Dass es der deutschen Regierung, wie offenbar vielen anderen Regierungen, im Rahmen der Pandemiebekämpfung nicht in erster Linie um das Leben der Menschen, sondern die Freiheit der Menschen geht, ist mittlerer Weile ein alter Hut. Andererseits drängt sich langsam offenbar doch die Frage auf: wie viele Menschen lässt man sterben? Ich bin gespannt, wie die Diskussion nach zwei oder drei Monaten auf diesen November und Dezember zurückschauen wird. Nicht unwahrscheinlich ist es, dass die Situation sehr gerne totgeschwiegen und der Blick auf die Herausforderung auf die Situation des Frühjahres gelenkt wird. Aber pikant oder vielmehr prekär ist es doch, dass den letzten Monat so viele Menschen an Corona gestorben sind, wie das gesamte Jahr über. Da fragt man sich, ob hier nicht Chancen verspielt wurden und die gewonnenen Freiheiten die folgenden Unfreiheiten und Tode es wert gewesen sind. Die vielen Lobreden derzeit, dass der >Lockdown< so schnell und rechtzeitig gekommen ist, wirken dann befremdlich und in gewisser Weise realitätsfern. Vielleicht zeigt sich auch, dass es wenig Sinn macht über Freiheit in einer nicht-zeitlichen Perspektive zu sprechen, also sie nur im Modus der Präsenz zu betrachten.
Hier spielt noch etwas anderes herein: wie mit der Möglichkeit der Impfung umgehen? Besonders dramatisch und zynisch muss man doch all die Tode nehmen, die hätten absehbar verhindert werden können, die sozusagen mit der Aussicht auf Impfung an der Schwelle zwischen Leben und Tod standen, hier aber in den Tod fallen gelassen wurden. Leute, die betonen, der >Lockdown< sei keine langfristige oder überhaupt keine Strategie, vergessen offenbar immer wieder, dass es mit Aussicht auf den Impfstoff effektiv darum geht Zeit zu gewinnen und dadurch Leben zu retten (ähnliches bei den Kliniken, deren Lebens-Rettungs-Mechanismus bei Überlastung schlechter und schlechter wird).
Das ist die eine Sache. Die andere Sache ist die seltsame, westliche Selbstbegrenzung des Impfungsdiskurses. Warum begrenzt(e) sich die öffentliche Diskussion um die Bedingungen der Möglichkeit der Impfung nur auf >westliche< Länder bzw. ihre Firmen? Warum gibt es keine öffentliche Diskussion um den Verlauf der Impfungen in Russland, in China, in Indien? Warum gab es keine Diskussion um deutsche- oder europäische Kooperationen mit nicht-westlichen Medikamentenherstellern? Hätten sich hier nicht effizient Kapazitäten ausbauen lassen, um den Produktionsdurchsatz zu erhören, so dass möglichst viele Menschen profitieren würden? Ich hätte mir hier eine offene, umsichtige Analyse und Auseinandersetzung um das Impfgeschehen in diesen Staaten gewünscht, um unterschiedliche Strategien abwägen zu können. Noch jetzt bleibt dunkel, wie die Impfungen in diesen Staaten verlaufen. Natürlich ist unklar, was hinter den Kulissen der Politik alles erwogen und oft sicher auch mit guten Gründen ausgeschlagen wird (so z.B. in Bezug auf die Informationspolitik in China). Aber es drängt sich auch ein bisschen der Eindruck auf, dass man möglicher Weise aus marktstrategischen Gründen den >Westen< abschotten wollte und deshalb die Möglichkeit jeder Kooperation kategorisch ausgeblendet hatte. Das ist vielleicht gerade deshalb frustrierend, weil westliche Firmen und Regierungen Jahrzehnte lang z.B. mit dem chinesischen Regime kooperiert, es stark gemacht haben (und damit ohnehin in seine ethischen und politischen Verfehlungen verstrickt sind), nun aber nichts Konstruktives zustande bringen (auch wenn die Kooperation dann vermutlich anders beschaffen schein müsste). Die einzige mir bekannte Kooperation größerer Art westlicher Unternehmen in nicht-westlichen Staaten (Brasilien zähle ich seit Bolsonaro dazu) ist das Probe-Testen der eigenen Impfmittel in Brasilen und afrikanischen Staaten gewesen. Gerade so hätte man sich das vermutlich aber eigentlich nicht gewünscht, weil damit eher als Kooperation ein instrumentelles (wenn auch abgeschwächtes) Moment des alten Kolonialismus aufleuchtet.