Angesichts der Infektionen, Tode, ökonomischen, sozialen und kulturellen Ausfälle oder Engpässe um die Corona-Krise ist es nicht nur interessant zu fragen, ob >wir< eine (erneute) Regierungs-Krise der Demokratie haben – solche Fragen, Vorwürfe begleiten uns seit Monaten. Es ist auch interessant zu fragen, ob es noch eine Theorie der Demokratie gibt, mit der man zufrieden sein kann, die also die Krise gut beschreibt und einen angemessenen Umgang bietet. Ist heute überhaupt noch eine Theorie der Demokratie uneingeschränkt attraktiv (das ist im Grunde natürlich nie der Fall gewesen), oder sind alle befleckt durch die Herausforderungen der Ereignisse? Wenn man eine solche Frage stellt, bedeutet das nicht, Demokratie generell zu hinterfragen. Es richtet aber den Blick auf Schwachstellen und Selbstansprüche einer Theorie, die sich oft erst in Krisen und durch Krisen bewähren und entfalten kann und muss – deutlich wird das bei der Theoretisierung der Menschenrechte, die vor allem durch Krisenerfahrungen staatlicher und mit-menschlicher Despotie angetrieben wurde. Ich möchte im Folgenden einige Aspekte moderner Demokratietheorien herausheben und skizzenhaft problematisieren.
1) Nehmen wir deliberative Demokratietheorien (in der deutschen Theoriebildung lange dominant): Wie kann man, in zeitgenössischer Herausforderung, die deliberative Theorie mit der Eigenwilligkeit der Querdenker zusammenbringen? Der deliberative Ansatz denkt Demokratie aus dem Dialog, dem gegenseitigen Gründe geben und Gründe nehmen heraus. Der Dialog wird als Argumentationsprozess begriffen und zielt auf das gegenseitige Überzeugen, so dass wir uns am Ende alle der Überzeugung bestenfalls einig sind über das, was ist, und über das, was geschehen soll. Dabei nimmt die Annahme, dass wir uns alle einig sind und einig sein können, eine starke, systematische Rolle ein. Zwar werden, in Bezug auf Einigungs- oder Konsensansprüche, Ausnahmen genannt – trotzdem hat die Rolle von Gründen, rationaler Argumentation und Konsens einen hohen Stellenwert.
Ich denke nun, heute sind viele frustriert, die einen Dialog mit der Fraktion der hart-gesottenen Maßnahmen-Gegner versucht haben. Die Erfahrung, dass es nicht nur schwierig ist, mit hart-gesottenen Querdenkern zu reden, sondern, dass es schwierig ist, überhaupt mit Menschen zu reden, die sich in abweichende, schwer greifbare Welten einkapseln, ist eine Erfahrung der Enttäuschung, die sich insbesondere an den Anspruch und die Grenzen der deliberativen Theorie richtet. Hier würden sich viele einen Bruch der nötigen Eintracht wünschen, die einfach das Richtige gegen das Falsche zu setzen erlaubt. Gleichzeitig deutet sich an, dass dieser Bruch öfter nötig wäre, als es das Querdenken-Beispiel suggeriert. Wenn man an die vielen Probleme denkt, die Gesellschaften bewegen, aber immer wieder auf bornierten Widerstand, Unverständnis oder anachronistische Entgegnungen stoßen, fängt man an zu Zweifeln, dass gerade rationale Argumentation den modus operandi demokratischer Politik hinreichend beschreiben kann und eine hinreichende, normative Grundlage liefert – auch wenn die rationale Argumentation natürlich einen festen Ort haben muss.
2) Nehmen wir weiter das repräsentative Element der Demokratie: Auch der Anspruch, Demokratie über offene Wahlen von Repräsentanten zu denken, die die Meinungsvielfalt des Volkes aufnehmen und politisch vertreten bzw. zur Geltung bringen, ist ein fester Bestandteil demokratischer Theorie und Praxis. Kann man aber beispielsweise Trump, oder Bolsonaro (oder Johnson?) mit diesem Anspruch verbinden und tatsächlich ernst nehmen? Muss man sich nicht fragen, ob die bindende Kraft der Repräsentation nicht spätestens dann an ihre Grenzen kommt, wenn zehntausende oder hunderttausende Menschen sterben, weil Regierungen nicht handeln und Menschen sterben lassen? Ist nicht auch hier ein Wunsch und Bruch des Richtigen gegen das Falsche geboten? Zwar gibt es in vielen Verfassungen für Momente des Regierungsversagens ein mehr oder weniger starkes Widerstandsrecht. Man kann das Aufbegehren gegen Regierungsversagen aber auch als inneres Problem der Repräsentation dann verstehen, wenn die Lebenswelten der Regierung und Regierten so weit auseinandergehen, dass man nur noch von einem Trick sprechen kann, der das eine mit dem anderen Identifiziert. Repräsentation wird zu einer leeren Hülse, die notwendig (kategorisch) misslingt, wenn die Lebensrealitäten zwischen Regierung und Regierten sich nicht mehr berühren. Das wird deutlich in Fällen, in denen Jahrzehnte oder Jahrhunderte ineffektiver Repräsentation bestimmter Bevölkerungsteile offengelegt werden können (USA). Oder es wird deutlich, wenn im Rahmen der Corona-Krise bestimmte Menschengruppen übergangen und sterben gelassen werden (so z.B. in brasilianischen Favelas). Das bedeutet nun zwar nicht, dass Repräsentation aufzugeben ist, es bedeutet aber darüber nachzudenken, wie man mit ihren Schwachstellen (über Ansätze von Widerstandsrechten hinaus) umgehen kann.
3) Demonstrationsfreiheit: Die Möglichkeit der Demonstration, die Demonstrationsfreiheit wird oft als Nadelöhr und Bedingung der Demokratie bezeichnet. Sie ist das demokratische Moment und Mittel, das Regierungen anzeigt, dass sie etwas Wichtiges nicht gesehen haben oder, im Gegenteil, zu weit gegangen sind. Freilich führt auch hier das Virus zu einer prekären Situation, wenn man Demonstrationen mit Infektionsrisiko, Abstandsregeln und Maskenpflicht zusammen denkt – auch das wurde bei den Querdenkern deutlich. Das Demonstrieren (als Versammlung der Körper vor Ort) selber wird prekär, weil es eine unmittelbare Verbindung zur Gefährdung von Menschenleben schafft und damit eine Grundfigur des demokratischen Selbstverständnisses ins Wanken bringt. In gewisser Weise bricht, wie bei Diskussionen um die ökologische Verwicklung des Menschen, ein neuer Weltbezug in die politische Theorie ein und fordert uns auf, stärker darüber nachzudenken, was Politik unter Bedingungen bedeutet, die nicht vollständig vom Menschen abhängen oder abhängig gemacht werden können.
4) Nehmen wir weiter den Liberalismus und seine (verengte) Handlungsperspektive: Wie ist das mit den Kranken und Toten, mit dem Sterben-lassen? Man kann sagen, dass der Liberalismus stark eingeschränkt und ignorant dadurch ist, dass alles, was nicht unmittelbar durch ihn verursacht wird, keine Rolle spielt, das kleinere Übel darstellt und einfach hingenommen werden muss. Sein Vorteil individualistischen Denkens und der kausallogisch gedachten Verantwortung und Schuld wird hier zu einem Nachteil, weil man sich als Mit-Bürger oder Regierung leicht die Hände reinwaschen und dem Elend zusehen kann, ohne glauben zu müssen selber beteiligt zu sein. Wenn es aber stimmt (oder es zumindest keine deutlicheren Gegenargumente gibt), dass vieles Corona-Sterben durch konstruktive Politik und persönliches Verhalten verhindert werden kann, ist verstärkt ein politisches Selbstverständnis und Handeln nötig, das gesellschaftliche Probleme auch unabhängig von der direkten Verursachung identifiziert und zu lösen versucht. Natürlich ist klar, dass so ein Ansatz hässliche Züge annehmen kann, die der Liberalismus gerade vermeiden will – generell: soziale und politische Spielräume der einzelnen zu höheren Zwecken des >Kollektivs< einzuschränken. Dennoch wird derzeit deutlich, dass Demokratie sich nicht in der Hinnahme kollektiven Sterben-lassens erschöpfen kann, es also nicht einfach möglich ist, diesen Teil des kollektiven Handelns zu kürzen. Stimmen, die wegen der vorgezogenen Massenimpfungen in Großbritannien von einer klugen Strategie gesprochen haben, stellen aus dieser Perspektive einen bösen Sarkasmus dar: die zehntausend Tode, die hätten aufgeschoben, die Leben, die hätten durch geeignete Maßnahmen bis zur Impfung erhalten und verlängert werden können, werden ignoriert.
5) Schließlich lassen sich radikale Ansätze der Demokratietheorie anführen: Radikale Demokratietheorien wenden sich oft gegen die politische Ordnungsbildung im Allgemeinen, da Ordnungen (d.h. die institutionelle oder verstetigte Form des Zusammenlebens) für sie per definitionem diskriminativ sind bzw. Ungleichheit verfestigen. Man kann sagen, dass diese Bestimmung von Ungleichheit die Annahme der Beschränkung jeder empirischen Ordnung zur Voraussetzung hat und davon ausgehend den Bruch und Öffnung der Ordnung auf Gleichheitserweiterung hin fordert. Allerdings neigen solche Ansätze auch zu Problemen, wenn sie Ordnungen nur als Modus der Begrenzung, Beschränkung und Ausgrenzung sehen. Was zu wenig in den Blick kommt, ist die Möglichkeit und Notwendigkeit an der Ordnung selber zu arbeiten – wenn >jede< Ordnung verurteilt wird, denkt man nicht mehr darüber nach wie man sie besser machen, sondern nur wie man sie auflösen kann (und welche sehr abstrakten Gründe es dafür gibt). Ich denke, auch hier wird das Problem im Rahmen der Corona-Krise augenfällig. Die Einsicht, etwas tun zu müssen mit der Ordnung, damit Menschen nicht einfach von einer Todeswelle überrollt werden, bindet sich an die Einsicht der Möglichkeit gestalterischer Spielräume, die zu geringerer, oder höherer Sterblichkeit führen, die egalitär oder asymmetrisch verfahren usw. – um hier bestenfalls den egalitären Weg zu suchen. Natürlich kann man den Radikalen zugestehen, dass die Strategien niemals die begrenzende Logik der Ordnung überwinden – man muss aber auch sehen, dass es hier Spielräume gibt, die sich nutzen lassen.
Ich glaube man kann mit gutem Gewissen ambivalent bleiben, wenn prominente Autoren der linken, politischen Philosophie gegen alle Versuche schießen Freiheit, Schutz und menschenwürdige Bedingungen aus Perspektive der Ordnung zu denken. Klar – irgendwie ist der Staat immer auch böse und gefährlich, weil mit ihm ein Korsett der Herrschaft geschnürt wird. Es bleibt aber ebenfalls unbefriedigend, einfach die liberale Haltung der Gleichgültigkeit oder bloßer Bestürzung zu übernehmen.
Fazit: Man kann sicher sagen, dass alle Demokratiemotive wichtige Intuitionen ausdrücken, die bewahrenswert sind. Andererseits kann man sehen, dass mit ihnen Schwierigkeiten verbunden werden können, die durch Corona herausstechen und zum Neudenken bewegen. Deliberation, Repräsentation, Demonstration, der liberale Strang im Demokratieverständnis oder dessen Radikalisierung – man sieht sich gedrängt die Motive weiter zu interpretieren und gegeneinander zu verschieben, um den Herausforderungen der Krise Rechnung zu tragen. Wie genau das aussehen kann, bleibt natürlich die große Frage – vielleicht lässt sich hier aber eine Richtung akzentuieren, Demokratie im doppelten Sinne stärker partizipativ zu denken: im Zweifelsfall direkt gegen ignorante Regierungen, auf der anderen Seite aber auch mit Regierungen und entlang einer zivilbürgerschaftlichen Logik, die demokratisierende Spielräume und kollektivierende Freiheiten in der Sphäre der profanen Alltagspolitik entdeckt.