Dass die Mühlen der Justiz langsam mahlen, ist sprichwörtlich. – Doch könnte es sein, dass die Radikalisierung und der Aufschwung einer verfassungsgefährdenden Partei in Zeiten digitaler Filterblasen und Echokammern so schnell und dynamisch erfolgt, dass die mechanischen »Mühlen der Justiz« alt aussehen und schlicht zu langsam sind, um ihrer Funktion gerecht zu werden?
Einstufung der AfD als Verdachtsfall
Bereits im März 2021 wurde bekannt, dass das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) den Verdacht hegte, die AfD könne rechtsextrem sein. Gegen diese Einstufung ging die AfD juristisch vor. Zunächst bestätigte das Verwaltungsgericht Köln 2022 die Einschätzung der BfV. Das Verfahren ging in die nächste Instanz. Im Mai 2024 fällte das Oberverwaltungsgericht Münster sein Urteil: Die AfD war durch das Bundesamt für Verfassungsschutz zurecht als rechtsextremistischer Verdachtsfall eingestuft worden. Oha! Außerdem sei die Einordnung des »Flügel« als gesichert rechtsextremistische Bestrebung durch das BfV rechtmäßig. Über drei Jahre hatte das Verfahren geschwebt. Über drei Jahre hatte die AfD Zeit, um das Bundesamt für Verfassungsschutz verächtlich zu machen. Als das Urteil im Mai 2024 fiel, hatte sich der »Flügel« offiziell schon aufgelöst. Jedoch geben die extrem rechten Flügel-Politiker inzwischen in der AfD den Ton an. – Dass die AfD zurecht als Verdachtsfall eingestuft wurde, ist nichts Neues. Wirklich bemerkenswert und politisch relevant ist aber, dass der Rechtsstreit über die rechtmäßige Einstufung der AfD als Verdachtsfall (!) über vier Jahre gedauert hatte!
Ein Blick über den Atlantik
Die enorme politische Gefahr, die von jahrelang schwebenden Verfahren ausgeht, kann hervorragend in der jüngsten US-Geschichte studiert werden. War der Capitolsturm eine Verschwörung gegen die USA? Diese Frage kann politisch oder rechtlich geklärt werden. Dabei gibt es eine wichtige Wechselwirkung: Der Strafprozess ist politisch relevant und Trump war sehr geschickt darin, aus dem schwebenden Prozess politisches Kapital zu schlagen. Beide Diskurse unterscheiden sich jedoch sehr stark voneinander: Während die politische Debatte in aller Öffentlichkeit hin und her wogt, fällt die Justiz nach gründlicher Würdigung der Beweislage ein Urteil. – Rückblick: Biden hatte die Präsidentschaftswahl gewonnen und war bei den Midterms recht glimpflich davon gekommen. Eine gewisse Nikki Haley kandidierte gegen den 45. US-Präsidenten um die republikanische Präsidentschaftskandidatur und schlug sich durchaus achtbar. Die ständigen Gerichtstemine sicherten Trump jedoch eine enorme Medienpräsenz. Der angeklagte Ex-Präsident beherrschte die Schlagzeilen. Es wäre überzogen zu behaupten, dass die Bewerberin ohne das schwebende Verfahren ihren innerparteilichen Rivalen vom Platz gefegt hätte. Aber durch die Anklage geriet die Auseinandersetzung um die künftige programmatische Ausrichtung der so genannten Grand Old Party medial völlig ins Hintertreffen. Trump punktete bei seiner Gefolgschaft mit der Endlosschleife des Schlagwortes »Witch Hunt« (Hexenjagd) und die schwächelnde MAGA-Kampagne bekam wieder Aufwind. – Droht ein vergleichbares Horror-Szenario nach der Einleitung eines AfD-Verbotsverfahrens auch in der Bundesrepublik Deutschland?
Bundesverfassungsgericht: Hohe Hürden für Parteienverbote
Zuletzt zeigte sich das BVG eher hartleibig, wenn es um Parteienverbote ging. Das NPD-Verbot scheiterte gleich zwei Mal. Im ersten Anlauf waren V-Leute des Verfassungsschutzes im Parteivorstand das Problem. Eine Sperrminorität der Richter sah darin ein »Verfahrenshindernis«. Es bestehe die Gefahr der »fehlenden Staatsferne« der NPD. Auch im zweiten Anlauf scheiterte das NPD-Verbot, obwohl alle bis dahin gängigen Kriterien für ein Parteienverbot gegeben waren. Die NPD sei zwar »ideologisch eindeutig verfassungswidrig«, aber politisch zu unbedeutend, um sie verbieten zu können. Am Rande sei bemerkt: Die KPD hatte bei der Bundestagswahl 1953 glorreiche 2,2 Prozent geholt und war 1956 dennoch durch das Bundesverfassungsgericht verboten worden. – Was Parteienverbote betrifft, ist das Bundesverfassungsgericht also immer für eine Überraschung gut.
Zurück in die Vergangenheit?
In dritten Teil der legendären Trilogie Zurück in die Zukunft strandet der Zeitreisende Marty McFly in der Vergangenheit. Die Zeitmaschine, ein Auto der Marke DeLorean, ist defekt und kann nicht auf herkömmliche Weise beschleunigt werden. Doc Emmett Brown, der Erfinder der Zeitmaschine, hat sich in der Vergangenheit als Hufschmied niedergelassen und unterstützt seinen Schützling dabei, wieder zurück in die Zukunft zu reisen. In einem spannenden Finale versucht der Erfinder, den DeLorean mithilfe einer Dampflokomotive anzuschieben, um die für die Zeitreise erforderliche Geschwindigkeit zu erreichen. Er heizt mit einer Lok auf einen Abgrund zu. Der Schienenstrang endet abrupt vor einer Schlucht. DocBrowns Kalkül ist bestechend: Wenn der DeLorean einen Zeitsprung macht und die Zukunft erreicht, wird er auf den dann in der Zukunft vorhandenen Schienen den Canyon überqueren. Marty versteht das nicht sofort, so dass der Doc ihn ermahnt, »die vierte Dimension«, die Zeit, mitzubedenken. Natürlich gibt es ein Happy-End: Die Lok stürzt, nachdem sie ihre Pflicht getan hat, hinab in die Tiefe. Doc Brown ist rechtzeitig abgesprungen und jubiliert. Und die Zeitmaschine rollt auf Schienen in der Gegenwart über die Schlucht.
Verschiedene Szenarien zum AfD-Verbotsverfahren
Wegen der langen Verfahrensdauer sollte »die vierte Dimension« unbedingt auch beim AfD-Verbotsverfahren mitgedacht werden. Wie wird das Bundesverfassungsgericht in drei, vier, fünf oder sechs Jahren über ein AfD-Verbot entscheiden? Vielleicht gibt es einige Skandale und die AfD fällt auf 2,2 Prozent? Würde das Verbotsverfahren dann an der politischen Bedeutungslosigkeit scheitern? Vielleicht wird die AfD versuchen, bis zu einem Urteilsspruch neben Schnitzeln und Würsten auch große Mengen Kreide zu essen? Vielleicht hat die AfD sich bis zum Urteilsspruch auch längst aufgelöst und eine Nachfolgepartei gegründet? Sahra Wagenknecht hat vorgeführt, wie schnell das gehen kann. Die Auflösung der gesichert rechtsextremistischen Jungen Alternativen und des so genannten »Flügel« könnten ein Fingerzeig sein, dass die AfD im Wettlauf mit den Sicherheitsbehörden lieber der Hase sein möchte als der Igel.
Die politischen Folgen eines Verbotsverfahrens
Sobald Bundestag, Bundesrat oder Bundesregierung einen Verbotsantrag stellen, beginnt ein juristisches Verfahren, das der politischen Debatte für einige Jahre einen völlig anderen Spin verleihen wird. Das Urteil des BVG ist eine Wundertüte. Doch im Hinblick auf die politischen Folgen der Einleitung eines Verbotsverfahrens gibt es einige Indizien, in welche Richtung die Reise gehen könnte: Jens Spahn hatte im April in der Bild-Zeitung dafür geworben, »mit der AfD als Oppositionspartei so umzugehen in den Verfahren und Abläufen wie mit jeder anderen Oppositionspartei auch«. In der Folge nahm die öffentliche Debatte über den Umgang mit der AfD im Parlament Fahrt auf. Nach der Einstufung als gesichert rechtsextremistisch durch das Bundesamt für Verfassungsschutz Anfang Mai war die von Spahn losgetretene Debatte tot. Ein AfD-Verbotsverfahren wird aller Wahrscheinlichkeit nach innerhalb der Union das merkelige Mitte-Lager stärken.
Interessant ist auch die Reaktion des ehemaligen AfD Bundestagsabgeordneten Sieghard Knodel auf die Höherstufung der AfD als gesichert rechtsextrem. Knodel, frisch wiedergewählt, trat aus Partei und Fraktion aus, um sein »privates und geschäftliches Umfeld« zu schützen. Gleichzeitig fügte er an, dass er diesen Schritt »sehr ungerne gehe«. – Das Engagement in einer gesichert rechtsextremen Partei, gegen die ein Verbotsverfahren läuft, bietet keine stabile Perspektive und ist für die Abgeordneten und Mandatsträger:innen offenbar mit hohen Kosten verbunden.
Demokratie-Debatte: Gerne doch!
Die AfD wird sich nach der Einleitung eines Verbotsverfahrens geübt in die Opfer-Pose werfen und auf allen Kanälen in die Welt pusten, dass ein Parteienverbot undemokratisch wäre. Aber muss die demokratische Mitte diese Debatte fürchten? Demokratie kann doch nicht auf das Mehrheits- und Repräsentationsprinzip reduziert werden. Die freiheitlich-demokratische Grundordnung des Grundgesetzes entfaltet eine viel umfassendere Idee unseres Gemeinwesens: Unantastbare Menschenwürde, freie Entfaltung der Persönlichkeit, Rechtsstaatlichkeit … Der Staatsbürgerschaftsbegriff des Grundgesetzes hat nichts mit dem völkischen Rassismus der Marke »Blut und Boden« zu tun. – Die Debatte über ein AfD-Verbot ist, im Gegensatz zu den personalisierten Strafprozessen in den USA, eine Sachfrage und die AfD ein Schein-Riese, ein One-Hit-Wonder ohne politische Substanz.
Ein Blick in die Zukunft …
Die Rechtsanwältin Angela Furmaniak weist im taz-Talk auf eine interessante juristische Fachdebatte hin: Es gibt die Position, dass sich aus dem Grundgesetz eine »Pflicht« ableiten lässt, unter bestimmten Voraussetzungen ein Parteienverbotsverfahren einzuleiten. Auf dieser Linie argumentiert beispielsweise der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Wüst:
»Wenn die Voraussetzungen dafür da sind, wenn klar ist dass diese Partei (…) diesen demokratischen Staat in seinen demokratischen Grundfesten bekämpft, dann, finde ich, darf es keinen Zweifel geben, dann müssen wir, diese Generation Politiker, auch dem Auftrag des Grundgesetzes folgen, ein Verbot anstreben. Aber es muss eben niet- und nagelfest sein. Und das dauert. Das haben wir früher gesehen. Das dauert drei, das dauert fünf Jahre …« (Hendrik Wüst, NRW-Ministerpräsident)
An anderer Stelle spricht Wüst sogar von einem »Befehl« des Grundgesetzes. Sollte das Eilverfahren die Einstufung der AfD als »gesichert rechtsextrem« durch den Verfassungsschutz bestätigen, wird der politische Druck zunehmen, ein Verbotsverfahren einzuleiten. Die Argumentationsfigur, diese genuin politische Entscheidung mit der Erfüllung einer Pflicht gleichzusetzen, könnte viele Skeptiker:innen eines AfD-Verbotsverfahrens davon überzeugen, doch zuzustimmen. Wüst stilisiert das AfD-Verbot geschickt zu einer Generationenfrage, so dass Friedrich Merz riskiert, mit einer Ablehnung als Mann von gestern dazustehen.
Das AfD-Verbotsverfahren ist eine Frage der Zeit.
Interessante Links
- Taz-talk zum AfD-Verbot (YouTube).
- NPD-Verbotsverfahren (2013-17) in der Wikipedia.
- Hendrik Wüst zum AfD-Verbot, WDR-Interview am 4.5.25 und in einem Volksverpetzer-VideoClip auf Instagram vom 9.Mai 2025.
Bildnachweis
Eigene Collage:
- Elisa: Verkehrsschild via Unsplash.
- AfD-Logo (gemeinfrei) via Wikipedia.