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vonDarius Hamidzadeh Hamudi 30.07.2024

Zylinderkopf-Dichtung

Essays, Glossen, Kommentare und Neuigkeiten aus der Menagerie der kleinen Literatur.

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J.D. Vance‘ Hillbilly-Elegie erschien 2016 und wurde damals begeistert aufgenommen. Jennifer Senior bezeichnete die Autobiografie des damals 32jährigen in der New York Times als »mitfühlende, anspruchsvolle soziologische Analyse der weißen Unterschicht«. Die Süddeutsche Zeitung gab Vance in einem Interview viel Raum, um seine Einsichten zum Besten zu geben und inszenierte ihn wie einen ausgewiesenen USA-Experten. Das große Interesse an der Hillbilly-Elegie verwundert nicht, schließlich hielt das Buch Antworten auf die Frage aller Fragen bereit, die damals die Öffentlichkeit beschäftigte: Wie konnte Trump die Präsidentschaftswahl gewinnen? 

2016 hatte Vance im SZ-Interview bekannt, nicht für Trump stimmen zu wollen. Sieben Jahre später kandidiert er als Trumps Running Mate für das Amt des Vizepräsidenten. Vor diesem Hintergrund habe ich Hillbilly-Elegie zum ersten Mal gelesen.

1. Vance pflegt den Mythos des Underdogs

Gleich zu Beginn der Hillbilly-Elegie reklamiert J.D. Vance für sich, zu den absoluten Underdogs zu gehören: »Ich bin zwar weiß, aber ich identifiziere mich nicht mit den WASPs – den weißen angelsächsischen Protestanten des Nordostens. Ich identifiziere mich eher mit den Millionen von weißen Arbeitern ulster-schottischer Herkunft, für die ein Studium nie in Frage kam. Für diese Menschen ist Armut Familientradition« (S.9). Dass ausgerechnet seine heiß geliebte Großmutter ihrem Enkel den Wert und die Bedeutung von Bildung nahebrachte (S.172), stellt einen gewissen Widerspruch dazu dar, aber was soll’s. Folgen wir Vance‘ Ausführungen, sind die weißen Arbeiter eigentlich noch schlimmer dran als Latinos oder Schwarze, da sie gemäß Umfragen »die pessimistischste Gruppe in ganz Amerika« sind (S.11). Armer J.D.!

Bei kritischer Lektüre der Hillbilly-Elegie fällt jedoch auf, dass J.D. Vance, der arme Ulster-Schotte aus einfachen Verhältnissen, sehr oft protegiert wurde: Da waren nicht nur »zwei, drei Lehrer«, die ihn nicht abschrieben, sondern »dazu inspirierten, mit Freude zu lernen« (S.175).

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Da gab es auch personalverantwortliche Vorgesetzte bei den Marines, die ihm trotz seines niederen Dienstranges für ein dreiviertel Jahr zum Medienverbindungsoffizier beriefen (S.202). Nicht zu vergessen ist die Professorin Amy Chua, die Vance in seiner Zeit als Yale-Student im Hinblick auf seine Karriereplanung coachte (S.249ff). Zu Vance‘ Förderern zählt auch der libertäre Tech-Milliardär Peter Thiel und last but not least Donald Trump himself. Hätte ein Mitglied der lateinamerikanischen oder der schwarzen Community ebensoviel Protektion erhalten wie dieser groß gewachsene, weiße Mann mit blauen Augen und britischem Namen? J.D. Vance soziale Herkunft mag in mancherlei Hinsicht benachteiligt gewesen sein. Vieles spricht aber dafür, dass er dennoch von gängigen WASP-Privilegien profitieren konnte.

2. Vance ist ein demagogischer Geschichtenerzähler 

In der Hillbilly-Elegie beweist J.D. Vance eine große Meisterschaft darin, die Emotionen und das Mitgefühl der Leserschaft in seinem Sinne zu lenken. Aus der Perspektive des kleinen J.D. werden die Suchtkrankheit der Mutter und ihr komplettes Versagen als Erziehungsperson und Krankenschwester plastisch geschildert. Den familiären Gegenpol stellt die schier unerschöpfliche Liebe seiner Großmutter dar, von J.D. stets »Mamaw« genannt. Natürlich glauben seine Großeltern, diese einfachen, aber rechtschaffenen Hillbillys, »dass harte Arbeit mehr zählt als alles andere« (S.46). Dass J.D.s heiß geliebte Mamaw ihren betrunkenen Mann mit Benzin übergossen und angezündet hatte (S.53), stellt für Vance nur eine Fußnote dar. Hätte Papaw weniger getrunken, hätte Mamaw ihn ja auch nicht anzünden müssen, oder?

Doch bei genauerem Hinsehen erweist sich die Anlage der Hillbilly-Elegie als höchst fadenscheinig. Durch das ganze Buch hinweg stilisiert Vance sich als Hillbilly, als unterprivilegierten Ulster-Schotten mit Südstaatenakzent, der im tiefsten Herzen noch immer in Kentucky zu Hause ist. Tatsächlich waren bereits Vance‘ Großeltern nach Ohio gezogen. Vance ist keinesfalls als Hinterwäldler in den Apalachen aufgewachsen, sondern in zweiter Generation in Middletown, einem Vorort der Metropole Cincinnati. Auch Vance‘ Ausführungen zur Mentalität des Hillbillys an sich erweisen sich bei genauerem Hinsehen als grobe Verallgemeinerung, da er 13 Staaten über einen Kamm schert, in denen 26,4 Millionen Menschen leben. Nichtsdestotrotz liest sich JD’s hinterwäldlerische Idylle putzig und unterhaltsam. Sein Grundton lautet: So sind wir halt, wir Hill-People, stets loyal, ein bisschen gewalttätig, aber mit dem Herz am rechten Fleck.

Doris Simon (Deutschlandfunk) hat J.D. Vance im Wahlkampf um einen Senatssitz in Ohio auch bei kleineren Wahlveranstaltungen beobachtet und lobt seine rhetorischen Fähigkeiten. Vance könne unheimlich gut reden. Egal ob es sich bei seinem Publikum um gebildete, ungebildete oder reiche Leute handele, Vance könne sich auf alles einstellen. »Der trifft den Ton wie wenige andere.« Das sei eine seiner großen Begabungen.

3. J.D. Vance begreift Armut als selbstverschuldete Folge persönlicher Defizite

Im Interview mit der Süddeutschen Zeitung antwortet J.D. Vance 2016 auf die Frage nach den Gründen für die Krise: »Der Hauptgrund ist wohl die schlechte Wirtschaftslage im Rostgürtel.« Das ist bemerkenswert und spricht mal wieder für seine chamäleonartige Anpassungsfähigkeit. Im Vorwort seiner Hillbilly-Elegie bezeichnet er hingegen die Aushöhlung der industriellen Grundlage des Mittleren Westens »bestenfalls« als einen »Teil der Erklärung« (S.14). Stattdessen klagt er die Hillbillys in ätzender und stigmatisierender Weise an:

»Wir kaufen riesige Fernseher und iPads auf dem Weg ins Armenhaus. Unsere Kinder tragen schicke Klamotten dank unserer Kreditkarten und der Notkredite, die man zu Wucherzinsen an jeder Ecke bekommt. (…) Sparsamkeit ist uns im Innersten zuwider. Wir geben Geld aus und tun so, als gehörten wir zur Oberschicht. (…) Wir wissen, dass wir so nicht mit Geld umgehen sollten. Manchmal machen wir uns deswegen Vorwürfe, aber ändern tut das nichts. In unseren Häusern herrscht Chaos. (…) Mindestens ein Familienmitglied ist drogenabhängig. (…) Wenn es gerade besonders stressig ist, schlagen wir uns gegenseitig, immer vor versammelter Familie einschließlich der kleinen Kinder. (…) In unserer eigenen Kindheit lernen wir nicht für die Schule, und als Eltern sorgen wir nicht dafür, dass unsere Kinder lernen. (…) Wir sollten uns Arbeit suchen, aber wir haben keine Lust. Manchmal kriegen wir auch einen Job, aber der währt nicht lang. Wir werden gefeuert, weil wir immer zu spät kommen oder weil wir Ware klauen und dann bei Ebay verkaufen, oder weil sich ein Kunde über unsere Alkoholfahne beschwert hat …« (168-170).

Dass solches Unterschicht-Bashing bei Konservativen zieht, kann man sich gut vorstellen. Rhetorisch perfide ist, dass J.D. Vance gleichzeitig relevante sozialpsychologische Erklärungsansätze wie den der »erlernten Hilflosigkeit« – ein resignatives Selbstkonzept, das mit Passivität und Antriebslosigkeit einhergeht – nennt, jedoch ohne die gesellschaftspolitische Relevanz gelten zu lassen. Außerdem suggeriert Vance durch die Wir-Form eine persönliche Nähe zu unterprivilegierten Milieus, die er tatsächlich vor allem dazu missbraucht, um seine eigene Lebensleistung in noch hellerem Licht erstrahlen zu lassen. J.D. Vance‘ Form der Elegie ist das Anklagelied.

4. Vance‘ Opportunismus ist tief in seiner Biografie verankert

Auf Seite 20/21 schildert J.D., wie er mit den wechselnden Partnern seiner Mutter umzugehen pflegte, »und ich machte meine Sache gut«: J.D. erzählte Steve, dass er Ohrringe cool fand und ließ sich von ihm sogar ein Ohrloch stechen. Chip war Polizist und Alkoholiker, ihm tischte J.D. auf, dass ihm Polizeiautos gefielen. Ken zuliebe schlüpfte J.D. in die Rolle des liebenswürdigen Bruders für seine beiden Kinder. »Aber nichts davon war echt. Ich hasste Ohrringe, ich hasste Streifenwagen, und ich wusste, dass ich mit Kens Kindern in spätestens einem Jahr nichts mehr zu tun haben würde.«

Vance gestaltete also bereits in seiner frühen Kindheit die Beziehungen zu Menschen, die in seinem familiären Umfeld temporär über einen gewissen Einfluss verfügten, berechnend und opportunistisch. Einige Dekaden später ist Vance der erste, der demonstrativ hinter Donald Trump im New Yorker Gerichtssaal Platz nahm. Nach dem Attentat auf Donald Trump griff er als erster Joe Bidens aggressive Rhetorik an und gab dem Noch-Präsidenten eine Mitschuld. Außerdem beteuerte Vance, dass er am 6.1.21 keineswegs das Wahlergebnis zertifiziert hätte, so wie Mike Pence es getan hatte. Kurzum: J.D. Vance präsentiert sich als 100prozentiger Gefolgsmann Donald Trumps. Ob sein Gesinnungswandel von Dauer sein wird, steht allerdings auf einem anderen Blatt. 

5. Würdigung

Abgesehen von der penetranten Selbstbeweihräucherung, den soziologisch unhaltbaren Verallgemeinerungen und dem Mangel an Empathie für unterprivilegierte soziale Milieus, sind vor allem die selbstgerechten Urteile schwer zu ertragen, die der Emporkömmling J.D. Vance über sein Herkunftsmilieu fällt. Blendet man all das aus, bleibt allerdings eine Reihe von authentischen und relevanten autobiografischen Episoden übrig, die einem Außenstehenden die Welt der Hillbillys vor Augen führt. J.D. Vance legt die Finger in die Wunden des US-amerikanischen Rostgürtels.

Auch wenn die Antworten, die Vance gibt, keineswegs überzeugen, so gelingt es ihm doch, die richtigen Fragen aufzuwerfen.  Sehr aufschlussreich ist seine Schilderung des tiefen und schier unüberbrückbaren Grabens, der sich zwischen den politischen Eliten auf der einen und weißen konservativen Wähler:innen auf der anderen Seite auftut: »Der Präsident [Obama] ist wie ein Außerirdischer für diese Menschen. (…) Für viele von uns ist das, was wir in der freien Presse – diesem Bollwerk der amerikanischen Demokratie – lesen, einfach nur Beschiss« (S.220/221). Doch wenn die Identifikation mit den politischen Institutionen des Gemeinwesens schwindet, hat Donald Trump mit seinem postfaktischen politischen Angebot leichtes Spiel, zumal er politisches Kapital aus den patriotischen Gefühlen der Menschen zu schlagen versteht. J.D. Vance formuliert es folgendermaßen: Man müsse wissen, »dass meine Verwandten, meine Nachbarn, meine Gesellschaftsschicht ihre Identität zum großen Teil aus der Liebe zur Nation beziehen« (S.218).   

Soziologisch hochrelevant und unterhaltsam ist überdies J.D. Vance‘ freimütige Schilderung der Elitenrekrutierung in Hinterzimmern von New Havener Nobelrestaurants im Rahmen des Fall Interview Program der Universität Yale. Auch die Bedeutung des Essaywettbewerbs des Yale Law Journal für die Karrierewege von Jurist:innen ist sehr aufschlussreich. Minutiös und mit entwaffnender Offenherzigkeit listet Vance die feinen habituellen Unterschiede auf, die die soziale Herkunft verraten (z.B. »Schuhe und Gürtel aufeinander abstimmen«). Außerdem schildert er lehrbuchmäßig, wie er auf unterschiedlichen sozialen Feldern sein soziales und kulturelles Kapital vermehren konnte (Kap.13). Ohne Zweifel hat J.D. Vance seinen Bourdieu gelesen.

Rück- und Ausblick

Als die Republikaner J.D. Vance zum Kandidaten für die Vizepräsidentschaft kürten, sah das nach einem genialen Coup aus: Der 39jährige erschien als die perfekte Ergänzung zum nicht mehr ganz taufrischen Donald Trump. Als Kind des Rostgürtel erschien der Hillbilly-Bestsellerautor, Anwalt und Geschäftsmann als Verkörperung des amerikanischen Traums und als ideale Besetzung, um in den so genannten Swing-States des Mittleren Westens zu punkten. Als konservativer Mann aus dem Volk mit Bodenhaftung würde er die abgehobene Kamala Harris, Bidens liberale Vize von der Westküste, ganz easy die Butter vom Brot stibitzen. J.D. Vance heizte den Delegierten auf dem Parteitag in Milwaukee gehörig ein und erntete Begeisterungsstürme. Die taz titelte: »Leider gut«.

Doch im Rennen um das Weiße Haus geht es in diesem Jahr Schlag auf Schlag. Durch Bidens Rückzug wurden die Karten neu gemischt. Die frühere Staatsanwältin Kamala Harris misst sich nunmehr mit dem mehrfach Angeklagten Donald Trump. Die Demokraten lassen sich Zeit, um eine:n passende:n Gegenspieler:in für J.D. Vance auszuwählen, der:die sich nicht nur literarisch als Hillbilly ausgibt, sondern tatsächlich über Bodenhaftung verfügt.

Überhaupt entpuppt sich J.D. Vance‘ Nominierung für das Amt des Vizepräsidenten gerade als folgenreicher Fehler: Sexistische Videoschnipsel gehen viral, in denen Vance sich diskriminierend über kinderlose Frauen äußert. Auch seine erzkonservativ harte Linie in Sachen Abtreibung und Scheidung irritieren nicht nur demokratische Wähler:innen. Zu allem Überfluss veröffentlichte die New York Times dieser Tage geleakte Mails, in denen Vance Donald Trump als »Demagogen« und eine »moralisch verwerfliche Person« bezeichnet. Vance‘ freundschaftliche Korrespondenz mit einer Transperson ist aus maga-republikanischer Sicht ebenso erklärungsbedürftig wie sein Satz »Ich hasse die Polizei«. CNN-Umfrage-Experte Harry Enten bescheinigt Vance, »seit seiner Ernennung (…) als unbeliebtester Vizepräsidentschaftskandidat (der nicht bereits im Amt ist) seit 1980« Geschichte zu schreiben. Der prominente Demokrat Chuck Schumer reibt sich schon die Hände: »Ich kenne Donald Trump. (…) Und ich wette, Trump sitzt da und kratzt sich am Kopf und fragt sich: ›Warum habe ich diesen Kerl ausgewählt?‹« – Beim diesjährigen Rennen ums Weiße Haus geht es um Nuancen. Wenn es so weitergeht, könnte Senator J.D. Vance den Unterschied machen. Toi-toi-toi!

 

Ob diese Hillbillys dem Karrieristen J.D.Vance auf den Leim gehen, der sie in die Pfanne gehauen hat? – Wahrscheinlich ist es nicht. (Bildnachweis: Japanesefirehydrants – Own work – mit  CC BY-SA 4.0 Lizenz via Wikimedia Commons)

 

Literatur

J.D. Vance: Hillbilly-Elegie. Die Geschichte meiner Familie und einer Gesellschaft in der Krise, Berlin 2017. Auf diese Ausgabe beziehen sich die Seitenangaben.

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