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vonDarius Hamidzadeh Hamudi 17.07.2024

Zylinderkopf-Dichtung

Essays, Glossen, Kommentare und Neuigkeiten aus der Menagerie der kleinen Literatur.

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»Als postfaktische Politik wird ein politisches Denken und Handeln bezeichnet, für das Fakten irrelevant sind. Der emotionale Effekt einer Aussage vor allem auf die eigene Zielgruppe gilt dabei als wichtiger als ihr Wahrheitsgehalt. Zu den Mitteln dieser Politik gehören offensichtliche Lügen ebenso wie die Flutung des Diskursraumes mit irrelevanten Fakten zur Ablenkung vom Wesentlichen.«  (Wikipedia)

Vor wenigen Wochen fand das erste TV-Duell von Biden und Trump statt. Ich habe es mir in deutscher Synchronisation angesehen. Auf der einen Seite steht Joe Biden, ein respektabler und erfolgreicher Präsident. Man sieht ihm zwar sein Alter an, doch die deutschen Simultan-Übersetzung verwandelt Bidens heiseres Flüstern in eine plausible Agenda für die kommenden Jahre. Auf der anderen Seite steht Donald Trump, der Archetyp des alten weißen Mannes, und redet daher, wie man es von einem alten weißen Mann erwartet.

Zorn und Hass als Markenzeichen 

Ist es vielleicht ein Fehler, putzige Dinos wie Thomas Gottschalk wegen ein paar flapsiger Sprüche mit alten weißen Männern der Marke Trump in einen Topf zu werfen? Hat das nicht letztendlich zur Folge, dass der Entertainer mit Sätzen wie Inzwischen-rede-ich-zu-Hause-anders-als-im-Fernsehen Wasser auf die Mühlen der AfD spült? Stellt es nicht eine Verharmlosung der Gefahr dar, die von echten alten weißen Männern ausgeht?

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Trump trug beim TV-Duell sein charakteristisches dezent orangefarbenes Make-up. Die zusammengekniffenen Augenschlitze versprühten in erschreckender Weise Zorn und Hass. Doch davon war in der Nachlese des TV-Duells ebensowenig die Rede wie von den vielen Lügen, die Faktenchecker hinterher auflisteten. Dass Trump lügt, hetzt und Verschwörungstheorien verbreitet, ist längst eingepreist und besitzt wenig Nachrichtenwert. Stattdessen betonen die Kommentatoren im Kontrast zum amtierenden Präsidenten die Vitalität und Virilität des Kandidaten Trump.

Virale Videoschnipsel erschaffen eine neue Form von Öffentlichkeit 

Die Kampagne der Republikaner zielt auf Bidens Alter. Deshalb sind die präsidialen Aussetzer auch so fatal, weil sie geeignet sind, das von den Republikanern kultivierte Bild des hinfälligen Greises im Weißen Haus vermeintlich zu bestätigen. Ein besonders gehässiger Clip geht in den so genannten  »sozialen« Medien unter dem Titel White House Senior Living viral. In dem gefaketen Werbeclip wird der Präsidentensitz als Seniorenresidenz beworben. Bilder eines gebrechlichen Joe Biden werden gezeigt, der sich über italienisches Essen und Eiscreme freut. Das kurze Hetzvideo hat einen gewissen Unterhaltungswert und schließt mit dem Slogan: Where Residents feel like Presidents.

Ist in den USA eine stille Revolution in Gang?

Trumps Populismus hat sich über die Jahre hinweg kaum verändert. Der Multimillionär geriert sich als Mann des Volkes. Mal macht er die politischen Eliten der Hauptstadt verächtlich: Wir gegen die da oben! Mal stilisiert er illegale Migration zum einzigen Problem auf Gottes weitem Erdenrund: Wir gegen die anderen!  Ob Klimakrise oder Covid-Pandemie, kein Menschheitsproblem ist zu wichtig, um nicht geleugnet und verhetzt zu werden. Die gestohlene Wahl und der deep state, keine Verschwörungstheorie ist zu hanebüchen, um damit nicht die verblendete Basis bei Laune zu halten.

Das ist alles nicht neu. Neu und wirklich besorgniserregend ist aber, wie sich die politischen Gewichte  allmählich verschieben. 2016, als Trump zum Präsidenten gewählt wurde, hatte er bis dahin noch kein öffentliches Amt bekleidet. Alle Beobachter:innen und auch seine republikanischen Parteikolleg:innen hatten ihn völlig unterschätzt. Niemand hätte damit gerechnet, dass seine abstruse Mischung aus notorischen Lügen, nationalistischer Kraftmeierei und Hillary-Bashing ausreichen würde, um Massen zu mobilisieren. Gegen eine starke Gegenkandidatin hätte Trump nicht den Hauch einer Chance gehabt. 2020 mussten die Demokraten mit Joe Biden einen erfahrenen Politiker aufbieten, um eine breite Koalition gegen Trump zu schmieden. Nach hiesigen Maßstäben repräsentierte Biden mehr oder weniger das gesamte demokratische Parteienspektrum jenseits der AfD und konnte dennoch nur einen knappen Sieg erringen. Es zeichnet sich ab, dass das postfaktische Lager 2024 nochmals zugelegt haben könnte, und zwar nicht trotz des Kapitolsturms und der Gerichtsverfahren, sondern deswegen.

Donalds verheißungsvoller Bullshit

Take back control lautete der Slogan, mit dem die Brexit-Befürworter ihr Referendum gewannen. Weltweit haben Kontrollverlust und Abstiegsängste sich auch in der Mittelschicht eingenistet. Viele Amerikaner:innen sind »lost«, zu schnell ist der Wandel über sie hinweggebrettert. Trump gibt ihnen Zuversicht und Orientierung. Seine Feindbilder reduzieren die Komplexität. Außerdem versteht er wie kein zweiter, die geschundene Seele der Massen zu streicheln. Zum einen genügt eine Anmeldung bei Truth Social, um Zugang zum Kreis der Eingeweihten zu erhalten und die geheime Wahrheit hinter den Dingen zu erfahren. Zum anderen ist da diese Verheißung, die angeschlagene und von China herausgeforderte Großmacht würde sich unter Trumps Führung wieder zu alter Stärke aufschwingen. Dabei ist Make America Great Again längst viel mehr als ein Slogan, den man dekorativ auf T-Shirts und Baseballmützen drucken kann. MAGA bietet Zugehörigkeit, Teilhabe sowie eine ganze Produkt- und Erlebniswelt inklusive einer eigenen Dating-App.

Ein Bild, zwei Geschichten

Als gäbe es nicht schon genug Probleme, befindet sich jetzt auch noch dieses Foto im Umlauf: Es zeigt Donald Trump als Opfer eines Attentats. Die Secret Service Agenten versuchen ihn in Sicherheit zu bringen. Obwohl er selbst und auch seine ihn schützenden Wachleute womöglich noch immer in Lebensgefahr schweben könnten, nimmt sich der abgewählte Präsident ein bisschen Zeit, um für ein Siegerfoto theatralisch seine geballte Faust in den Himmel zu strecken. Das orangefarbene Make-up des erstinstanzlich verurteilten Straftäter hält, obwohl ein Tröpfchen Blut darüberrinnt. Im Hintergrund wehen Stars and Stripes.

Der Schnappschuss stellt die perfekte Illustration von Trumps postfaktischen Traumschlössern dar: Hat nicht Gott selbst seine schützende Hand über den unbeugsamen Kämpfer gehalten? Keine gestohlene Wahl, keine korrupte Justiz, nicht einmal ein Attentat kann den Auserwählten aufhalten bei seiner Mission, Amerika wieder groß zu machen. – Natürlich ist das Bullshit, aber es ist zauberhaft schöner Bullshit, wenn man denn daran glauben mag.

Die Debatte über das »Bullshit-Foto« in der deutschen Öffentlichkeit 

Friedrich Merz folgt bei seiner Analyse des Attentats einer postfaktischen Logik: »Dieser Wahlkampf wird mehr als jeder andere vorher mit Bildern entschieden. Und die Bilder, die es jetzt gibt, auf der einen Seite von Joe Biden, der gebrechliche Präsident, und auf der anderen Seite Donald Trump nach diesem Attentat heute Nacht, trotzdem mit erhobener Faust und Blut an der Seite, die amerikanische Flagge über sich, das sind so Heldengeschichten, die in Amerika gern erzählt werden.« Leider tritt sogar die Süddeutsche Zeitung diese vermeintliche Heldengeschichte  breit und schwärmt von Trumps »Eingebung«, im richtigen Moment eine »Siegerfaust« geballt zu haben. Weiter heißt es: »Aus der Froschperspektive sieht der Mann, dem dieser Mordversuch galt, da wie ein furchtloser Freiheitskämpfer aus. (…) Dieser Wahlkampf hat jetzt einen Märtyrer.« Sigmar Gabriel bezeichnet das Bild als »ikonografisch«. Er scheint sich in diesem Moment nicht dessen bewusst gewesen zu sein, dass es Statements wie sein eigenes sind, die eine Fotografie tatsächlich zu einer Ikone stilisieren, obwohl deren Aussage keinen größeren Wahrheitsgehalt aufweist als Münchhausens Ritt auf der Kanonenkugel.

Auch seriöse Politiker und Medien fangen also an, die Wirklichkeit mit postfaktischen Maßstäben auszumessen, nach denen die Suggestionskraft eines Bildes alles, doch der Wahrheitsgehalt der Bildaussage nichts ist. Es zählen allein die hervorgerufenen Emotionen. Offensichtlich ist etwas ins Rutschen geraten, auch diesseits der Brandmauer im nicht-postfaktischen Lager. Schlimm ist, dass bereits postfaktische Einordnungen der Marke Merz hochpolitisch sind und die Kraft haben, den Lauf der Dinge im Sinne von sich selbst erfüllenden Prophezeihungen zu steuern. Wer dieses Bild ikonisiert, rollt Trump den roten Teppich ins Weiße Haus aus. Bernd Pickert kehrt in der taz zurück auf den Boden der Tatsachen und macht den entscheidenden Punkt: »Es war Trump, der 2016 auf einer Wahlkampfbühne ausrief, wenn seine Anhänger einen einzelnen Protestierenden aus dem Saal prügeln würden, würde er die Anwaltskosten übernehmen. Und das war nur der Anfang einer militanten Rhetorik, die am 6. Januar 2021 im gewaltsamen Sturm aufs Kapitol endete.« Auch wenn das vielbeachtete Foto etwas anderes suggeriert: In aller Regel ist Donald Trump kein Opfer politischer Gewalt, sondern ihr Urheber.

Wie kann die Epidemie des Postfaktischen eingedämmt werden?

Was ist los mit der amerikanischen Öffentlichkeit? Wie kann es sein, dass mit Donald Trump ein Kandidat vorne liegt, der allen Ernstes mit einem Blutbad droht, sollte er die Wahl verlieren? Schlittern wir in Europa auf derselben schiefen Ebene hinterher? Vor allem: Wie kann es gelingen, den postfaktischen Bullshit zurückzudrängen und den politischen Diskurs künftig wieder stärker, möglichst ausschließlich faktenbasiert an der Wirklichkeit auszurichten?

Politische Bildung täte sicher not und die Regulierung der Algorithmen sogenannter »sozialer« Medien wäre auch überfällig. Bei der Bekämpfung der Schwurbler laufen sachliche Argumente leider ins Leere. Vielleicht sollten Demokrat:innen die postfaktischen Kräfte mit viel Humor auf die Schippe nehmen und noch viel größeren Blödsinn in die Welt pusten? – Dass Olaf Scholz seine alte Aktentasche auf tiktok präsentiert, ist ein erster Schritt, aber wohl noch nicht der Weisheit letzter Schluss.

 

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