Jede Wahl ist ein Konflikt, ein nötiger und willkommener Konflikt – so sagt in weiten Teilen die Theorie. Dass sich zwischen den Bürgern um die Wahl herum, um die künftige Politik des Landes ein Konflikt abzeichnet, ist daher kein Problem, sondern Zeichen einer guten, lebendigen Demokratie. Würde man stillschweigend die Wahl abwarten, einfach ein Kreuz machen und nach Hause gehen, sich nicht mokieren, käme das der fatalistischen Geste eines Verwaltungsbürgers gleich, der sein Schicksal phlegmatisch auf sich zukommen lässt und mit einem Achselzucken besiegelt. Natürlich verspricht man sich durch den politischen Konflikt einigen (auch paradoxen) Mehrwert: die Schärfung politischer Programme, die Bewährungsprobe der Politiker, die mehrheitliche Erzeugung positiver Leidenschaften (vor allem der kommenden Regierung gegenüber) und solidarisierende, verbindende Effekte gegenseitiger Überzeugung. Freilich ist der Konflikt nicht ungefährlich. Der Konflikt kann ausufern und negative Affekte, polarisierte Weltbilder erzeugen, er kann vor der Wahl und hinterher die Gesellschaft schmerzhaft spalten. Deshalb nehmen es Politiker, Medien usw. zum guten Ton politischer Praxis, nach der Wahl die Wogen zu glätten, die Gemüter zu beruhigen und das Land zu einen, wie man sagt. Hier hat man nun Biden und andere oft an die amerikanische Seele appellieren hören: >ihr seid doch Amerikaner!<, hieß es in einer postkonfliktuellen Rhetorik, das Land wieder zusammen bringen zu wollen.
Wie gesagt, die Geste der Einigung wird erwartet, ist einigermaßen Etabliert… warum aber der Bezug auf >den oder die< Amerikaner? Klar, man kann sich denken, was damit gemeint sein könnte: Wir Amerikaner, Mitglieder der ältesten Demokratie der Welt, sollen uns auf unsere etablierten demokratischen Prinzipien beziehen, diese Prinzipen wieder leben und würdigen und der gewählten Regierung ihren reibungslosen Handlungsspielraum freigeben. Wir, die Amerikaner, sollen in eine neue Phase der Selbstregierung treten, der Zeitpunkt des Streits um Programme ist vorbei usw. Ok, warum aber die Rede vom Amerikaner? Hätten es nicht Verweise auf demokratische Prinzipien auch getan? Warum dieser Umweg über den Nationsbegriff? Wenn er den demokratischen Prinzipien nichts hinzufügt, ist er überflüssig. Wenn er ihnen etwas hinzufügt, ist er nicht in der Form demokratisch, wie das qua pluralistisch-liberale Emphase oft vermittelt wird. Warum also der Nationsbegriff? Eine unreflektierte Geste? Ein bedeutungsloses Residuum? Oder doch vielleicht der Verweis auf eine Zivilisationsstufe, die Amerika als älteste Demokratie der Welt errungen hat, die also auf eine kulturelle Praxis verweist, die unerlässlich für ein bestimmtes, gutes Funktionieren von Demokratie sein soll und die Amerika von anderen Staaten unterscheidet? Eine Zivilisationsstufe, die Teil des amerikanischen Erbguts geworden ist und von der durch Irritationen zwar abgewichen werden kann, auf die aber immer wieder zurückzukommen ist. Hier wäre auch Bidens wiederholte Rede (und antike bzw. mittelalterliche Rhetorik) von Krankheit und Heilung einzuordnen, also der Anspruch, Amerika nach der >Krankheit Trump< heilen zu wollen, den kranken politischen Körper in seinen eigentlichen Zustand der Zivilisationsbezogenheit zurückzuführen.
Freilich wäre noch eine andere Deutung möglich: die politische Fortsetzung des Status Quo – der gewohnte Umgang mit politischen Institutionen, Rechten und Grundrechten, vor allem dem Privateigentum, das in einen bestimmten, für die amerikanische Geschichte einschlägigen Bezug, ein fortgesetztes politisches Selbstverständnis eingebunden ist und den Horizont auf andere Bezugs- und Denkformen verstellt. In diesem Sinne würde sich die Ansprache an >die< Amerikaner traditionellen, politischen Gewohnheiten zuwenden, die nun, nach Trump, wieder zurechtgerückt und besser verpackt werden, trotzdem aber einen Kurs fortsetzen, der Jahrzehnte lange Ungleichheit erzeugt und ganz bestimmte Lebensweisen privilegiert hat.