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vonDarius Hamidzadeh Hamudi 22.02.2023

Zylinderkopf-Dichtung

Essays, Glossen, Kommentare und Neuigkeiten aus der Menagerie der kleinen Literatur.

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Der Reichstagsbrand und die darauf folgende Reichstagsbrandverordnung markieren das Ende der Weimarer Republik und den Anfang der Nazi-Diktatur. Die Nazis machten die politischen Gegner für den Brand verantworlich. Unter dem Vorwand, einen Staatsstreich verhindern zu müssen, wurden Oppositionelle von Polizei und SA-Männern in behelfsmäßigen Kellergefängnissen inhaftiert. Nebenbei bemerkt: Unter einem ähnlichen Vorwand ermordete die SS 1934 die SA-Spitze in der „Nacht der langen Messer“. Im Zuge dessen ließ Hitler auch seinen Duzfreund und Parteigenossen Ernst Röhm umbringen und bewies dabei seine monströse Skrupellosigkeit.

Wurden die Deutschen Opfer eines generalstabsmäßig vorbereiteten Staatsstreichs? Oder hat Hitler mit seinen Schergen ein Geschehnis virtuos zu seinen Gunsten ausgenutzt? Wurde die Machtergreifung geplant oder hat sie sich aus der Dynamik der Tagespolitik ereignet? Kellerhoff vertritt folgende These:

„Wer schon den Reichstagsbrand für ein inszeniertes Schurkenstück hält, muss zwangsläufig die NS-Herrschaft insgesamt zu präzise durchgeplanter Machtpolitik erklären – einschließlich Auschwitz. Allerdings hat diese Annahme eine unvermeidliche Folge: Automatisch wird damit die Verantwortung der deutschen Gesellschaft insgesamt (…) an all diesen Verbrechen stark reduziert. Denn wenn tatsächlich die Erorberung der Macht 1933 einem genauen Plan gefolgt wäre, dessen Kernpunkt der Reichstagsbrand war, dann wären die Deutschen in ihrer großen Mehrheit Opfer eines kaltblütigen Staatsstreichs. Aus der Annahme der NS-Verantwortung folgt letztlich eine Exkulpierung der damaligen deutschen Gesellschaft“ (Kellerhoff 2008).

Hat Kellerhoff recht? Wird durch die Annahme, die Nazis wären für den Reichstagsbrand verantwortlich,  die damalige deutsche Gesellschaft exkulpiert, also von jeder Schuld freigesprochen? Ich glaube, das Gegenteil ist richtig: Nur die Annahme, dass eine Gruppe von Nazis um Hitler im Zuge des Reichstagsbrandes die Macht usurpiert hat, schreibt der deutschen Bevölkerung die Verantwortung dafür zu, sich nicht zivilcouragiert dagegen aufgelehnt zu haben. Wenn man hingegen davon ausgeht, Hitler wäre nur aufgrund einer Verkettung unglücklicher Umstände an die Macht gestolpert, dann drohen Fragen nach Verantwortung und Schuld im Ungefähren zu verdunsten.

Die Alleintäterthese ist eine Variante der Legende, die Schuld für das NS-Unrechtssystem liege allein bei einer recht überschaubaren Zahl völlig verbohrter Nazis. Die meisten Deutschen seien jedoch völlig unpolitisch gewesen. Beispielsweise hätten Beamte wie Walter Zirpins mit preußischem Pflichtgefühl sogar alles Menschenmögliche unternommen, um größeres Unheil zu verhindern. Das ist leider eine Lüge. Aber es ist eine schöne Lüge, die den Blick in deutsche Familienalben erträglich macht. Es erfordert Mut und Zivilcourage, solche schönen Lügen fallenzulassen.

Die Aktualität des Reichstagsbrands

Im Januar 2023 besetzten Anhänger Jaire Bolsonaros in Brasilien Regierungsgebäude. Heinrich Prinz Reuß steht unter dringendem Verdacht, als Rädelsführer der patriotischen Union einen Putsch gegen die Bundesregierung geplant zu haben.Vor zwei Jahren stürmten Anhänger des abgewählten Präsidenten Donald Trump das Capitol.

Die amerikanische Demokratie hielt aus mehreren Gründen stand: Sicherheitsbeamte stellten sich heldenhaft gegen den Mob. Der Vizepräsident Mike Pence gab dem Druck Donald Trumps nicht nach, sondern zertifizierte das Wahlergebnis zugunsten Joe Bidens. Der Senator Ben Sasse (Republikaner) distanzierte sich von Anfang an von Trump und stimmte für dessen Impeachment. Brad Raffensperger weigerte sich standhaft, 11780 Stimmen für die Republikaner „zu finden“. Diese Liste ließe sich verlängern.

Es gibt viele Formen von Zivilcourage und jede:r ist gefragt, sogar Trumps Vizepräsident. Ohne Zivilcourage können Demokratien krisenhafte Situationen nicht überstehen. Die große Mehrheit der deutschen Bevölkerung ließ es 1933 ohne Widerspruch geschehen, dass in der Nacht des Reichstagsbrands politische Gegner verhaftet und misshandelt wurden. Ein konservativer Richter wie Coenders sah es als seine Pflicht an, über die Unregelmäßigkeiten des ersten Reichstagsbrandprozesses zu schweigen. Und an den entscheidenden Stellen in deutschen Behörden saß 1933 kein Brad Raffensperger, sondern Walter Zirpins.

Der lange Schatten der Nazis

Die Zirpins-Studie des niedersächsischen LKAs schließt mit der Feststellung, dass der überzeugte Nationalsozialist „mit seinen Einstellungen nicht zurück“ gehalten habe. Vielmehr habe er „sein Denken in Vorträgen und Veröffentlichungen“ tradiert. Insgesamt habe die Polizei in Niedersachsen spätestens mit der Reform 1994 einen enormen Demokratisierungsschub erlebt. Weiter heißt es:

„Doch starb ausländerfeindliches, antisemitisches und undemokratisches Denken nicht in Gänze aus, und so finden sich leider – nicht nur in Niedersachsen – immer noch ähnliche Denkmuster wie die von Zirpins geäußerten und gelebten. In Polizei und Gesellschaft finden sie wieder mehr Raum, werden offener geäußert, verbreitet und gelebt. Ganz verschwunden waren sie nie“ (Hagemann/Kohrs 2021, S.285).

Die taz berichtet am 16.9.22 vom „Hass auf Geflüchtete, Nazi-Geburtstage im Kalender und rassistische Chats“ bei den Johannitern in Köln. Hatte eigentlich das NSU-Trio Unterstützer:innen oder handelte es sich gewissermaßen auch um Alleintäter?

Allgemeinpolitische Gründe sprechen heute für eine Aufklärung des Kriminalfalls

Im Fall des Reichstagsbrandes blieb die Wahrheit oft auf der Strecke, weil machtvolle Interessen wirkten und die Geschichtsschreibung zu kontrollieren versuchten. Im ersten Teil des Essays habe ich versucht, die von Hans Mommsen erwähnten „allgemeinpolitischen Gründe“ zu ergründen, die zu Beginn der 1960er-Jahre gegen eine Erschütterung der Alleintäterthese sprachen. Die Geschichte aus der Perspektive der mutmaßlichen Täter zu erzählen, ermöglichte Alt-Nazis und ihren Helfern in der Nachkriegszeit erfolgreiche Karrieren.

Der Reichstagsbrand und mehr noch die Geschichte seiner Aufarbeitung beweist: Der Kampf um Macht ist auch ein Kampf um Narrative, ein Kampf um die Deutungshoheit. Opportunismus, Obrigkeitsdenken, falsch verstandenes Pflichtgefühl, blinde Loyalität, fehlende Zivilcourage und vieles mehr haben dafür gesorgt, dass die Brandstiftung bislang nicht letztgültig aufgeklärt wurde.

Inzwischen leben wir im 21. Jahrhundert. Auch in Deutschland gärt es wieder am rechten Rand. Der Kampf gegen Fake News ist eine gemeinsame Aufgabe aller Demokrat:innen. Dass ausgerechnet der Reichstagsbrand, der Ursprung der Hitler-Diktatur, noch immer im Nebel liegt, ist eigentlich unfassbar.

Der Reichstagsbrand als Studienobjekt

Am 2. Februar 2023 starb Sally Perel, der „Hitlerjunge Salomon“; den Grundschüler:innen seiner Heimatstadt Peine gab er mit auf den Weg:

„Ihr seid nicht verantwortlich. Aber ihr seid verantwortlich dafür, dass es nie wieder passiert.“

Diese Verantwortung tragen wir alle. „Nie wieder!“ kann viele  Formen annehmen. Das Rätsel des Reichstagsbrands zu lösen, ist eine davon. Vor allem wenn wir verstehen, warum die Lösung dieses Falls so lange dauert.

Spuren führen nach Dresden

Nach dem Auftauchen der eidesstattlichen Erklärung von Martin Lennings hat Rainer Orth die private Korrespondenz des ehemaligen SA-Mannes durchforstet:

„In einem Privatbrief vom Januar 1955 behauptet Lennings, dass er einige Tage vor dem Reichstagsbrand am 27. Februar 1933 an einem SA-Treffen im Dresdner Trompeterschlösschen teilgenommen habe. (…) Ein Teilnehmer des angeblichen SA-Treffens im Trompeterschlösschen sei, so berichtet Lennings in seinem Brief, ein Bekannter aus den 1920er Jahres gewesen: Edmund Heines. Heines fungierte inwischen als Führer der SA-Gruppe Schlesien. In der SA galt er seit 1931 als der zweite Mann nach Röhm. Während des Treffens im Trompeterschlösschen soll Heines, so Lennings, bekannt gegeben haben, dass die Berliner SA in einigen Tagen den Reichstag in Brand setzen würde und dass man dies den Kommunisten anhängen werde, um so einen Vorwand für ein Vorgehen gegen die Kommunistische Partei zu schaffen. Die Idee für das Brandstiftungsunternehmen stammte, so habe Heines erklärt von ‚Jupp‘ – d.h. vom Berliner Gauleiter Joseph Goebbels. Anschließend habe Heines aus den Anwesenden einige Männer für Unterstützerdienste bei der geplanten Aktion ausgewählt, denen als Belohnung für ihre Dienste Beförderungen in Aussicht gestellt worden seien“ (Rainer Orth 2021, S.36f.). 

links: Hotel Trompeterschlösschen am Dippoldiswalder Platz in Dresden vor 1923, zerstört am 13. Februar 1945 bei einem Luftangriff
rechts: War Edmund Heines zwischen dem 15. und 24. Februar in Dresden? (Bildnachweis: Bundesarchiv, Bild 119-1231 / CC-BY-SA3.0)

Rainer Orth rekonstruiert die Aufenthaltsorte von Edmund Heines im Februar 1933. Im Zeitraum vom 15. bis zum 24. Februar 1933 ist ungeklärt, wo er sich befand. Falls er sich in Dresden aufgehalten haben sollte, würden Lennings‘ Aussagen zum konspirativen Treffen im Trompeterschlösschen an Glaubwürdigkeit gewinnen (Orth 2021, 39f.).

Vielleicht schlummern in irgendwelchen alten Koffern und Kisten noch weitere Briefe und Postkarten, die SA-Angehörige bei ihrem Ausflug nach Dresden im Februar 1933 an ihre Lieben versendet haben? Vielleicht lagern im Keller des Dresdner Stadtmuseums oder im Stadtarchiv noch irgendwelche alten Unterlagen aus dem Trompeterschlösschen (Gästelisten, Meldescheine …)? Sind im Bundesarchiv die Personalakten der Berliner SA aus dem Jahr 1933 überliefert? Falls Martin Lennings‘ Aussagen stimmen, müsste kurz nach dem Reichstagsbrand ein Schwung SA-Männer befördert worden sein.

Kippt die Alleintäterthese?

Rainer Orth hat in Archiven und Bibliotheken nach neuen Indizien gesucht und bewundernswerte Detektivarbeit geleistet. Doch 90 Jahre nach der Tat tappt er wie alle Historiker:innen durch den Nebel der Geschichte. Eine gewisse Skepsis ist angezeigt, sobald die eine oder der andere behauptet, das Rätsel des Reichstagsbrandes ein für alle Mal gelöst zu haben. Wir bewegen uns, auch wenn das unbefriedigend ist, im Bereich von Plausibilitäten und Wahrscheinlichkeiten.

Vertreter der Alleintäterthese berufen sich auf Walter Zirpins‘ Ermittlungsarbeit. Die neuere Forschung sät große Zweifel an dessen Glaubwürdigkeit. Die von Benjamin Carter Hett minutiös herausgearbeiteten Indizien sowie das Lennings-Dokument deuten daraufhin, dass die SA wahrscheinlich für den Brand verantwortlich ist. Auch wenn der Fall nicht gelöst ist, lässt eine erdrückende Vielzahl von Indizien eine Täterschaft der Nationalsozialisten vermuten. Ob wir bis zum 100. Jahrestag der Lösung dieses Kriminalfalls noch ein Stück nähergekommen sein werden? Hoffen wir das Beste.

Happy Birthday, Reichstagsbrand!

Rückblick auf die vier Teile des Essays

Teil 1: Wer darf die Geschichte erzählen? Im 20. Jahrhundert verkommt die Aufklärung der Brandstiftung zu einer Machtfrage. (12. Februar 2023)

Teil 2: Der US-amerikanische Historiker und Jurist Benjamin Carter Hett nimmt das Verfahren wieder auf und widerlegt die Alleintäterthese. (15. Februar 2023)

Teil 3: Richard J. Evans bekräftigt die Alleintäterthese in einer neuen Publikation der Bundeszentrale für politische Bildung. (19. Februar 2023)

Teil 4: Der Reichstagsbrand ist 2023 leider relevanter den je; nicht nur die Geschichtsschreibung braucht dringend ein Update. (23. Februar 2023)

Bundesarchiv Bild 183-R99859 (CC BY-SA 3.0 DE), eigene Collage

Literatur:

„Neues vom Reichstagsbrand: Ein Film von Gerhard Brack und Tina Mendelsohn“, 2003.

Karola Hagemann/Sven Kohrs: „Walter Zirpins – Ohne Reue: Der schwarze Fleck des LKA.“, Hannover 2021.

Wolfgang Michal: „Benjamin Carter Hett: ‚Für den Spiegel ist das eine Prestigefrage'“, Interview vom 30.6.2016.

Benjamin Carter Hett: „Der Reichstagsbrand. Wiederaufnahme eines Verfahrens“, Hamburg (rowohlt) 2016.

Sven Felix Kellerhoff: Der Reichstagsbrand – Die Karriere eines Kriminalfalls, Berlin 2008. (Das Zitat folgt dem letzten Kapitel der Ebook-Ausgabe: „Die Lösung. Bilanz einer Debatte“.)

BPB: „Der Reichstagsbrand – auf dem Weg in die Diktatur“, „kurz und knapp“ vom 26.2.2018, Abruf am 19.2.2023.

 

 

 

 

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