Vor wenigen Wochen, im Dezember 2022, gab die Bundeszentrale für politische Bildung den Band „Das Dritte Reich und seine Verschwörungstheorien“ heraus. Der renommierte Historiker Richard Evans widmet dem Reichstagsbrand ca. 50 Seiten und macht sich für die Alleintäterthese stark. Größere Bekanntheit erlangte der Brite im Jahr 2000 als Prozessgutachter im Fall des Holocaustleugners David Irving. Mit seiner Publikation „Telling Lies about Hitler“ (deutsch: „Der Geschichtsfälscher“) machte er sich endgültig einen Namen als Kämpfer für die historische Wahrheit.
Die Bundeszentrale für politische Bildung steht für bestens recherchierte, gesicherte Informationen. Die Abkürzung bpb kommt praktisch einem amtlichen Gütesiegel gleich. Ihre Publikationen werden häufig an Schulen und Hochschulen genutzt, zumal sie preiswert und gut verfügbar sind. Evans‘ Einordnung des Reichstagsbrands wird in der historisch interessierten Öffentlichkeit breites Gehör finden und bei Multiplikator:innen auf Resonanz stoßen.
Im Oktober 2021 ist der Band „Das Dritte Reich und seine Verschwörungstheorien“ bei der DVA erschienen. Die bpb nahm den Titel ein gutes Jahr später ins Programm. Da ist sie wieder, die „geballte Autorität und Medienmacht“, mit der Benjamin Carter Hett den Erfolg der Alleintäterthese erklärt.
Evans beruft sich auf Sefton Delmer
Die Annahme, jemand anders als Marinus van der Lubbe könnte den Reichstag angezündet haben, verweist Evans rigoros ins Feld der Verschwörungstheorien. Bevor er die Geschichte des Brandes erzählt, attestiert er Vertreter:innen der Auffassung, die Nazis hätten etwas mit der Entstehung des Reichstagsbrands zu tun, eine pathologisch verzerrte Wirklichkeitswahrnehmung:
„Alternative Geschichten dieser Art sind ein Produkt der paranoiden Vorstellungskraft (…).“ (Richard Evans 2021, S.125)
Nach diesem Framing erzählt Evans den Tathergang und lehnt sich dabei eng an den Bericht des britischen Reporters Sefton Delmer an, den Hitler mit den Worten: „Abend, Herr Delmer“ begrüßte. Der Korrespondent verfolgte aus nächster Nähe, wie Göring gegenüber Hitler Meldung machte. Hitler erkundigte sich, ob die anderen öffentlichen Gebäude gesichert seien, was Delmer dazu veranlasste, die Glaubwürdigkeit dieser Reaktion zu bewerten:
„Ich bin sicher, dass er es ernst meinte und nicht nur Theater spielte. Sowohl Hitler wie Göring fürchteten zu jener Zeit noch die Möglichkeit eines kommunistischen Staatsstreichs.“ (Sefton Delmer, zitiert nach Evans 2021, S.131)
Dann machte die Gruppe, zu der auch Joseph Goebbels gehörte, einen Rundgang durchs beschädigte Reichstagsgebäude und besichtigte den Tatort. Unterwegs wandte sich Hitler direkt an Delmer:
„Im nächsten Korridor blieb Hitler ein wenig hinter den anderen zurück und trat zu mir. ‚Gott gebe‘, sagte er, ‚dass dies das Werk der Kommunisten ist. Sie erleben jetzt den Beginn einer neuen großen Epoche in der deutschen Geschichte, Herr Delmer. Dieser Brand ist der Auftakt dazu.'“ (Sefton Delmer, zitiert nach Evans 2021, S.133)
Hitler schien schon zu wissen, dass der Reichstagsbrand dereinst als tiefe Zäsur in der deutschen Geschichte interpretiert werden würde. Bedenkenswert finde ich den Gedanken, dass der Brand für sich genommen den Lauf der Geschichte nicht zwingend verändert hätte. Der Einschnitt bestand vielmehr in der radikalen und kompromisslosen Reaktion der Regierung Hitler, war also keine Notwendigkeit, sondern mithin das Resultat eines starken politischen Willens, der mit Macht ins Werk gesetzt wurde.
War sich Hitler unmittelbar nach dem Brandanschlag bereits im Klaren darüber, wie er zu reagieren gedachte? Er verwendet die Metapher des Auftaktes, als wäre das darauf folgende Musikstück bereits komponiert und müsse nur noch uraufgeführt werden.
Evans macht sich für die Alleintäterthese stark
Evans wischt ältere linke Verschwörungstheorien, wonach die Nazis für den Brand verantwortlich waren, beiseite und lobt die Arbeiten der Vertreter der Alleintäterthese Fritz Tobias, Hans Mommsen und Sven Felix Kellerhoff. Davon „abweichende Stimmen“ wie die von Alexander Bahar und Wilfried Kugel werden, um Reezos Worte zu verwenden, „zerstört“. Anstatt auf irgendwelche Inhalte oder Argumente einzugehen (was Reezo sehr wohl tut), zieht Evans beredt die Seriösität Bahars und Kugels in Zweifel (Evans 2021, S.134, 138-150).
Evans‘ vernichtende Kritik an Hett
Das Braunbuch war eine zeitgenössische Textsammlung der Linken, die im Ausland gedruckt wurde. Evans stellt Hett in eine Reihe mit den Vertretern dieser unwissenschaftlichen Publikation und bemängelt, er habe die Arbeit eines Staatsanwaltes getan und dabei die „Ausgewogenheit und Objektivität“ eines Historikers vermissen lassen. Außerdem wirft Evans Hett vor, sich nicht ausreichend mit der vorhandenen Literatur zum Thema auseinandergesetzt und Kellerhoff lediglich zweimal erwähnt zu haben. Evans zufolge lenke Hett von den eigentlich interessierenden Hauptthemen ab, indem er Zeugen unglaubwürdig mache. Dabei handle es sich um eine klassische Prozesstaktik, womit er seinen Vorwurf unterstreicht, Hett agiere einseitig und parteiisch (Evans 2021, vgl. S.150ff.).
Fügt man diese Aspekte zusammen, entwirft der britische Historiker von Hett die Karikatur eines ungerechten Anklägers, der mit Schaum vor dem Mund gegen seine Gegner zu Felde zieht. Auch wenn Evans‘ einleitende Worte über Hett anerkennend klingen („beeindruckende Arbeit“, „gut geschrieben und spannend zu lesen“), so wirken diese Komplimente in der Gesamtschau sehr floskelhaft und erhöhen in erster Linie die Fallhöhe für den totalen Verriss, den Evans unmittelbar folgen lässt.
Liegt Evans mit seiner Hett-Kritik richtig?
Hett würdigt tatsächlich den persönlichen Einsatz der Verfasser:innen des Braunbuchs, gelangt aber dennoch zu einem skeptischen Fazit:
„Trotzdem muss vieles in der Abhandlung des Braunbuchs über den Reichstagsbrand als fingiert eingeschätzt werden, und keine der Informationen kann ohne Prüfung als verlässlich angesehen werden.“ (Hett 2016, S.208).
Außerdem zitiert Hett Kellerhoff und entlarvt dessen zentrale These, die Brandermittler seien unpolitische Beamte und hätten saubere Arbeit abgeliefert, als unhaltbar (Hett 2016, S.172). Auch Evans‘ Vorwurf, Hett agiere wie ein Staatsanwalt, entspricht nicht den Tatsachen. In Wahrheit wertet der US-Amerikaner die Quellen sehr behutsam aus, wägt die Glaubwürdigkeit ab und entwickelt seine Überlegungen in einer Weise, die es dem:der Leser:in gestatten, ihm bei seinen Schlussfolgerungen über die Schulter zu sehen. Im Gegensatz zu Evans fällt Hett vorsichtige und vorläufige Urteile, die andere Historiker:innen einladen, an seine Arbeit anzuknüpfen.
Es erstaunt mich, wie ungerecht Evans‘ Kritik ausfällt. Hett setze „ein ganzes Arsenal von Unterstellungen und Anspielungen“ ein (Evans 2021, S.156). Das ist rufschädigend, geht aber wahrscheinlich noch als Meinungsäußerung durch. Sehr fragwürdig finde ich allerdings, dass Evans die Argumentation Hetts in der Sache falsch wiedergibt:
„So befand er [gemeint ist Hett] einen der Schlüsselzeugen, Gestapochef Rudolf Diels, der nicht glaubte, dass es eine nationalsozialistische Verschwörung mit dem Ziel, den Reichstag niederzubrennen, gab, kurzerhand für unglaubwürdig, weil die politische Polizei, der er angehörte, nationalsozialistisch und korrupt gewesen sei“ (Evans 2021, S.151).
Tatsächlich stützt Hett seine Widerlegung der Alleintäterthese unter anderem auf Rudolf Diels, wie ich im zweiten Teil dieses Essays bereits ausgeführt habe. Hett zitiert einen bislang von der Forschung nicht ausgewerteten Brief des ersten Gestapo-Chefs:
„Es gibt (…) eine Menge Neues in meinem Buch, zum Beispiel den 1946 geschriebenen Brief des ehemaligen Gestapo-Chefs Rudolf Diels, in dem er bestätigt, dass der SA-Mann Heini Gewehr an der Reichstagsbrandstiftung beteiligt gewesen sei. Wichtiger noch: Diels nannte den Reichstagsbrand in diesem Brief „das erste Verbrechen der Nationalsozialisten“. Und er schrieb es nicht als Meinungsäußerung, sondern als Tatsachenfeststellung.“ (Hett im Interview mit Wolfgang Michal, 2016).
Evans‘ Einordnung des Reichstagsbrandes
Evans zufolge messen Hett und andere Kritiker der Alleintäterthese dem Reichstagsbrand eine zu hohe Bedeutung bei. Die Nazis hätten sonst einfach zu einem anderen Zeitpunkt ihren Terror entfaltet:
„Ohne Zweifel warteten sie [gemeint sind die Nationalsozialisten] auf eine Gelegenheit, die Zügel anzuziehen und in Richtung Diktatur weiterzugehen. Der Reichstagsbrand war eine solche Gelegenheit, aber wenn er nicht stattgefunden hätte, hätte Hitler einen anderen Vorwand für die Aufhebung der bürgerlichen Freiheiten gefunden“ (Evans 2022, S.158f.).
Diese These ist durchaus nicht überzeugend. Am 30. Januar 1933 wurde Hitler zum Reichskanzler ernannt, am 1.2.1933 wurde das Parlament aufgelöst, so dass eine Neuwahl am 5. März 1933 erforderlich wurde. Hitler hatte keine hundert Tage, um im Amt anzukommen. Seiner ersten Kanzlerschaft drohte bereits nach fünf Wochen das Aus.
Bei der vorangegangenen Wahl vom 6. November 32 hatten die Nazis über 4 Prozent der Stimmen und über 30 Sitze verloren. Im „roten Berlin“ tobten die politisierten Straßenkämpfe zwischen Nazis und Kommunisten. Die NSDAP tat sich nicht leicht damit, in der modernen und weltoffenen Metropole die Vorherrschaft zu erringen. In der NSDAP gab es Flügelkämpfe (Strasser-Krise, später Stennes-Revolte), Hitler war als Führungsfigur noch nicht unumstritten, seine Macht musste noch befestigt werden.
Hitler stand im Februar 1933 politisch in mehrfacher Hinsicht unter Druck: Die Konservativen im Kabinett wollten den „böhmischen Gefreiten“ in Schach halten und entzaubern. Die eigene gewaltbereite Anhängerschaft (SA) scharrte mit den Hufen und wollte endlich losschlagen. Im Falle eines weiteren Stimmverlusts stand zu befürchten, dass die Partei sich in Flügelkämpfen selbst zerlegen würde. Hitler musste liefern und hat geliefert. In der Nacht des Reichstagsbrands funktionierten SA-Schläger Kellerräume zu sogenannten wilden Konzentrationslagern um und inhaftierten KPD-Funktionäre, Sozialdemokraten und linke Intellektuelle. Um das zu legitimieren, benötigte Hitler einen Coup wie den Reichstagsbrand.
Wenn Evans behauptet, dass Hitler auch „einen anderen Vorwand“ für die Suspendierung der Grundrechte gefunden hätte, übersieht er, dass Hitler bereits am 5. März 1933 der Machtverlust drohte.
Satz mit X?
Auf wen stützt Richard Evans eigentlich seine Position?
„Laut Polizeibericht, den der Polizeibeamte Walter Zirpins am 3. März vorlegte, war van der Lubbe ein Einzeltäter. Im Verhör hatte der junge Holländer den Gang der Ereignisse präzis geschildert“ (Evans 2021, S.128).
Nach einer kritischen Überprüfung der Glaubwürdigkeit von Walter Zirpins sucht man bei Evans leider vergeblich. Karola Hagemann und Sven Kohrs haben 2021 eine lesenswerte Studie zu diesem NS-Funktionär vorgelegt. Im ersten Teil dieses Essays habe ich wichtige Aspekte zitiert und erläutert.
Der Reichstagsbrand ist ein ungelöster Kriminalfall, true crime, über den seit Dekaden gestritten wird. Es gibt neuere Erkenntnisse: Benjamin Carter Hett wartet 2016 mit einer umfangreichen Studie auf. 2019 wird in Archiven die eidesstattliche Erklärung des SA-Mannes Lennings geborgen. Rainer Orth wertet diese 2021 sorgfältig aus. Und die Bundeszentrale für politische Bildung liefert zum 90. Jahrestag ein äußerst fragwürdiges Plädoyer für die Alleintäterthese.
Das ist ein Problem. Denn leider ist der Reichstagsbrand 2023 aktueller denn je.
Am 23.Februar geht es weiter
Teil 3: Richard J. Evans bekräftigt die Alleintäterthese in einer neuen Publikation der Bundeszentrale für politische Bildung. (19. Februar 2023)
Literatur:
Richard Evans: „Das Dritte Reich und seine Verschwörungstheorien“, Hamburg (DVA) 2021.
Benjamin Carter Hett: „Der Reichstagsbrand. Wiederaufnahme eines Verfahrens“, Hamburg (rowohlt) 2016.
Wolfgang Michal interviewt Benjamin Carter Hett: „Für den Spiegel ist das eine Prestigefrage“, 2016.
Karola Hagemann/Sven Kohrs: „Walter Zirpins – Ohne Reue. Der schwarze Fleck des LKA.“, LKA Hannover 2021.
Leider weisen Sie im Literaturverzeichnis nicht auf die folgende Dokumentation hin: Alexander Bahar / Wilfried Kugel „Der Reichstagsbrand. Wie Geschichte gemacht wird.“ edition q, Berlin 2001 (863 Seiten) / gekürzte und aktualisierte Neuauflage „Der Reichstagsbrand. Geschichte einer Provokation“, Papyrossa, Köln 2013. Als Basis für sein Werk von 2014 diente Benjamin Carter Hett die genannte Doku, die er seit spätestens 2007 kannte. Es finden sich diesbezüglich etliche Bezüge in seinem Text sowie Angaben in 21 Endnoten/Quellen. Hett ergänzte die Argumentation von Bahar/Kugel mit eigenen Quellenfunden.