Wenn man fragt, was das neue Schlechte an einer Gesellschaft sein kann, die auf dem Weg zu einer toleranten und inklusiven Gesellschaft ist, wenn man fragt, ob es überhaupt möglich ist, dass es so ein neues Schlechtes gibt, dann möchte ich einen Vorstoß wagen. Ich denke, das neue Schlechte ist das Schweigen, oder was auf ähnliches hinausläuft – das einseitige Reden, das Reden und nicht-gehört, nicht-wahrgenommen werden.
Die neue Gesellschaft ist zwar tolerant und inklusiv – d.h. sie ist auf dem Weg ihren Anspruch mehr und mehr zu verwirklichen Menschen nicht auszuschließen – das gilt für den Staat, aber auch, so es geht, für das berufliche und private Leben. Man kann dabei sein, ist willkommen … und wenn man dabei ist, dann ist es gut.
Damit ist aber nicht alles gut. Es reicht nämlich nicht. Um wirklich dabei zu sein, muss man jemand sein, man muss interessant sein, man muss beliebt sein … und in dieser Interesse-weckenden Beliebtheit muss man gewollt werden. Ist man das nicht, schafft man nicht den Sprung vom bloßen Mensch-Sein zum interessanten Menschen, dann spricht die Welt nicht zurück. Dann bleibt man einsam, obwohl man nicht alleine ist, man steht daneben, obwohl man eingeschlossen ist; und obwohl man mit anderen ist, ist man nicht eigentlich für sie da – es ist ein sehr schwaches >mit<, mit dem man mit anderen ist.
Die Gesellschaft ist voller Kommunikation – und doch kommunizieren wir immer mehr einseitig. Der eine spricht, der andere schweigt. Die eine wird gehört, die andere spricht ins Leere. Immer mehr. Je interessanter die einen werden, umso mehr fallen die anderen ab. Das gegenseitige Sagen, das miteinander Sprechen und sich gegenseitig Einbeziehen wird zur Eigenschaft, zum Symbol eines elitären Teiles der Gesellschaft. Dieser Teil nimmt das Reden für sich ein. Das gehörte Reden aber ist das Eigentliche – das gehörte Reden macht einen wirklich, es macht einen in erstrebenswerter Weise zum Gegenstand der Gesellschaft, einen Gegenstand, auf den die Gesellschaft bezogen ist, um den sie kreist, den sie in sich einsaugen will. Wirkliches Reden ist gehört werden – nur wer gehört wird, redet auch eigentlich. Diejenigen die ungehört reden, diejenigen die da sind und schweigen, existieren nur zur Hälfte.
Gesteigert wird die Situation durch die Digitalisierung unserer Beziehungen. Der virtuelle Raum wird dominiert von beliebten Personen, den gehörten Sprechern. Natürlich ist der virtuelle Raum universell und inklusiv – jeder kann dabei sein, jeder kann sich zuschalten und Zugeschaltetes abrufen – aber nicht jeder wird gehört. Wer nicht gefragt wird, wer ins Leere spricht, der spricht irgendwann gar nicht mehr, oder spricht nur zu sich selbst. Mehr noch hat der virtuelle Raum die präsentischen Beziehungen ersetzt, er hat das Leben an sich gerissen und jede Sozialität auf ein Sprechen und Schweigen hin radikalisiert. Präsentische Beziehungen, die aus ihrer Vielfalt der Begegnungsformen oft ein gegenseitiges Sprechen und Hören angeregt haben, stellen eine Schwundform des Sozialen dar. Im virtuellen Raum ist die Anregung einseitig – wir sind stumme Bilder, schwarze Kacheln, marginalisierte Existenzen.
Das Leben wird produziert von Eliten des Virtuellen. Diese Besten der Gesellschaft sind hier weit mehr als es die Repräsentanten der Politik sind. Die Repräsentanten der Politik repräsentieren die Politik, die Repräsentanten der Gesellschaft repräsentieren das Leben.
Schließlich ist es die Toleranz, die davon entbindet, sich den Ausgeklammerten zuzuwenden, sich den zuzuwenden, die nicht ausgeschlossen aber auch nicht eingeschlossen sind. Es ist nicht nötig, es ist nicht einmal mehr gefordert, sich mit ihnen näher zu befassen – eine tolerante Gesellschaft darf niemanden ausschließen, eine tolerante Gesellschaft darf niemandem etwas antun. In einer toleranten Gesellschaft lässt man das unerwünschte Gespräch einfach ausklingen – das gehört zum guten Ton.
Althusser sprach von der Anrufung und beklagte die Rolle des Staates – was kann man schon davon halten, durch den Staat Subjekt zu werden? Die Idee der Anrufung ist freilich nicht vom Tisch – auch wenn der Staat seine Rolle eingebüßt hat, bleibt die Gesellschaft wichtig. Die Gesellschaft ruft uns an, vergibt unsere Identitäten – wir werden zu Menschen durch die Anrufungen unserer Familien, Freunde und Kollegen. Natürlich macht die Anrufung Probleme, ist voller menschlicher Schwäche und Bösartigkeit. Trotzdem bleibt sie bedeutsam – sie gibt uns sozialen Raum, motiviert unser Handeln, stiftet Sinn. Die Anrufung aber für den, der uninteressanten ist, ist nur halbherzig, halbherzig und abgeschmackt. Diejenigen, die im gegenseitigen Sprechen sind, werden subjektiviert, bilden einen Begriff von und für die Gesellschaft – alle anderen warten nur darauf. Alle anderen bleiben unbestimmte Existenzen, eine verblasste Masse, die andere bewundert, selber aber nicht hinreicht, eine bezugswürdige Identität zu erhalten.