vonDarius Hamidzadeh Hamudi 24.08.2024

Zylinderkopf-Dichtung

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500 kg TNT –  so groß ist die Sprengkraft der modernen, hochwirksamen Explosivstoffe, die bei der Zerstörung der Nordstream-Pipelines verwendet wurden. Und dennoch besitzt die Geschichte, die am 14. August 2024  im renommierten Wall Street Journal (WSJ) als »The Real Story of the Nord Stream Pipeline Sabotage« veröffentlicht wurde, weit mehr politischen Sprengstoff.

Gemäß WSJ gehe der Anschlag auf eine Schnapsidee zurück, die hochrangige ukrainische Unternehmer und Militärs im Mai 2022 bei einem Zechgelage ausgebrütet hätten. Selenskyj höchstselbst habe das Unternehmen zunächst abgesegnet, aber nach einem Veto der CIA seine Zustimmung wieder zurückgezogen. Der damalige Oberbefehlshaber Walerij Saluschnyj habe sich aber über den Präsidenten hinweggesetzt. Nachdem die Pipelines unbrauchbar waren, habe Saluschnyj sich gegenüber Selenskyj damit herausgeredet, dass er die Operation nicht mehr habe stoppen können. Das Sabotage-Kommando wäre ohne Kommunikationsmittel in See gestochen, um das Zerstörungswerk nicht zu gefährden. Ihr Segelboot, die Andromeda, gliche einem Torpedo: Einmal losgeschickt, mache es irgendwann Bumm.

Stimmt die »True Story« des Wall Street Journals?

Keine Frage, »Die wahre Geschichte der Pipeline-Sabotage« des Wall Street Journals ist packend geschrieben, liest sich wie ein Krimi und lässt keine Fragen offen. Sehenswert ist auch das ZDF-Interview mit dem WSJ-Investigativ-Journalisten Bojan Pancevski. Doch er formuliert auch einen Satz, der aufhorchen lässt: »Alle Absprachen wurden mündlich getroffen, so dass keine Papierspuren zurückblieben.« – Präsident Selenskyj bestreitet, etwas mit der Pipeline-Sabotage zu tun zu haben. Walerij Saluschnyj, inzwischen ukrainischer Botschafter in Großbritannien, bezeichnet schon die Andeutung der Verstrickung seiner Person in die Angelegenheit als »bloße Provokation«. Aussage steht gegen Aussage.

Dementsprechend wird in verschiedenen Medien wieder und wieder darauf hingewiesen, dass die Hintermänner der Tat noch immer unbekannt sind. Selbst wenn die ukrainische Crew der Andromeda die Pipelines gesprengt haben sollte, könnten die Saboteure auch vom Kreml angeheuert worden sein.

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Zumindest eine Spur führt gemäß Roderich Kiesewetter (CDU) tatsächlich nach Russland, da die kremlnahe Russin Diana B. bei der Anmietung der Andromeda eine wichtige Rolle gespielt hat. – Der US-Journalist Seymour Hersh hingegen vermutet die CIA hinter der Pipeline-Sabotage. Auf dieser Linie kommentiert auch der WSJ-Leser Tri Pham Pancevskis Artikel und spricht von einer Schönfärberei-Operation der CIA, um die Verantwortung der USA oder anderer Länder für die Explosion abzutun. – Auch wenn immer mehr ans Licht kommt, ist also noch immer nicht eindeutig bewiesen, wer die Pipeline-Sprengung veranlasst hat.

Bemerkenswert sind die nonchalante Art, mit der die polnischen Ermittlungsbehörden den deutschen Haftbefehl gegen den ukrainischen Profitaucher Wolodimir Z. gehandhabt haben, und Donald Tusks erstaunlicher Halts-Maul-Tweet vom 17. August 2024. Hätte auch ein notorischer russischer KGB-Agent einem Haftbefehl zum Trotz ungehindert aus Polen ausreisen dürfen?

Zögerlich oder besonnen?

Der Politikberater Julius van de Laar beschreibt Wahlkampf als »Wettlauf um die Definition: Jeder versucht seine Geschichte zu erzählen«. Und dieser Wettstreit der Narrative kennzeichnet in gewisser Weise auch das politische Tagesgeschäft. Ein Blick zurück auf den Beginn des Ukraine-Kriegs 2022: Recht schnell waren sich die Regierungsparteien mit der Union darin einig, dass die Ukraine entschieden gegen die russische Invasion unterstützt werden muss. Strittig waren eher Details: Wie halten wir es mit »schweren Waffen«, später ging es um Panzer und weitreichende Marschflugkörper. Friedrich Merz erzählte die Geschichte des zögernden und zaudernden Kanzlers, der der Ukraine die dringend notwendigen Waffensysteme vorenthielt. Olaf Scholz hielt dagegen und nahm für sich Besonnenheit in Anspruch. Dieser »Wettlauf um die Definition« ging klar an die Union, sogar etablierte Medien schwenkten auf die Linie ein, Olaf Scholz sei ein zögerlicher Kanzler. Der eben noch strahlende, neu ins Amt gewählte Sozialdemokrat bekam seine ersten Schrammen ab.

Vor dem Hintergrund der Nordstream-Sabotage im September 22 lässt sich das Narrativ des zögerlichen Olaf Scholz kaum aufrechterhalten. Wenn die Berichterstattung des WSJ stimmt, dass die Bundesregierung bereits im Juni 22 über die ukrainischen Anschlagspläne informiert war, musste Olaf Scholz bei allen Entscheidungen stets mitbedenken, dass die Ukraine mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zumindest eine Mitverantwortung für einen Anschlag auf die deutsche Infrastruktur trug, eine schwerwiegende Sabotage-Aktion, die eine Gefährdung der deutschen Energiesicherheit im Winter 22/23 billigend in Kauf nahm und dass also die Ukraine eventuell eigene Wege zu gehen bereit ist, um Russland zu schaden. Nichtsdestotrotz stellte die CDU/CSU noch zu Beginn des Jahres 2024 gleich zwei Mal im Bundestag den Antrag, Taurus-Marschflugkörper an die Ukraine zu liefern.

Über die Grundsätze der Ukraine-Politik wurde zu wenig diskutiert

Auch die Union war wohl über den Geheimdienst-Ausschuss darüber informiert, dass die Ukraine eventuell in die Pipeline-Sabotage verwickelt sein könnte, verbreitete aber dennoch unaufhörlich ihr Märchen vom zögerlichen Olaf. Verantwortungsvoller wäre ein Schulterschluss mit der Regierung gewesen, um Skeptiker:innen von einer angemessenen politischen, humanitären und militärischen Unterstützung der Ukraine gegen Russland zu überzeugen. Schließlich ist die über Jahrzehnte gewachsende ostdeutsche Verbundenheit mit Russland ein politisch relevanter Faktor. Doch leider geriet durch den permanenten Streit um schwere Waffen, Leopard-Panzer und Taurus-Marschflugkörper die grundlegende öffentliche Debatte über die pro-ukrainische deutsche Positionierung völlig in den Hintergrund.

Jackpot für AfD und Wagenknecht?

AfD und BSW erzählen die Geschichte, die Union und die Bundesregierung würden mit ihrer Ukraine-Politik die Interessen der Bundesrepublik Deutschland und ihrer Bürger:innen verraten. Das Wall Street Journal spült Wasser auf deren Mühlen, indem es einen hochrangigen deutschen Beamten mit den Worten zitiert:

»An attack of this scale is a sufficient reason to trigger the collective defense clause of NATO, but our critical infrastructure was blown up by a country that we support with massive weapons shipments and billions in cash.«

»Ein Angriff diesen Ausmaßes ist ein ausreichender Grund, die kollektive Verteidigungsklausel der NATO auszulösen, aber unsere kritische Infrastruktur wurde von einem Land in die Luft gesprengt, das wir mit massiven Waffenlieferungen und Milliarden in bar unterstützen.«

Für BSW und AfD ist das ein gefundenes Fressen. Die AfD wirbt ohnehin dafür, Nordstream zu reparieren, um wieder billiges Gas aus Russland zu beziehen. Wagenknecht gibt wahlweise den Friedensengel und Putinversteher und fordert einen Untersuchungsausschuss. Die Umfragen vor den Landtagswahlen in Brandenburg, Thüringen und Sachsen zeigen, dass solche Positionen in den drei Bundesländern annähernd mehrheitsfähig sind.

Schweigen ist keine Option

Die Reaktion der Bundesregierung auf die jüngsten Nordstream-Enthüllungen fällt hingegen überaus dürftig aus: Der stellvertretende Regierungssprecher Wolfgang Büchner redet allen Ernstes die politische Dimension des Verdachts klein, die Ukraine stecke hinter der Pipeline-Sabotage, und spricht von der »juristische[n] Aufarbeitung eines strafrechtlich relevanten Vorgangs«. Der Haftbefehl des Generalbundesanwalts gegen einen ukrainischen Profitaucher habe mit den politischen Beziehungen zur Ukraine »zunächst mal gar nichts zu tun«.

Wenn Wahlkampf der »Wettlauf um die Definition« ist und »jeder versucht, seine Geschichte zu erzählen«, dann kann es keine Option sein, vor den drei anstehenden Landtagswahlen zu den Geschichten von AfD und BSW zu schweigen. Die Parteien der Ampelregierung und die Union dürfen sich nicht wegducken, sondern sind in der Pflicht, gemeinsam die deutsche Ukraine-Politik verständlich zu machen. Denn selbst wenn die Enthüllungen des Wall Street Journals zutreffen sollten, liegt es im ureigenen deutschen Interesse, die Ukraine substanziell politisch, humanitär und militärisch zu unterstützen. Allerdings besteht in diesem Fall dringender Erklärungsbedarf.

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Bildnachweis

Eigene Bildcollage aus folgenden Vorlagen:

  • JuraKovr: Pipeline via pixabay.
  • OpenClipArt-Vectors: BANG via pixabay.
  • keenyam: Fische via pixabay.
  • creozavr: Monster via pixabay.

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