Dieter Hallervorden inszenierte zum ARD-Jubiläum seinen bekanntesten Sketch aus der Slapstick-Show Nonstop-Nonsens neu: Zwei Sträflinge vertreiben sich die Zeit, indem sie Kaufmannsladen spielen. Zunächst übernimmt Hallervorden die Rolle des Kunden, dann die des Verkäufers. Es geht um Pommes Frites. Durch sein Spiel definiert er die Einrichtung des Ladens. Die Pointe liegt darin, dass Hallervorden konsequent auf der Verwendung des Wort »Flasche« anstelle von »Tüte« besteht. Den Klang der Ladenglocke imitiert der als »Didi« in den 1970ern berühmt gewordene Schauspieler, Kabarettist und Theaterdirektor mit dem Kunstwort: »Palim Palim«.
In der Neuauflage dieses Sketches suggeriert Hallervorden in seiner Rolle als Sträfling gleich zu Beginn, aufgrund der Verwendung des N- und des Z-Wortes verurteilt worden zu sein. Dafür erntete er in den »sozialen« Medien zurecht viel Kritik. – Wie schade, dass Hallervorden die Gelegenheit verpasste, zum letzten Mal in die Rolle des »Didi« zu schlüpfen, um all seinen Fans eine Freude zu machen.
Wörter und ihre Bedeutung: Das Spiel mit dem Zufall
In der Kurzgeschichte »Ein Tisch ist ein Tisch« erzählt Peter Bichsel von einem alten Mann, der aus Überdruss damit beginnt, Dingen neue Namen zu geben. Das Bett bezeichnet er als »Bild«, den Stuhl nennt er fortan »Wecker« und den Tisch »Teppich«.
»Am Morgen verließ also der Mann das Bild, zog sich an, setzte sich an den Teppich auf den Wecker und überlegte …«
Die Geschichte illustriert eine wichtige Erkenntnis des Sprachwissenschaftlers Ferdinand de Saussure: Das Verhältnis zwischen sprachlichen Zeichen, also Buchstaben- und Lautfolgen (»Signifians«), und den Dingen und Sachverhalten, die von Sprache bezeichnet werden (»Signifié«), ist zufällig oder arbiträr. Ein länglicher Gegenstand aus Wachs mit einem Docht wird lediglich aus Konvention »Kerze« genannt. – Wir könnten ihn auch »Vogel« nennen.
Die offene Flanke unserer Sprache
Bei konkreten Gegenständen ist Arbitrarität letztendlich unproblematisch für das Gelingen von Kommunikation. Allenfalls führt es zu lustigen Verwechslungen, wenn Kleinkinder Laute vertauschen und »Krötchen« statt »Brötchen« sagen. Schwieriger wird es bei abstrakten Begriffen: Eine Person verbindet mit dem Wort »Glück« ein Stück Sahnetorte, die andere einen Bungee-Sprung. Wenn Schillers Marquis Posa dem König entgegen schleudert: »Geben Sie Gedankenfreiheit«, dann meint er damit das Menschenrecht, die eigenen Gedanken frei entfalten zu dürfen.
»Don Carlos« wurde 1787 uraufgeführt. Über Hunderte von Jahren herrschte großes Einvernehmen darüber, was unter Gedankenfreiheit zu verstehen ist und was nicht. Sogar reaktionäre politische Kräfte, denen das Grundrecht missfiel, waren sich mit den progressiven Kräften zumindest darin einig, worüber man uneinig war. – In jüngster Zeit erweist die Arbitrarität der Sprache sich allerdings als ihre offene Flanke. Demokratiefeindliche politische Kräfte von Rechtsaußen blasen zum Angriff. Die epochale Neuformatierung medialer Öffentlichkeiten im Zuge des Abschieds vom Papierzeitalter spielt ihnen in die Karten. – Was ist eigentlich aus dem alten Mann in Peter Bichsels Geschichte geworden?
Begrenzte Meinungsfreiheit?
Meinungsfreiheit schützt das individuelle Recht, die eigene Meinung zu äußern. Wer das tut, muss mit Widerspruch leben, denn in der Gegenrede findet die Meinungsfreiheit des Mitmenschen ihren Ausdruck. Wenn beispielsweise Boris Palmer sich in diskriminierender Weise äußert und auf Nachfrage daran festhält, muss er mit der Kritik seiner damaligen Parteifreund‘innen leben. Dennoch wurde Boris Palmer als Tübinger Bürgermeister wiedergewählt und ist als erfolgreicher Kommunalpolitiker ein lebender Beweis dafür, dass in Deutschland niemand wegen einer Meinungsäußerung vor Gericht gestellt wird.
Ein rhetorischer Taschenspielertrick geht viral
Hinter der Klage über Wokeness (»Das wird man doch wohl noch sagen dürfen«) verbirgt sich in aller Regel der Ärger darüber, dass diskriminierende Aussagen nicht unwidersprochen bleiben. Dieser Unmut ist auch in der Mitte der Gesellschaft verbreitet und wird von rechtsextremer Seite aufgegriffen und instrumentalisiert. Dabei setzen die Rechtsextremen auf eine besonders schillernde rhetorische Figur mit außerordentlich hohem manipulativen Potenzial:
»Ich werde unterdrückt, ich darf nicht sagen, dass …«
Wer so »argumentiert«, stellt die Existenz von Meinungsfreiheit fälschlicherweise in Abrede und nimmt sie gleichzeitig in Anspruch. Außerdem munitionieren rechtsextreme Demokratiefeind’innen ihre Anhänger mit politischen Kampfbegriffen wie »Lügenpresse« und »Meinungsdiktatur«. – Wenn J.D. Vance fehlende Meinungsfreiheit in Europa anprangert, erinnert er fatal an den alten Mann aus Peter Bichsels Kurzgeschichte. Schließlich möchte der Yale-Jurist dem Wort Meinungsfreiheit eine neue Bedeutung verpassen. Demokratiefeindliche, rechtsextreme Politiker’innen, die sich zum Opfer einer vermeintlichen »Meinungsdiktatur« stilisieren, streben danach, die Freiheit missliebiger Meinungen zu beschneiden und die Deutungsmacht über die Sprache zu erlangen.
Leitbild: Käfigkampf
Einen wichtigen Einschnitt im Kampf um die Sprache stellt die Übernahme des Kurznachrichtendienstes Twitter durch Elon Musk dar. Zuallererst feuerte er Faktenchecker’innen und lässt seither die einstmals renommierte Plattform zu einem Gruselkabinett von rechtsextremer Hetze und Desinformation verkommen. Worte werden weich gekocht, an Begriffen wird gezerrt und gezogen, bis ihre sicher geglaubten Bedeutungen wackelig werden.
In solchen sprachlichen Biotopen potenziert sich die destruktive Kraft von malignen Chatbots, Trollen und Rechtsextremen. Algorithmen haben die Kraft, menschenfeindliche Narrative in rhetorische Hexenküchen zu verwandeln. Elon Musk verkündete die Twitter-Übernahme mit dem Tweet: »The Bird is freed«. Bezeichnenderweise ixte er kurze Zeit später das Vögelchen aus dem Logo. – Was hat Musk entfesselt? Die politische Kultur bewegt sich in Richtung Käfigkampf.
Lanz vom 28.Mai 2025: »Nonstop Nonsens 2.0« ?
Leider verfängt das Narrativ der angeblich bedrohten Meinungsfreiheit auch in der Mitte der Gesellschaft, was man daran erkennen kann, dass Markus Lanz kürzlich Boris Palmer, Renate Künast, Ulf Poschardt und Maren Urner zum Thema »Meinungsfreiheit und ihre Grenzen« in seine Talkshow eingeladen hat. Allein die Themensetzung wertet das von Rechtsaußen gesetzte Narrativ der vermeintlich begrenzten Meinungsfreiheit auf.
Ein wichtiger Referenzpunkt der Diskussion ist eine Allensbach-Studie über die gefühlte Meinungsfreiheit in Deutschland: 44 Prozent der Befragten haben das Gefühl, dass man heute in Deutschland besser vorsichtig mit der freien Meinungsäußerung sein sollte. Demgegenüber haben lediglich 40 % das Gefühl, frei reden zu können. Die Studie belegt tatsächlich den Erfolg der bereits zitierten manipulativen rhetorischen Figur: »Ich werde unterdrückt, ich darf nicht sagen, dass …«. Allerdings sagt die Studie nichts … gar nichts … überhaupt gar nichts über die tatsächliche Meinungsfreiheit in Deutschland aus. Gleichwohl haben Gefühle eine hohe politische Relevanz, denn sie beeinflussen das Denken: Allein der Zweifel an der Meinungsfreiheit untergräbt das Vertrauen in die Demokratie. Obwohl Maren Urner gleich zu Beginn auf die sehr wichtige Unterscheidung zwischen gefühlter und tatsächlicher Meinungsfreiheit hinweist und vor einer selbsterfüllenden Prophezeihung warnt, muss im weiteren Verlauf der Sendung die Studie wieder und wieder dafür herhalten, wie bedroht doch die Meinungsfreiheit in Deutschland sei. – Palim Palim.
Der Mythos vom Hufeisen
Doch damit nicht genug. Unerträglich ist, dass linke Stimmen auf der einen und demokratiegefährdende rechtsextreme Hetze auf der anderen Seite fröhlich in einen Topf geworfen werden. Diesem eklatanten Fehler liegt die Hufeisenannahme zugrunde. Diese geht davon aus, dass sehr linke und rechtsextreme Positionen einander ähneln und die Demokratie in vergleichbarer Weise gefährden. Einer überstandenen NS-Diktatur zum Trotz ist die Hufeisenannahme einfach nicht aus den Köpfen zu kriegen.
Peter Dausend und Horand Knaub schildern bereits 2020 in ihrem Buch über Bundestagsabgeordnete, in welch aggressiver und vulgärer Weise weibliche Mandatsträgerinnen in der digitalen Sphäre angefeindet werden. Dass vor allem gegen grüne Politiker’innen während der Ampelzeit konzertierte Online-Hasskampagnen gefahren wurden, ist inzwischen ein alter Hut, trotzdem spielt all das in der Sendung kaum eine Rolle. Auch Renate Künast verpasst leider die Gelegenheit, die politische Dimension und die neue Qualität von rechtsextremer sprachlicher Hass-Gewalt im Netz in aller Deutlichkeit auszubuchstabieren. Stattdessen breitet sich Welt-Verleger Ulf Poschardt über die Empfindlichkeit grüner Spitzenpolitiker’innen aus, weil sie sich durch Anzeigen gegen Beleidungen zur Wehr setzten. Als der Weltmann auch noch anfängt, die aktuelle Lage in den Vereinigten Staaten zu verharmlosen, wird er von Markus Lanz gestoppt. Endlich.
Kerzen im Wind
Dieter Hallervorden hat inzwischen den neuen Bundeskanzler angezeigt. Es geht um Friedrich Merz‘ Drecksarbeit-Aussage. In der Klageschrift heißt es: »Anfang 1942 hatte SS-Obersturmführer August Häfner die Massenerschießung von 34.000 jüdischen Menschen innerhalb von 48 Stunden in Babi Jar mit eben derselben zynischen Wortwahl als ›Drecksarbeit‹ gerechtfertigt.«
Und der alte Mann aus Bichsels Kurzgeschichte? Vielleicht steht er irgendwo da draußen und nennt es Meinungsfreiheit, wenn er sich überall – Palim Palim – eine Flasche Pommes Frites kaufen kann. – Unsere Sprache ist verletzlich. Deshalb sollten wir besser auf sie aufpassen und ihr von Zeit zu Zeit das Gefieder richten.
Links
- Peter Bichsel: Ein Tisch ist ein Tisch. Aus: Peter Bichsel: Kindergeschichten. Neuwied (luchterhand) 1973. (Der Text der Geschichte ist an verschiedenen Stellen im Internet zu finden.)
- Lanz vom 28.5. in der ZDF-Mediathek.
- Bricht die Mauer des Schweigens? (S.73) Allensbach-Studie Freiheitsindex 2023.
- tazBlog Zylinderkopf-Dichtung: Wem gehört die Öffentlichkeit, Essay vom 21.8.23
- Gareth Joswig: Rechtsextremes Werk und Dobrindts Beitrag, taz-Artikel über politische Gewalt vom 20.5.2025.
- Andreas Speit: Bedohungs-Allianz von Rechts, taz Artikel vom 11.5.24.
- Peter Dausend/Horand Knaub: »Alleiner kannst du gar nicht sein«, München (dtv) 2020.
- Hallervorden weist Rassismus-Vorwurf von sich. ZDF am 7.4.25.
- Hallervorden verklagt Merz wegen »Drecksarbeit«-Aussage. Berliner Morgenpost vom 21.6.25
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