteuerung zu unterwerfen kann bedeuten, dass die Steuern den Online-Riesen gerade nicht weh tun, dass sie bei weitem nicht den möglichen >Ertrag< abwerfen und, dass sie viel leichter, als bei einem fundamentalen Eingriff, an den Verbraucher, an die immer noch eher kleinen Leute weiter gegeben werden können – die Gerechtigkeitsumverteilung also wieder vor allem von der konsumierenden Mitte zu den Bedürftigeren stattfindet – um es flapsig zu sagen – und damit in vielerlei Hinsicht ethische Kraft einbüßt. Der aktive Modus politischer Gestaltung hätte sich dagegen an die großen Fragen und an die großen Projekte getraut, um die Besteuerung riesiger Unternehmen zu einem prinzipiellen Politikum zu machen. Hier hätten Möglichkeiten ausgespielt werden können, in denen die Unsicherheiten, Probleme und Öffnungen durch die Krise als politischer Trumpf gewendet werden, Machtverhältnisse tendenziell an der Wurzel ihrer Verzahnung mit Staatlichkeit aufzubrechen und zu verschieben und damit Gesellschaften im Kontext der Krisendiskurse deutlich, nicht nur symbolisch (wenn überhaupt), der Gerechtigkeit näher zu bringen.

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