vonDarius Hamidzadeh Hamudi 28.04.2023

Zylinderkopf-Dichtung

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Als „Sternstunde des Parlamentarismus“ werden gewöhnlich Debatten bezeichnet, in denen die Abgeordneten unabhängig von ihrer Parteizugehörigkeit nur ihrem Gewissen folgen. Wenn mal wieder ein Länderchef gewählt wird, ist mit einer solchen „Sternstunde“ zwar nicht zu rechnen, aber in Sachen Fraktionsdisziplin gibt es durchaus Parallelen. Diese ist zwar nicht aufgehoben, aber wenn Abgeordnete aus der Reihe tanzen, können sie dafür kaum sanktioniert werden. Die Abstimmung ist geheim. Kai Wegner brauchte drei Anläufe, um zum Regierenden Bürgermeister gewählt zu werden. Die Ergebnisse der drei Wahlgänge werfen interessante Fragen auf.

Welche Motive hatten die Abweichler:innen?

Fünfzehn im ersten und sieben Abweichler:innen im zweiten Durchgang deuten daraufhin, dass es in den Reihen der Regierungsfraktionen viel Unzufriedenheit gibt. Was waren die Motive?

  • Wollten die Abweichler:innen Franziska Giffey in die Wüste schicken und um jeden Preis Kai Wegner als Regierungschef verhindern? (A)
  • Oder ging es nur um einen kleinen Denkzettel, weil der eine oder die andere enttäuscht darüber war, kein Regierungsamt erhalten zu haben? (B)

Letzteres kommt öfter vor. Nach der letzten Bundestagswahl durfte sich Anton Hofreiter als grüner Fraktionsvorsitzender ebenso Hoffnungen auf einen hochrangigen Regierungsposten machen wie der Staatsminister im Auswärtigen Amt, Michael Roth. Auch die Verteidigungspolitikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann hält sich selbst für ministrabel, was sie in einer Büttenrede verkündete. Der Rest ist bekannt: Das Trio ging leer aus, formierte sich zu einer Art mobilen Baustellen-Ampel und rollte in der Ukraine-Politik wie eine lose Kanone über das Deck des Regierungsdampfers, bis Pistorius kam, sah und lieferte.

Handelte es sich gestern um Abweichler:innen des Typs A oder B? Daran schließt sich die noch wichtigere Frage an: Gab es ausreichend viele, zu allem entschlossene Abweichler:innen, die Kai Wegner bewusst die politische Gefolgschaft verweigern wollten? – Leider gibt es auf diese Fragen keine sichere Antwort.

Lügt die AfD? Oder neutralisiert sie sich selbst?

Die AfD hat sich verzockt. Hätte sie geschlossen mit Nein gestimmt, hätte sie vielleicht Wegners Wahl platzen lassen können. Hätte sie geschlossen mit Ja votiert, wäre es nicht zu leugnen gewesen, dass der neue Regierende Bürgermeister Stimmen der AfD erhalten hat. Dann wäre auch mit einer gewissen Plausibilität nachzuvollziehen gewesen, ob es AfD-Stimmen waren, die Wegner ins Amt hievten.

Die Fraktionsvorsitzende meinte gegenüber der Deutschen Presseagentur, ungefähr die Hälfte der 17köpfigen AfD-Fraktion habe für Wegner gestimmt. Falls das zutrifft, war es ein Schuss in den Ofen. Denn insgesamt kam der neue Landeschef ausgerechnet auf 86 Ja-Stimmen. 86 Regierungskoalitionär:innen, 86 Ja-Stimmen. Das war natürlich eine Steilvorlage für Schwarz-Rot, prompt eine eigene Mehrheit für sich zu reklamieren.

In einer Presseerklärung fabuliert die AfD  allen Ernstes über ihre „gesamtstädtische Verantwortung“, fügt an, sie könne bei der Regierungsbildung als „stabilisierender Faktor“ wirken und empfiehlt sich der CDU als Koalitionspartner. Das ist in doppelter Hinsicht fragwürdig: Der Fall Kemmerich zeigt, dass die AfD ihre Stimmen bewusst einsetzt, um die vielfach geschmähten (Achtung: AfD-Jargon) „Altparteien“  zu beschädigen. Außerdem: Wenn eine 17köpfige Fraktion in einer derart grundlegenden Personalfrage nur ungefähr zur Hälfte zustimmt, entbehrt es nicht einer unfreiwilligen Komik, sich im gleichen Atemzug als potenzieller Koalitionspartner und Stabilitätsanker zu bezeichnen.

Und jetzt?

Im zweiten Wahlgang gab es sieben Abweichler:innen. Vielleicht wollten sie Wegner und Giffey nur einen Denkzettel geben und haben im dritten Wahlgang mit Ja gestimmt, dann hätte die AfD gelogen. Vielleicht wollten sie aus politischen Gründen Schwarz-Rot verhindern und haben diesen Plan auch im dritten Wahlgang durchgezogen, dann wurde dieses Vorhaben ausgerechnet von den Querschüssen der AfD unterbunden. – Stellen diese Berliner Sieben künftig eine Gefahr für die Stabilität der Regierung dar? Eher nicht. Im parlamentarischen Alltag wird nicht geheim abgestimmt, so dass die Fraktionsdisziplin wieder greifen dürfte. Sternstunden sind selten.

 

Beitragsbild von EvgeniT via pixabay, vielen Dank.

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