Wer sich im Geblinke des Alltags verliert, wird nicht verstehen, was eigentlich vor sich geht; den Dingen auf den Grund zu gehen, ist aber kein Spaziergang, sondern ganz schön mühsam. – Das ist eine wichtige Erkenntnis aus Platons Höhlengleichnis. Dessen Lehrmeister Sokrates hatte sich noch nicht die Mühe gemacht, seine Philosophie aufzuschreiben. Gewöhnlich verwickelte er stattdessen seine Schüler in Frage-und-Antwort-Spielchen, wofür die Nachgeborenen einen wohlklingenden Begriff geprägt haben: sokratischer Dialog. Der Philosophie hat das geschriebene Wort jedenfalls nicht geschadet, eher im Gegenteil. Was man schwarz auf weiß besitzt, kann man eben nicht nur getrost nach Hause tragen, sondern auch in Ruhe durchdenken. Wer etwas schreiben möchte, sollte seine Zeit aber nicht ausschließlich mit Denken zubringen. Seit jeher wird jungen Schriftsteller:innen auch empfohlen, viel zu lesen, um das eigene Sprachgefühl zu verfeinern.
Lesen, um zu schreiben | Senden, ohne zu empfangen
Der Bestsellerautor Andreas Eschbach macht aus diesem Rat eine Prämisse und stellt fest, dass Autor:innen einfach viel lesen. Viel zu lesen sei für Schreibende so selbstverständlich wie zu essen, schlafen und atmen. Zwischen den Zeilen versteckt er seine Warnung: Wenn du nicht viel und ausdauernd liest, dann komm bloß nicht auf den Gedanken, auch nur eine Seite zu schreiben. Lass es einfach bleiben! – Wie sollte jemand, ohne zu lesen, Geschichten erzählen können oder zu nennenswerten Erkenntnissen gelangen? – Aus dem Lesen und Schreiben von Texten ist im digitalen Zeitalter meist ein Senden und Empfangen von Daten geworden. Das neue Medium funktioniert nach eigenen Gesetzen. Bilder bringen mehr Klicks als Texte. Audio ist nicht übel, aber am besten gehen Filmclips. Ein Gedankenexperiment: Würde ein Influencer, beispielsweise ein bedeutender Make-Up-Artist, sich die Zeit nehmen, auch nur ein Viertel der Clips anzusehen, die tagtäglich in seinem Genre produziert werden, hätte er nicht mehr genug Zeit, um seine Follower täglich mit freshem Content zu versorgen. Die Prioritäten haben sich verschoben, es gilt das ungeschriebene Gesetz: jeden Tag ein neuer Beitrag. Senden oder Nicht-Senden? An dieser Frage entscheidet sich die Existenz von Influencer:innen.
Eine Influencerin als Probandin
Dass man heutzutage auch anhand von improvisierten Filmdokumenten zu wertvollen Erkenntnissen gelangen kann, beweist die wissenschaftliche Studie »Timecave«. Anders als Platon belassen es moderne Forscher:innen nicht beim Gedankenexperiment. Sie verfrachteten Beatriz Flamin tatsächlich ca. 70 Meter tief unter die Erdoberfläche, wo sie keine Nachrichten von außen erhalten konnte. Die Extremsportlerin verfügte in ihrer Höhle jedoch über ein Laptop, zeichnete emsig Videonachrichten auf und informierte die Außenwelt über ihre Befindlichkeit. 500 Tage verbrachte sie in völliger Isolation und sendete, ohne zu empfangen. Da die Probandin im real life als Influencerin unterwegs ist, war das evtl. keine große Umstellung. Wissenschaftler:innen verschiedener Disziplinen der Universitäten Granada und Almería wollten herausfinden, ob das Höhlenleben zu neurophysiologischen und kognitiven Veränderungen führt. Einen ersten Hinweis geben womöglich die Worte, die Beatriz Flamin in die Mikrofone der wartenden Medienmeute sprach. Am vierten Tag nach Ostern war sie dem Erdreich entstiegen und bezeichnete ihre Erfahrung in der Höhle als »ausgezeichnet«. Sie wirkte nicht unzufrieden, der Retreat schien ihr gut getan zu haben. Viele ihrer Follower werden das liken, manch eine:r mag sich denken: »Mega-Detox, sollte ich das auch mal probieren?« – Platon wollte die Menschen kraft der Philosophie ans Licht führen. Die Idee des Guten wird »unter dem Erkennbaren als letztes und nur mit Mühe gesehen«. – Ausgezeichneter Gedanke, gefällt mir.👍
Die Denksportler werden vor Neid erblassen: Eine neue Sportart, die noch typischer alle Eigenschaften von Sport erfüllt: Sich in eine dunkle Höhle setzen und keinen Kontakt mit anderen Leuten haben.
Man erwartet bald die Aufnahme in den DSB und kann es kaum erwarten, bis dies olympische Disziplin wird. Die Teilnehmer werden sich mit dem Ende einer Olympiade in ihre Höhle zurückziehen und ihre Leistungen werden dann 4 Jahre später bewertet. Da werden dann die Rekorde purzeln.