vonzwiespalt 19.06.2023

Zwiespalt der Ordnungen

Von kleinen und großen Herrschaftsverhältnissen, von Zwickmühlen der Realpolitik und den Ambivalenzen ihrer Ordnungsgrundlage.

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Als Erdogans Fanclub werden seine Wähler in Deutschland immer wieder tituliert. Man erkennt leicht die Abwertung, die dahintersteckt. Es wird von einer Gruppe von Menschen behauptet, sie sei weder in Deutschland >angekommen< noch willig, die Werte liberaler Demokratie anzuerkennen. Meist wird mit einem Kopfschütteln hinzugefügt, dass viele Erdogan-Wähler in Deutschland von der liberalen Demokratie profitieren und sie gleichzeitig ablehnen.

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Ich glaube, solche Stellungnahmen bergen eine falsche, demokratische Positionierung, eine falsche Selbstverliebtheit sogar. Nicht, dass ein emphatischer Demokratiebezug schlecht wäre. Im Gegenteil. Problematisch werden Selbstverliebtheit bzw. das Einstehen für Demokratie aber, wenn sich demokratische Selbstkritik verliert.

Oft wird vergessen, dass auch die deutsche Demokratie nicht nur demokratisch ist, sondern autoritäre und repressive Seiten hat. Und es wird vergessen, dass dadurch eine Entfremdung gegenüber liberaldemokratischen Institutionen oder der Geltung ihrer Werte entstehen kann.

Besser gesagt: Die repressiven Seiten der Demokratie werden nicht vergessen, sondern bewusst und systematisch ausgeblendet und relativiert. Vor diesem Hintergrund wird dann regelmäßig die weltpolitische Lage diskutiert. Ich möchte das an drei Punkten erläutern, um anschließend auf die Erdogan-Wahl zurückzukommen.

1) Die Beurteilung außenpolitischer Verhältnisse wird herangezogen, um Demokratie im >Inneren< zu stabilisieren: Eine häufige Diskursstrategie ist es, über Demokratie so zu reden, dass Staaten in der Welt, gemessen an westlichen/ deutschen Standards, für demokratische Mängel kritisiert werden. Damit wird die Größe und Funktionalität westlicher, demokratischer Prozeduren und Alltagspraxen stark gemacht, ohne sie einer immanenten Kritik zu unterziehen. Man stabilisiert über solche Diskurse den sozial-politischen Status Quo bzw. schützt ihn vor radikaldemokratischen Einwänden, ohne ihn kritisch abklopfen zu müssen.

2) Es wird eine quantitative Logik in das Feld von Liberalismus und Rechtsstaat eingetragen: Eine wichtige Implikation ist es dabei, dass demokratische Unterschiede zwischen West/ Ost, Demokratie/ Autoritarismus, in ein graduelles Verhältnis gebracht und mit Blick auf den Westen/ Deutschland marginalisiert werden. Dann wird so etwas gesagt wie: „Ja, wir haben Probleme, aber die sind ohne Bedeutung im Vergleich zu dem, wie es unter Xi, Erdogan und Co. aussieht“. Obwohl ein solcher Bezug plausibel zu sein scheint, ist er falsch. Man muss sich doch fragen (und fragt es oft auch): Bleibt der Staat ein Rechtsstaat, wenn ein bisschen Rechtsgleichheit fehlt? Ist es nicht schlimm, wenn Menschenrechte nur ein bisschen verletzt werden? Eine strikte Rede von Rechtsstaat und Rechten lässt solche Relativierungen nicht zu. Umgekehrt muss der Versuch, solche Relativierungen einzuführen, als Problem verstanden werden. Er möchte eine Ordnung des Unrechts als Ordnung des Rechts stabilisieren.

3) Schließlich wird in vielen Diskursen nicht ernstgenommen, dass z.B. der strukturelle Rassismus in Deutschland liberale und rechtsstaatliche Ansprüche unterläuft. So ist der Übergang von Rechtssetzung zur Rechtsanwendung problematisch. Erwiesenen Maßen wird in Strafrechtsangelegenheiten regelmäßig der Anspruch der Rechtsgleichheit verfehlt. Werden bestimmte Teile der Gesellschaft aber eher kriminalisiert als andere, ist ihre Rechtsgleichheit und Grundrechtsgeltung erheblich beschnitten.

Von hier aus möchte ich auf die Erdogan-Wahl blicken. Wenn man zu schnell von Erdogans Fehlern spricht und der großen Verfehlung seiner Wähler, dann steigt man in die Verkennung undemokratischer Elemente einer Gesellschaft ein, die sich als genügende, demokratische Bezugsgröße missversteht.

Wie soll man, mit Blick auf die Erdogan-Affinität von Deutschen, von demokratischen Werten überzeugt sein, wenn diese Werte für einen selber immer wieder ausgesetzt werden? Wie kann man sich in einer Gesellschaft aufgehoben fühlen, die solche Diskurse mit einem Verweis darauf marginalisiert, dass es >diesen Menschen< hier doch so gut geht? Die Erdogan-Wahl hat nicht nur die Reformbedürftigkeit der Türkei explizit gemacht, sondern auch die Reformbedürftigkeit einer politischen Diskussion hierzulande.

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