Angesichts der verschärften Infektionslage und der angespannten gesellschaftlichen Situation, Beschränkungen des öffentlichen und privaten Lebens verfügen zu sollen oder zu wollen und diese Beschränkungen einzuhalten, oder nicht einhalten zu wollen, kann es vermutlich nicht genug Gedanken-Text, kann es nicht genügend Versuche zur stückweisen Bearbeitung der Probleme geben. So auch hier noch mal ein kleiner Versuch.
Es ist vermutlich unstrittig anzunehmen, dass unser Alltag voll von Konflikten zwischen dem Anspruch oder Recht auf Sicherheit (ich Rede sehr grob von Sicherheit, auch wenn es dafür vielleicht bessere Konzepte gibt) und dem Anspruch oder Recht auf Freiheit ist. Das ist beispielsweise beim Autofahren der Fall: Wir wollen Auto fahren und wir wollen sicher Auto fahren und sehen uns hier immer wieder zwischen dem Anspruch, möglichst ungebunden oder ungehindert zu fahren und dem Anspruch, sicher sein zu wollen und die Fahrt gut zu überstehen, begrenzt – unser Sicherheitsbedürfnis schränkt u.a. durch Tempolimits unsere Freiheit ein, unsere Sicherheit wird durch das Freiheitsbedürfnis Auto zu fahren unzählige Male aufs Spiel gesetzt. Wir haben uns schon so an diese Verbindung und Beschränkung gewöhnt, dass sie uns keine Sorgen mehr macht. Was uns Sorgen macht und uns überrascht sind Situationen, die mit großen, plötzlichen Veränderungen verbunden sind und uns vor Augen führen, dass wird auf beide Ansprüche stärker zugreifen müssen, damit aber auf einmal sehen, dass sich beide Ansprüche auch gegenseitig zerstören können. Solche Situationen erzwingen dann eine ungewohnte, zynische oder schreckliche Erfahrung der Gegenüberstellung von Freiheit und Sicherheit und machen uns verrückt. Wir möchten und müssen das Problem lösen und glauben das nur dann tun zu können, indem wir uns auf einen Anspruch wohl oder übel versteifen, um den anderen von der Hand zu weisen.
Ich möchte hier versuchen einen Mittelweg zu gehen und behaupten, dass eine prinzipielle Hierarchie beider Rechte (zumindest in weiten Teilen) schwierig ist, da das eine nicht wirklich ohne das andere sein kann: Freiheit ohne Schutz auf Leben kann bedeuten, dass ein Teil der Gesellschaft stirbt, in Angst und Schrecken lebt, während der andere Teil seine Freiheit genießt. Dieses Szenario ist oft Gegenstand der linken Liberalismuskritik, da Menschen in Gesellschaft durch liberal-ökonomisch bedingte, ungleiche Verteilung von Wohlstand und Fürsorge in gewissen Hinsichten einem Sterben-Lassen, oder besser: in vielen Hinsichten Verletzungen und einem vorzeitigen Tod ausgesetzt sind. Dass Corona genau solche Situationen heraufbeschwören oder steigern kann, ist eine naheliegende Vermutung. Das umgekehrte Szenario des Lebens ohne Freiheit zielt auf das Schreckensbild, das bezüglich Corona derzeit vor allem offenbar von FDP- und AfD-Leuten gezeichnet wird – ein Leben, das durch Beschränkungen auf ein Minimum an Möglichkeiten reduziert wird und eher ein dahinvegetieren ist, als ein Leben. Natürlich gibt es auch hier (irgendwie ironisch in der Verbindung) exemplarische Verweise z.B. auf totalitäre Regime, die das Leben in Sicherheit unter den Scheffel einer restriktiven Kontrolle und Bevormundung stellen.
Wenn man diese Stränge nun verbindet und sagt, dass beide Werte oder Prinzipien ohne einander keinen Sinn ergeben, dann stellt sich schließlich die Frage, was man macht, da beide doch widerstreiten und in einer offensichtlichen Weise zu beschränken drohen? Sicherheit lässt sich ja, wie die weitläufige Diskussion vielerorts belegt, nur um den Preis der Einschränkung von Freiheit (z.B. als Bewegungsfreiheit) haben, Freiheit wieder nur um den Preis der Ansteckung zweiter oder dritter (vorausgesetzt, man kauft die Infektionsdaten ein)… Aber ist das wirklich so? Muss man sich Szenarien der gegenseitigen Begrenzung nur als Verlust von etwas vorstellen? Ist das nicht ein zu pessimistischer oder vereinfachter Blick? Ich denke, man kann diesen Blick innerhalb der Begrenzung selber umkehren und sagen, dass die Prinzipien ohne einander nicht nur keinen Sinn ergeben, sondern sich oft gerade dann voraussetzen, wenn sie sich scheinbar begrenzen.
Man kann das bereits am Beispiel des Autofahrens zeigen, in dem man den Akzent etwas verschiebt, wenn man über das Autofahren redet: die Freiheit, Auto zu fahren, macht nur Sinn, wenn der Verkehr so geregelt ist, dass man auch mehr oder weniger sicher ankommt. Die Sicherheitsvorkehrungen im Auto und auf der Straße machen nur Sinn, wenn man die Freiheit hat, das Auto auch zu benutzen. Ich denke, dass sich in dieser Form einige wichtige Schnittstellen für den Umgang mit Corona in unserem Alltag ergeben. So könnte man sagen, dass es elementare Freiheitsräume und Tätigkeiten in der Gesellschaft gibt, wie die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel oder das Einkaufen von Grundnahrungsmitteln, die ganz wesentlich sowohl mit Ansprüchen der Freiheit und Sicherheit zusammenhängen, in denen sich also Freiheit und Sicherheit gegenseitig möglich machen. Erst ein niedriges Infektionsrisiko beim Einkaufen würde damit für alle Menschen die nötige Freiheit sicherstellen, Grundnahrungsmittel auch einkaufen gehen zu können. Da die Gefahr über Altersgruppen ungleich verteilt ist, würde erst eine geringe Ansteckungsrate Bedingung dafür sein, dass Freiheit auch wirklich gleich gelebt werden kann. Nicht nur würde jede Freiheit, die das ungleiche Risiko unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen ignoriert, nur in einem schwachen Sinne als Freiheit gelten. Auch könnte das Sicherstellen elementarer, öffentlicher Verrichtungen für alle (die, weil sie elementar sind, eine Priorität gegenüber anderen Verrichtungen haben müssten) eventuelle, sicherheitspolitischen Maßnahmen in anderen Situationen bedeuten – wenn viele Leute angesteckt sind, die ihre Grundnahrungsmittel besorgen, können ältere Menschen und Menschen mit einer reduzierten Immunität ihrerseits nicht mehr gefahrlos Einkaufen gehen, so dass eine allgemeine Reduktion der Infektionen geboten ist.
Es sollte abschließend gesagt werden, dass das Argument, gefährdete Gruppen vom Einkaufen einfach fernzuhalten, ein utilitaristischer Trick ist, der Freiheit nicht im strengen Sinne als gleiche Freiheit denkt. Es geht hier mehr um eine Sozialtechnologie, für einige Menschen Freiheitsräume abzuschaffen und Alternativen zu bieten – z.B. die Lebensmittelversorgung durch Dritte sicherzustellen – was zwar Teile des Problems löst und für Teile der Gesellschaft eine Besserstellung (geringere Einschränkungen und Konsumprofite) bedeuten könnte, das aber eben den Anspruch der gleichen Freiheit der Menschen und also ihre Freiheitsrechte auf Gleichheitsbasis umgeht. Würde man eine solche Verrechnung stark machen, könnte man nicht zuletzt umgekehrt sehr große Freiheitseinschränkungen begründen, wenn man diese mit gesamtgesellschaftlichen Vorteilen (die dann irgendwie bestimmt werden) nur richtig verbindet.