vonDarius Hamidzadeh Hamudi 20.09.2024

Zylinderkopf-Dichtung

Essays, Glossen, Kommentare und Neuigkeiten aus der Menagerie der kleinen Literatur.

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Nach dem Messeranschlag von Solingen stand Deutschland unter Schock. Bundespräsident Steinmeier höchstpersönlich spendete den Angehörigen auf der Trauerfeier Trost. Zunächst schien es, als würde er den Ton treffen: »Die Worte fallen mir heute schwerSchmerz … Entsetzen … Die Bluttat von Solingen galt uns allen … dasselbe zynische Kalkül, das auch die Mörder von Walter Lübcke und schon die Täter von Solingen vor 30 Jahren antrieb.« – Bravo, Herr Bundespräsident!

»Wir sind aus gutem Grund ein Land, das Menschen aufnimmt, die Schutz vor politischer Verfolgung und Krieg suchen. Wir vergessen nicht, dass im letzten Jahrhundert viele Deutsche die NS-Zeit nur überlebt haben, weil andere Länder ihre Türen offen gehalten und Humanität gezeigt haben.« Asylrecht? In einer Trauerrede? Ist da vielleicht ein präsidialer Satzbaustein verrutscht? – »Wir werden dieses Land nur bleiben, wenn Schutzsuchende sich an Recht und Gesetz unseres Landes halten.« – Wie bitte? Und dann ließ Steinmeier seine Bombe platzen: »Wir müssen jede Anstrengung unternehmen, um die Zugangsregeln, die es gibt und die, die wir gerade zusätzlich schaffen, umzusetzen.« – Oha! Kurz danach tickerten die Agenturen: »Bundespräsident Steinmeier fordert in Solingen Regeln zur Begrenzung der Migration«. Kaum zu glauben, aber wahr: Steinmeier hatte sich anlässlich einer Trauerfeier (!) zur Migrationspolitik geäußert und somit allen vorangestellten Differenzierungen zum Trotz die Themen Migration und Terrorismus verknüpft. Das ist nicht nur taktlos, sondern brandgefährlich.

Othering: eine Form des Alltagsrassismus

Jedes Mal, wenn Terroristen den Islam missbrauchen, um blutigen Terror vermeintlich zu legitimieren, schwappt eine Woge von Islamfeindlichkeit und Rassismus über die Lande. Ich habe nicht gezählt, wie oft ich nach dem Terroranschlag vom 11. September 2001 von irgendeinem überaus originellen Scherzbold gefragt wurde, ob ich denn wohl auch ein »Schläfer« sei.  Natürlich haben viele seither gelernt, dass solche Witze ebenso ausgrenzend sind wie der folgende, oft erprobte Standarddialog: »Woher kommst du?« »Bin in Hessen zur Schule gegangen.« »Nee, woher kommst du eigentlich?«

Der Begriff »Othering« (englisch: »other«, »otherness«) beschreibt die mehr oder wenige subtile Abgrenzung einer Gruppe von den »Anderen«. Im Deutschen werden auch die Begriffe »Alterisierung« und »Andersmachung« verwendet. Menschen, die nicht ins stereotype Raster passen, bekommen zu spüren, dass sie nicht selbstverständlicher Teil des »Wir« sind. Nicht nur Migranten:innen und ihre Nachkommen sind von »Othering« betroffen. Auch über »Ostdeutschland« wird beispielsweise oft gesprochen, als handle es sich noch immer um die Sowjetische Besatzungszone.

Überhitzte Debatte

Steinmeiers präsidiales Statement in Solingen befeuerte einen beispiellosen migrationspolitischen Überbietungswettbewerb im Vorfeld der jüngsten Landtagswahlen. Merz pochte unerbittlich auf Zurückweisungen.

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Söder verbreitete gemäß Reem Alabali-Radowan (SPD) »rechtspopulistische Narrative, die wir sonst nur von der AfD kennen.« Wenig überraschend lässt die Union den »Migrationsgipfel« mit großem Hallo platzen. Dass der brandenburgische CDU-Innenminister kurz vor der Landtagswahl die Abschaffung des Asylrechts fordert, ist weniger überraschend als die Tatsache, dass er es dieser Tage damit in die Tagesschau geschafft hat. Die AfD reibt sich die Hände und kann ihr Glück kaum fassen.

Und unser Staatsoberhaupt? Inzwischen scheint auch Steinmeier aufgefallen zu sein, dass es vielleicht nicht zielführend gewesen sein könnte, eine Trauerfeier zum Anlass zu nehmen, um pauschal die Gesetzestreue von Schutzsuchenden anzumahnen. Knapp zwei Wochen später, beim Bürgerfest in Schloss Bellevue verkündete er: »Wer ganze Gruppen unserer Gesellschaft unter Generalverdacht stellt, (…) der löst keine Probleme, sondern der handelt unverantwortlich und schadet unserer freiheitlichen Demokratie.« – Vielen Dank, Herr Bundespräsident!

Diversität-und-Vielfalt oder Blut-und-Boden?

Die Themenkomplexe Migration/Integration auf der einen und Flucht/Asyl auf der anderen Seite müssen unbedingt differenziert voneinander betrachtet werden. Politisch und pseudo-religiös motivierte Gewalt sind wiederum gesonderte Phänome. Der Rechtspopulismus wirft alles in einen Topf und erklärt die Migration zur »Mutter aller Probleme« (Horst Seehofer). Rechtsextreme Gruppierungen und Parteien knüpfen daran an und erzeugen durch ihre Hetze ein gesellschaftliches Klima, das Integration nicht nur erschwert, sondern sogar etwaige Integrationserfolge wieder zurückdreht. Desintegration wiederum ist eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass Menschen sich in sozialen Medien radikalisieren und der Hasskriminalität zuneigen ein Teufelskreis.

Die AfD beherrscht ihr Handwerk, sie ist die ungekrönte Königin der gesellschaftlichen Spaltung. Seite an Seite mit ihr befinden sich völkisches Blut-und-Boden-Denken und irrwitzige Vorstellungen von einem homogenen Volkskörper wieder auf dem Vormarsch, Stichwort »Remigration«. Das bedroht nicht nur unsere Demokratie, sondern auch die Prosperität und Attraktivität des Wirtschaftsstandortes Deutschland. Nicht umsonst warnen Ökonomen verschiedener Couleur wie Marcel Fratzscher und Michael Hüther vor der so genannten »Alternative für Deutschland«. Statt Rechtsextremen hinterher zu hecheln, ist es höchste Zeit, ihnen die Stirn zu bieten und eine Lanze für Vielfalt und Diversität zu brechen, auch und gerade in Thüringen, Sachsen und Brandenburg.

Bild: pixabay

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