vonzwiespalt 12.12.2021

Zwiespalt der Ordnungen

Von kleinen und großen Herrschaftsverhältnissen, von Zwickmühlen der Realpolitik und den Ambivalenzen ihrer Ordnungsgrundlage.

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Sahra Wagenknecht hat im Laufe der Coronapandemie immer wieder und bis in die Gegenwart hinein die Rolle der Impfung und der Ungeimpften relativiert. Besonders frappierend ist ein bestimmtes Argument, mit dem sie die Kritik gegen Ungeimpfte aus den Angeln heben will. Hier wendet sie sich gegen den Vorwurf, dass Ungeimpfte durch ihre Impfunwilligkeit Kapazitäten in Krankenhäusern blockieren und damit wichtige Eingriffe in andere Krankheitsfälle unmöglich machen. Wagenknecht führt dagegen sinngemäß an: Hätte das neoliberale System nicht die letzten Jahrzehnte Krankenhauskapazitäten reduziert, dann hätten wir jetzt keinen Behandlungsnotstand. Dieses Problem werde, so Wagenknecht weiter, vielmehr dadurch verdrängt und verschleiert, dass Ungeimpfte mit Kritik beladen und als Ursache einer Krise (des Behandlungsnotstandes) an den Pranger gestellt werden, für die sie eigentlich nichts können (ich beziehe mich auf ein kürzliches Gespräch von Wagenknecht mit Eric Gujer von der NZZ).

Frappierend ist dieses Argument nun deshalb, weil es im Grunde jede Zwischenmenschlichkeit ausschaltet. Hier kommt gar nicht mehr in den Blick, welche Folgen die eigene Entscheidung für das Leben anderer Menschen hat. Es kommt nicht mehr in den Blick, welche Einschränkungen diese Entscheidung für andere Menschen bedeuten, mit welch elementaren Risiken und Belastungen diese Entscheidung verbunden ist – ob sie z.B. gegenwärtig die Krankenhäuser zum Kollabieren bringt oder ob Menschen tatsächlich, wegen unzureichender Pflege und Kapazitäten, sterben müssen.

Ist es nicht so, als würde man auf der Straße an einem Verletzten vorbei gehen und sagen: >Egal, es ist nicht mein Problem, weil deine Leiden nicht meine Fehler sind<? Ist es nicht so, als würden man jedes innere Ringen um die richtige Antwort kategorial von sich weisen? Es genügt Wagenknecht, sich auf einen Mangel in der Vergangenheit zu berufen.

Man kann das Problem auch dezidiert in der ethischen Perspektive zeichnen: Weder geht es darum, sich über die sittliche Beschaffenheit seiner eigenen Person Gedanken zu machen, wie in der antiken Ethik; noch geht es um einen kategorischen Imperativ, wie bei Kant, der an dieser Stelle mit hoher Wahrscheinlichkeit wenig Bestand hätte; noch geht es um einen utilitaristischen Blick auf die Handlungskonsequenzen – auch dabei würde die Entscheidung mit großer Sicherheit zugunsten des Impfens ausfallen. Alle diese Punkte aber fallen weg mit dem Verweis auf eine vorangehende Schuld.

Natürlich ist Wagenknechts Verweis auf die kollektive Verantwortung und kollektive Schuld, die dem Einzelhandeln vorangeht und ihn von alle Folgeschwierigkeiten freispricht, keineswegs völlig verkehrt. Man kennt solche Motive z.B. aus der Rechtspraxis, wenn Schuld-Minderungsgründe aus einer traumatischen Vergangenheit abgeleitet werden. Auch lässt sich z.B. mit Adorno betonen: es gibt kein richtiges Leben im Falschen – was ja mitunter bedeutet, dass man im falschen Leben nicht richtig Handeln kann.

Dennoch sind diese Beispiele hier keine Stütze. Die Impfunwilligkeit ist breitflächig nicht durch ein vorangehendes Trauma gedeckt. Und sie kommt auch nicht mit Adornos Ausspruch zur Deckung, da dort das falsche Leben ein Leben ist, das den richtigen Weg zu sich selbst und damit auch zu den anderen nicht gefunden hat.

Bei Wagenknecht wird die Bezugnahme nach den Leben und der Lebenswelt des anderen nicht einmal mehr gesucht, sondern das Zwischenmenschliche ausgeschaltet. Die These der kollektiven Schuld entkoppelt den einzelnen von der Gesellschaft und seiner Rolle darin – eigentlich eine sehr ungewöhnliche Position für Linke Politik.

Ich glaube nicht nur, dass man die persönliche Verantwortung, den eigenen Platz in der Kausalkette, so einfach und so radikal ausschalten kann. Auch habe ich den Eindruck, dass der Vorwurf der Sündenbockthese gegen  Wagenknechts Argument selber greift, dass auch hier die Schuld verschoben und die Schuldfrage lediglich umgedreht wird: Die Sündenböcke sind nun die liberalen Macher von damals, denn es ist die Schuld- und Verantwortungsfrage, die nur dort sich zeigt. Die Frage danach, ob man nicht auch in einer ungerechten Welt ethisch handeln kann, wie sie z.B. die >Les Miserables< durchzogen hat, kommt nicht eigentlich zum Zug.

Das bedeutet schließlich nicht, keine kollektive Schuld und Verantwortung zu denken. Die neoliberalen Reformen des Gesundheitswesens sind sehr gut kritisierbar. Diesen Punkt muss man schon lassen. Es bedeutet aber doch, das Kollektive anders anzubringen.

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