Die Metapher der Brandmauer versinnbildlicht sprachlich die Übereinkunft der demokratischen Parteien, die im Grundgesetz verfasste freiheitlich-demokratische Grundordnung vor den Flammen des Rechtsextremismus zu schützen. Dem liegt die historische Erkenntnis zu Grunde, dass völkisch-autoritäre Parteien um jeden Preis von politischer Macht ferngehalten werden müssen. Denn ihr gesamtes politisches Streben zielt darauf ab, die Demokratie zu zersetzen. – Auf die Frage, ob es überhaupt noch eine Brandmauer zur AfD gebe, antwortet Jens Spahn am 30. Januar 2025:
»Ist die Frage, was Sie mit Brandmauer meinen. Wenn Brandmauer heißt ›keine Zusammenarbeit‹: Ja, dann gibt es … Es gibt keine Gespräche, keine Zusammenarbeit, keine Abstimmung, nichts. Das eigentliche Thema ist aber ja ein anderes. Es geht darum, das Feuer zu löschen. Ne Brandmauer ist ja dazu da, ein Feuer aufzuhalten. Was meine ich mit Feuer? Die wegbröckelnde Zustimmung einer Mehrheit in der Bevölkerung zu der Politik, ein massiver Vertrauensverlust, den wir sehen. Die Grünen gießen ja noch Öl ins Feuer, sind Brandbeschleuniger mit Beschlüssen, die Migration noch auszuweiten. Wir wollen das Feuer löschen, indem wir Probleme lösen.«
Es ist unwahrscheinlich, dass Spahn die ursprüngliche Bedeutung der politischen Metapher nicht verstanden hat. Vielmehr ist davon auszugehen, dass er das sprachliche Bild der Brandmauer absichtlich in seinem Sinne umzudeuten versucht. – Für den Christdemokraten sind nicht länger die nationalistisch-autoritären Parteien das Problem. Stattdessen behauptet er: Wer Migration ausweitet, gieße »Öl ins Feuer«.
Die CDU versucht, das politische Koordinatensystem zu verschieben
Im Mai 2018 machte Alice Weidel im Bundestag Migrant:innen und Asylsuchende pauschal verächtlich, indem sie gegen »Burkas, Kopftuchmädchen und alimentierte Messermänner und sonstige Taugenichtse« hetzte. Im Plenum gab es daraufhin laute Proteste. Wolfgang Schäuble erteilte Weidel einen Ordnungsruf. Sie legte Einspruch ein, der jedoch von einer großen Mehrheit der Abgeordneten abgelehnt wurde. – Sieben Jahre später hat auch Jens Spahn kein Problem mehr damit, kriminelle Formen schwerer Gewalt in düsteren Farben auszumalen und pauschal mit Migration zu verknüpfen. Im bereits zitierten Interview führt er aus:
»Ein zweijähriges Kind wurde bestialisch durch einen illegal im Land befindlichen Afghanen ermordet. Es passiert jeden Tag: Gruppenvergewaltigungen, Messerattacken … Hunderte, zigtausende Menschen in Deutschland in ihren Familien, in ihrem Bekanntenkreis kennen mittlerweile auch persönlich sozusagen solche Taten. Und sie wollen eine Begrenzung der Migration. Darum geht es.«
Ein gewisser Rassismus ist in weiten Teilen der Bevölkerung verbreitet. Die Vorbehalte gegen Migrant:innen sind dort besonders ausgeprägt, wo der »Ausländeranteil« besonders niedrig ist. Verantwortungsvolle Politik bestünde auch und gerade für eine konservative Partei darin, rassistische Vorurteile aufzugreifen, zu differenzieren und zerstreuen. – Wer stattdessen wie Spahn pauschalisiert, aufbauscht und Ängste schürt, legitimiert Rassismus und spült Wasser auf die Mühlen der AfD.
Friedrich Merz wendet sich am 31.1.25 im Bundestag mit folgender rhetorischer Frage an Abgeordnete von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke:
»Aber ist das Ihr Ernst, dass wir angesichts der Anschläge in Magdeburg, in Aschaffenburg, der täglich stattfindenden Gruppenvergewaltigungen aus dem Milieu der Asylbewerber heraus …, ist das Ihr Ernst, dass wir angesichts der Tatsache, dass sich mittlerweile Elterngruppen zusammenfinden in ganz Deutschland von Kindern, die von Asylbewerbern Opfer geworden sind von schwersten Straftaten … Ist das Ihr Ernst, dass wir darüber heute in der Mitte des Deutschen Bundestages nicht entscheiden können? Das kann nicht Ihr Ernst sein.« (Einzelne Satzbestandteile musste Friedrich Merz aufgrund lauter Zwischenrufe wiederholen, diese Wiederholungen wurden zur besseren Lesbarkeit ausgelassen.)
Rassistische Hetze erhält die Zustimmung von Union, AfD und FDP
Am Nachmittag des 29. Januar brachte die Union einen Entschließungsantrag in den Deutschen Bundestag ein. Flucht und Migration werden darin als einzige und maßgebliche Ursache für die »abscheuliche Mordtat von Aschaffenburg« benannt: »Die aktuelle Asyl- und Einwanderungspolitik gefährdet die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger und das Vertrauen der gesamten Gesellschaft in den Staat.« Implizit werden somit in rassistischer Weise nicht nur Asylsuchende, sondern pauschal alle Eingewanderten unter Generalverdacht gestellt. Ein Hinweis auf unzureichende Unterstützungs- und Betreuungsangebote für schwer traumatisierte und psychisch kranke Menschen mit Fluchthintergrund findet sich in dem Antrag nicht. Auch behördliches Versagen bei der Anwendung geltenden Rechts wird mit keinem Wort erwähnt.
In dem CDU-Beschlussantrag findet sich der folgende, durchaus zutreffende Satz: »Die AfD nutzt Probleme, Sorgen und Ängste, die durch die massenhafte illegale Migration entstanden sind, um Fremdenfeindlichkeit zu schüren …«. Dass die AfD diese Formulierung billigt, ist ein Beispiel bemerkenswerter politischer Aufrichtigkeit. Doch warum fällt weder Union noch FDP auf, dass sie mit ihrem Rundumschlag gegen Asylsuchende und zugewanderte Menschen mitnichten »Populisten ihre politische Arbeitsgrundlage« entziehen, sondern selbst im Stil der AfD »Fremdenfeindlichkeit (…) schüren«?
Eine unheimliche Koinzidenz
Am Vormittag des 29.1.25 wurde der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz gedacht. Zum 80. Jahrestag berichtete der Zeitzeuge Roman Schwarzmann nicht nur von seinen Erinnerungen an die Internierung in Auschwitz, sondern auch über die Schikanen und Ausgrenzungen, denen Menschen jüdischen Glaubens unter den Nazis ausgesetzt waren. Schwarzmann beschließt seine Ausführungen mit einem Appell:
»Die Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus muss für uns ein Leitgedanke sein und uns dazu verpflichten, eine Zukunft aufzubauen, in der Menschlichkeit und Gerechtigkeit keine leeren Worte sind.«
Am Nachmittag des 29.1. verabschiedet der Bundestag den genannten offenkundig rassistischen Entschließungsantrag mit den Stimmen von CDU/CSU, FDP und AfD. Die AfD jubelt. Friedrich Merz scheint zu dämmern, dass er sich trotz eines hervorragenden Blattes verzockt hat. Tatsächlich ist die Frage berechtigt, ob es für den Sauerländer und seine Union bei dieser Abstimmung überhaupt etwas zu gewinnen gab. Schon am Mittwoch von der rot-grünen Minderheit überstimmt zu werden, hätte schließlich auch kein gutes Bild abgegeben. Während die CDU/CSU-Fraktion nach der gewonnenen Schlacht eher betreten dreinblickt, stürmt der AfDler Bernd Baumann eilig ans Rednerpult und ruft in übelster Goebbels-Manier¹ den Beginn einer neuen Epoche aus:
»Dies ist wahrlich ein historischer Moment. Herr Merz, Sie haben geholfen, den hervorzubringen. (…) Jetzt und hier beginnt eine neue Epoche. Jetzt beginnt was Neues. Und das führen wir an. Das führen die neuen Kräfte an. Das sind die Kräfte von der AfD. Sie können folgen, Herr Merz, wenn Sie die Kraft dazu haben.«
Sprung über die Brandmauer
Kurz nach dem tragischen Anschlag in Aschaffenburg meldete sich Merz markig zu Wort:
»Ich werde im Fall meiner Wahl zum Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland am ersten Tag meiner Amtszeit das Bundesinnenministerium im Wege der Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers anweisen, die deutschen Staatsgrenzen zu allen unseren Nachbarn dauerhaft zu kontrollieren und ausnahmslos alle Versuche der illegalen Einreise zurückzuweisen.«
Dieses bemerkenswerte Zitat, das der Christdemokrat übrigens auch über die Plattform X verbreiten ließ, liest sich im Nachhinein wie das Vorspiel zur Tragödie des 29. Januar. Es ist bezeichnend für den Politikstil des CDU-Kanzlerkandidaten und wirft vielerlei Fragen auf: Verfügt Merz über die kommunikativen Fähigkeiten, um auf Augenhöhe Kompromisse auszuhandeln?
Orientiert er sich gar an der Amtsführung Donald Trumps? Welche Minister und vor allem welche Koalitionspartner sind bereit, sich vom ersten Tag an von einem …, sagen wir …, resoluten Bundeskanzler herumkommandieren zu lassen? Fühlt sich eine Regierung Merz an die Europäischen Verträge gebunden? Ist es politisch sinnvoll, wenige Monate nach der Inauguration Donald Trumps eine der größten europäischen Errungenschaften, das Abkommen von Schengen, abzuwickeln und wieder Schlagbäume hochzuziehen? Welche Folgen hätte das für die deutsche Volkswirtschaft und welche Kosten würde es verursachen? Daraus ergeben sich weitere Fragen: Ist Merz überhaupt in der Lage, gleichermaßen nationale und internationale Erfordernisse im Blick zu behalten? Wie ist es um sein Vermögen bestellt, vielschichtige politisch-ökonomische Problemlagen vollständig zu durchdringen und differenziert zu beurteilen?
Mit Karacho …
Friedrich Merz rechtfertigt den Sprung über die Brandmauer mit einem Verweis auf sein Gewissen. Tatsächlich scheint Merz die desaströsen Folgen seines politischen Handelns im Vorfeld nicht annähernd vorhergesehen haben, was auf erstaunliche strategische Defizite hindeutet. Wenn wir die Schäden an der politischen Kultur einmal beiseite lassen, hat Merz durch seine Aktionen im Bundestag am 29. und 31. Januar die Zivilgesellschaft in ihrer ganzen Breite gegen sich aufgebracht, die Union gespalten, liberale Merkel-Fans in die Arme der politischen Konkurrenz getrieben und die AfD gestärkt. Gewissensentscheidungen betreffen in aller Regel höchst persönliche Angelegenheiten. Wie kann ein Spitzenpolitiker auf die Idee kommen, sich in einer derart brisanten und aufgeheizten Debatte von großem öffentlichen Interesse auf sein Gewissen zurückzuziehen?
In verantwortlicher Weise Politik zu gestalten, hat viel damit zu tun, die Erwartungen der eigenen Wählerschaft zu kennen und zu steuern. Wird Merz die Geister jemals wieder los, die er rief? Vieles spricht dafür, dass die AfD ihn an seinen Aussagen messen und fortan vor sich hertreiben wird. Beim Blick in die Zukunft sind prinzipiell zwei Szenarien denkbar: Szenario Österreich: Die CDU/CSU pfeift weiterhin auf die Brandmauer und verschärft unter Friedrich Merz ihren Ton in der Asyl- und Migrationspolitik immer weiter. Da die Koalitionsverhandlungen mit SPD und Grünen scheitern müssen, führt Merz in der kommenden Legislaturperiode eine Minderheitsregierung und muss sich dabei hin und wieder auch von der AfD tolerieren lassen. Szenario Merkel 2.0: Die Brandmauer wird durch den Tabubruch letztendlich gestärkt. Nach einem schlechten Wahlergebnis deutlich unter 30% wenden sich die Christdemokraten wieder der politischen Mitte zu und treten in eine Koalition mit SPD oder Grünen ein. Mit Merz als Kanzler ist eine solche Option derzeit allerdings schwer vorstellbar.
Die Bundestagssitzungen vom 29. und 31.1. markieren einen Einschnitt und werden den Ausgang der Bundestagswahl am 23. Februar massiv beeinflussen. Wie sehr profitiert die AfD von Merz‘ dilettantischer Politik? Können SPD und Grüne die Union doch noch überflügeln? Über allem schwebt die Frage: Was wird künftig aus der Brandmauer? Durchschreitet die künftige Bundesregierung das »Tor zur Hölle« (Mützenich)? – Das Schlusswort dieses Essays gebührt Roman Schwarzmann; ebenfalls am 29.1.25 sagte er im Deutschen Bundestag:
»Ich war im Ghetto. Ich habe den Teufel gesehen. Und ich sage: Wir überschätzen ihn sehr! Seine Kraft ist nicht größer als die, die wir ihm geben.«
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¹ Den Beginn einer neuen Epoche thematisierte Goebbels beispielsweise am 10.5.1933 anlässlich der Bücherverbrennung: »So bitte ich Euch denn, meine Kommilitonen, hinter das Reich und hinter seine neuen Autoritäten zu treten; (…) so ersuche ich Euch, in diesen Flammen nicht nur das Symbol des Niedergangs der alten Epoche, sondern auch des Aufstiegs der neuen Epoche zu erkennen.«
Links
- Debatte um Unionsanträge – Interview Jens Spahn, CDU, Fraktionsvize, Interview mit Tobias Armbrüster (Deutschlandfunk am 30.1.25).
- Deutscher Bundestag: Weidel-Einspruch gegen Ordnungsruf mit 549 Stimmen abgelehnt, 17. Mai 2018.
- Deutscher Bundestag: Entschließungsantrag der Union vom 29.1.2025 (Drucksache 20/14698 vom 28.1.2025).
- Friedrich Merz: Rede vom 31.1.25 im Deutschen Bundestag (ca. ab Minute 8 Sekunde 16/YouTube).
- Rede von Roman Schwarzmann am 29.1.25 im Deutschen Bundestag.
- Rede von Bernd Baumann in der 209. Sitzung des Deutschen Bundestags vom 29.1.25, TOP2 Befragung der Bundesregierung (BMEL und BMZ).
- Rede von Joseph Goebbels vom 10.5.1933 auf dem Opernplatz in Berlin.
- Friedrich Merz: Posting vom 23.1.25 auf der Plattform X.
- Erklärung von Angela Merkel zur Abstimmung am 29.1.25 im Deutschen Bundestag.
Bildnachweis
Eigene Collage unter Verwendung folgender Vorlagen: