von 12.12.2010

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Getrieben vom tieferen Unterbewußtsein, wie in dem satirischen Roman der beiden sowjetischen Schriftsteller Ilja Ilf und Jewgeni Petrow, dass da mehr sein könnte als nur die Stühle, ließ mich auf der „AIT-CharityChair“ Versteigerung in der St. Johannes-Evangelist-Kirche in der Berliner Auguststraße immer wieder den Pokerarm hochreißen. Als das Eis gebrochen war gab es kein Halten mehr.

Die Fachzeitschrift „AIT“ – Architektur Innenarchitektur Technischer Ausbau hatte aus Anlaß des 120. Geburtstages von AIT 120 europäische Architekten und Innenarchitekten gebeten, einen klassischen weißen Holzstuhl zu individualisieren, zu bearbeiten oder ganz neu zu gestalten. Von OMA/Rem Koolhaas, über Graft, Jan Kleihues, Mario Botta, Hadi Teherani, Matteo Thun bis zu Werner Haremsa Design machten viele erfreut mit. Der Erlös dieser AIT-Charityaktion wird in den Bau eines Waisenhaus für AIDS-Waisen im südafrikanischen Township Langa bei Kapstadt investiert.

Gemeinsam mit dem Schweizer Möbelhersteller Dietiker wurden die Architekten aufgefordert den Holzstuhl „ONO“ nach Belieben zu verändern. Sie konnten mit dem Stuhl machen was sie wollten, sie mussten es lediglich für einen guten Zweck tun.

Die zu Kunstobjekten avancierten, ersteigerten Stühle werden ab März 2011 in der cité-galerie in Berlin präsentiert. Gezeigt werden:

GRAFT: BESESSEN – POSSESSED

Statement: Als „Trance- und Besessenheitszustände …. werden….. Störungen bezeichnet, bei denen ein „zeitweiliger Verlust der persönlichen Identität und der vollständigen Wahrnehmung der Umgebung auftritt….In einigen Fällen verhält sich ein Mensch so, als ob er von einer anderen Persönlichkeit, einem Geist, einer Gottheit oder einer Kraft beherrscht wird. Auzuschließen ist allerdings auch eine induzierte wahnhafte Störung, zu der die Folie à deux gezählt wird. Infolge von Besessenheitszuständen kann es zu unwillkürlichen Reaktionen wie etwa Erstarrung, „Weglaufen“, Gedächtnisstörungen etc. kommen. GRAFT

JOI-DESIGN

Statement: Mein Stuhl spielt mit Grafi, mit floalen Motiven, Farbe, Struktur und Schichtung. Auf dem weißen Untergrund des Stuhls sind kräftige, geometrische Formen in Schwarz aufgebracht. Darüber ranken sich floale Fantasie–Motive, die in Farbver-läufen und gesprenkelten Strukturen darauf lackiert wurden.

BKK 3 Architektur ZT GmbH: mirror chair

Statement: DU ! und der Spiegel. Das tägliche Geschehen in der Welt und unsere ganz persönliche Zeit rasen an uns vorbei. Deshalb sind die Momente des Innehaltens und des Wahrnehmens von uns selbst und unserer Position darin selten. Sich für andere Menschen Zeit nehmen, ihre Sorgen zu sehen, das ist die Bedeutung des Projekts „Charity Chair“. Glamourös sieht unser Stuhl aus. Aber er hat auch Ecken und Kanten – wie DU ! „Erkenne dich Selbst“, Blick in den Spiegel. Mit der Ersteigerung dieses Stuhls hast DU ! an jemanden gedacht, ihn gesehen. Ein Moment des Innehaltens verändert ein anderes Leben.

Matteo Thun & Partners

Statement: Als Initiatorin dieses sozialen Projekts bewegt sich AIT auf fremdem Terrain und gibt uns damit die Möglichkeit, mit den uns eigenen Mitteln Menschen zu helfen, mit der Kreativität. Ich habe den Stuhl bemalt. Die beiden Motive stellen zwei Orte dar, an denen ich mich daheim fühle und die für mich eine Harmonie ausstrahlen, die sich, so hoffe ich, auch auf das Langa township überträgt.

Soren Robert Lund Architects: teststuhl

Statement: Mit diesem teststuhl messen Außerirdische die Grausamkeit des Menschen. Als Me-dium dient ihnen das Licht. Damit suchen sie in unseren Köpfen nach den Ursachen dafür, warum wir uns gegenseitig Schaden zufügen. The idea behind the chair is that it is a chair made by aliens for testing human cruelty. The aliens use light as a medium to test the human mind and why we hurt each other.

PROCOS Group: IKARUS

Statement: Wer sich auf diesen Stuhl setzt, kann seine Alltagssorgen für einen Augenblick hinter sich lassen. Dies ist kein alltäglicher Stuhl. Sein Flügel sorgt für den nötigen rückenwind und lässt den Sitzenden von einer schöneren Zukunft träumen. Er verströmt etwas Kühnes, den Mut, den man braucht, um die Welt zu verändern.

J. MAYER H. Architekten: Ono Data

Statement: Bei dem von J. MAYER H. gestalteten Stuhl wird ein Datensicherungsmuster mittels bedrucktem Klebeband auf den Stuhl übertragen. Vorlage ist hier ein Datensicherungsmuster aus einem Briefumschlag. Die Überlagerungen des Klebebands und die Auflösung der klaren Form hinterfragen die Wahrnehmung des Betrachters und die Position des Benutzers. Datensicherungsmuster sind zu Beginn des 20. Jahrhunderts zur sicheren Übertragung von vertraulichen Informationen auf Mehrfachformularen und Briefumschlagsinnenseiten entwickelt worden. Diese Muster können als zeitgenössisches Ornament aus dem Prozess der Datenkontrolle interpretiert werden. Sie stehen prototypisch für die Datenhandhabung im 21. Jahrhundert und thematisieren damit aktuelle Fragen zum Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit. Als Camouflagetechnik unserer Informationsgesellschaft verschleiert es die Konturen klarer Fakten bei Daten und Objekten. J. MAYER H. Architekten. Projektteam: Jürgen Mayer H., Wilko Hoffmann.

Gewers & Pudewill: Green Blossom Chair

Statement: Der „green blossom chair“ steht für das steigende Bewusstsein und die Erkenntnis des Menschen, sich der Natur und der Umwelt wieder stärker zu zuzuwenden und zu nähern. Dieser Wunsch bleibt allzu oft unerfüllt. Der „green blossom chair“ baut symbolisch die Brücke zwischen dem täglich Notwendigen und der starken Sehnsucht von uns Menschen, auf einer blühenden Wiese zu liegen und zu träumen… Der Stuhl, ein Symbol unserer Zivilisation und Grundbedürfnisse eignet sich besonders gut für diese Hybridisierung, für das Spiel zwischen den Extremen, die unseren Alltag prägen und für ein Objekt, das zugleich ernst und spielerisch sein will. Dipl.-Ing. Arch. Georg Gewers.

Eller + Eller Architekten

Statement: Der für uns so selbstverständliche Stuhl ist weltweit weniger verbreitet, als man vielleicht denkt. Für den Großteil der Menschen ist ein Stuhl (sofern er überhaupt zu ihrer Habe gehört) frei von Luxus und Gestaltungsansprüchen. Mit unserem Beitrag wollen wir auf die gegensätzlichen Anforderungen unterschiedlicher Gesellschaften an ihre Sitzmöbel hinweisen.

AIT Redaktion

Statement: aus ORNAMENT UND VERBRECHEN (1908) von Adolf Loos: „Der papua tätowiert seine haut, sein boot, seine ruder, kurz alles, was ihm erreichbar ist. Er ist kein verbrecher. (…) Der drang, sein gesicht und alles, was einem erreichbar ist, zu ornamentieren, ist der uranfang der bildenden kunst. Es ist das lallen der malerei. Alle kunst ist erotisch. (…)“In diesem Sinne … viel Spaß mit dem „tätowierten“ Charity Chair der AItT-Redaktion!

Peichl & Partner

Statement: Durch die WM 2010 rückte der Kontinent Afrika ins Blickfeld der internationalen und medialen Öffentlichkeit. Die Lichtpunkte, die durch die Sitzflähe des von uns gestal-teten Stuhls hindurchfallen werden stehen für ein positives Bild von Afrika als einem Kontinent der Vielfalt, das weiter im Bewusstsein der Menschen bestehen bleiben soll.

Werner Haremsa Design

Statement: Einen Stuhlrohling in der Weise zu bearbeiten, dass er zum lustvollen und streitbaren Kunstobjekt wird, dass er Gefühle erlebbar macht, begeistert, Menschen zur Freude bringt, zum nachdenken oder ins Gespräch miteinander, zur Identifiation mit dem Thema, das ist die Aufgabe der Gestalter. Ein Stuhl ist ein Möbelstück mit intensiver Nutzung, mit sehr unterschiedlicher Nutzung, ein Möbel mit viel Körperkontakt. Er lädt ein zum Ausruhen, zum Sich nieder lassen, zu aktiven Gesprächsrunden, zum Arbeiten, zum Essen, zum geselligen Beisammensein. Er gehört zu den elementarsten Möbeln im Alltag, im privaten Umfeld wie im beruflichen Bereich. Jeder braucht ihn, jeder hat ihn. Die Funktion steht unzweifelhaft vor dem Design, die Form bedingt die Gebrauchsqualität.

Afrika steht für eine sehr große kulturelle Vielfalt unzähliger Völker. Afrika steht für extreme Armut, für größte Not. In den vergangenen Wochen für Fairness, für Freude, für Gewinnen und Verlieren, für respektvollen Umgang miteinander. Weit entfernt von solch existentiellen Problemen, mit denen Afrika außerhalb der WM-Zeit kämpfen muss, haben wir alle uns mitreißen lassen von diesem sympathischen Auftritt des Gastgeberlandes. Fußball hat wieder einmal mehr Gefühle in den Alltag gebracht, unser Wir-Gefühl gestärkt, hat uns mit den Schwächeren mitfiebern lassen.

Einen Stuhlrohling in der Weise zu bearbeiten, dass er zum lustvollen und streitbaren Kunstobjekt wird, dass er Gefühle erlebbar macht, begeistert, Menschen zur Freude bringt, zum Nachdenken oder ins Gespräch miteinander, zur Identifikation mit dem Thema, das ist die Aufgabe der Gestalter. Der behutsame, aber selbstbewusste Umgang mit dem Material und deren Einsatz stellt uns vor, zeigt ein Stück unserer Region, die auf Reisen geht und wo auch immer landen wird. Aus vielen individuellen Einzelstücken entsteht eine bunte Reihe von Stühlen, die erst zusammen ein großes Geschenk für die Ärmsten einbringen werden. Wir wollen uns mit tiefer Achtung und ehrlichem Respekt bei Südafrika bedanken.

Ausstellung ab März 2011 in der cité-galerie in Berlin präsentiert im Rahmen der Performance „BLAUER ENGEL“.

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