Die EU unterhält seit der Auflösung der EUNAVFOR MED Operation SOPHIA zwar noch Schiffe der Mitgliedstaaten, allerdings patroulliert die neue Operation IRINI nicht mehr im zentralen Mittelmeer und damit nicht auf der „Migrationsroute“, wo sich die meisten Seenotfälle ereignen. Stattdessen werden so wie schon in den letzten Jahren der sogenannten libyschen Küstenwache verstärkt Schiffe zur Verfügung gestellt, die sie dann selbstständig unterhält und im zentralen Mittelmeer einsetzt.
Fall 4: Du erkennst einen Pull-Back, wenn Du ihn hörst
Am 14.07.2020 war die Moonbird mit fast leeren Tanks nach einer Mission schon im Landeanflug auf den Flughafen in Lampedusa, als Neeske Beckmann (Tactical Coordinator und Head of Mission der Moonbird Operationen) einen Funkspruch hörte: “Go north, go north! Turn 360 degrees!” Der Tonfall und auch die Dringlichkeit, mit denen der Funkspruch durchgegeben wurde, alarmierten Neeske. Als erfahrene Tactical Coordinator konnte sie erkennen, dass hier ein Flugzeug und ein Schiff offensichtlich über einen Seenotfall kommunizierten. Die Geräusche des Flugzeugs waren als solche im Funkspruch klar zu erkennen, obschon es sich um Marinefunk handelte. Die Crew der Moonbird hatte außerdem dieselbe Stimme kurz vorher über den Flugfunk gehört: Dort hatte sich das Flugzeug als Flugzeug der Armed Forces Malta (AFM) zu erkennen gegeben und dem maltesischen Rescue Coordination Center (RCC Malta) mitgeteilt, dass sie nicht in die libysche Rettungszone wechseln würden, obschon sie sich scheinbar am Rand dieser Zone aufhielten (die Grenzen der Rettungszonen sind auf dem Wasser wie in der Luft identisch und das Wechseln zwischen den Zuständigkeiten wird dokumentiert). Nun kommunizierte das Flugzeug allerdings mit dem Patrouillenboot Ras Jadar der sogenannten libyschen Küstenwache in der libyschen Rettungszone, das sich scheinbar unweit der maltesischen Rettungszone aufhielt. In den folgenden Mitteilungen forderte das Flugzeug die sogenannte libysche Küstenwache auf, „7 miles“ weiter nach Norden zu fahren. Als dann scheinbar Sichtkontakt zwischen dem maltesischem Flugzeug und dem libyschem Patrouillenboot hergestellt war, konnte die Moonbird-Crew hören, dass das Flugzeug das Boot führte: „follow follow“ und „go go“. Ras Jadar fragte immer wieder zurück: “Are you with me?!” und erhielt die beruhigende Antwort: “I’ll stay with you, I”ll stay with you, no problem, no problem!”.
Wie doch sein kann, was nicht sein darf
Aufgrund des eigenen Landeanflugs konnte die Crew nicht bildlich dokumentieren, wie das Patrouillenboot der sogenannten libyschen Küstenwache in die maltesische Rettungszone fuhr und wie es dem Seenotfall dort im Verlauf erging. Da sich das Flugzeug allerdings offensichtlich kurz vorher in der maltesischen Rettungszone aufgehalten hatte und nicht in die libysche wechseln wollte, kann davon ausgegangen werden, dass sich das Patrouillenboot Richtung Norden in die maltesische Rettungszone bewegte und einen Pull-Back nach Libyen durchgeführt hat. Ein Tweet des UNHCR später am selben Tag über die Rückkehr von 86 Menschen nach Libyen lässt ebenfalls darauf schließen.
Libyen hat im Gegensatz zu Malta die Genfer Konvention nicht unterschrieben und muss sich somit auch nicht daran halten. Das Land wurde außerdem als nicht-sicher für Asylsuchende eingestuft. Europäische Flugzeuge – beispielsweise von der AFM oder Frontex – arbeiten deswegen gerne mit der sogenannten libyschen Küstenwache zusammen und führen sie wie in diesem vierten Fall der Reihe #CrimesOfMalta zu Seenotfällen. Die Menschen werden dann nach Libyen verschleppt, anstatt in ein sicheres EU-Land gebracht zu werden, wo sie Asyl beantragen könnten. Da diese Zusammenarbeit letztendlich illegal ist, sind Zeug*innen wie die Moonbird unerwünscht.
Nahezu spurlose Verbrechen
Seitdem Sea-Watch mit der Moonbird und inzwischen mit der Seabird ebenfalls im Luftraum über dem Mittelmeer unterwegs ist, werden bei Push-und Pull-Backs dieser Art keine klaren Positionen mehr durchgegeben. Auf diese Weise ist es für die Flugzeuge der NGO nahezu unmöglich den Ort der illegalen Rückführung zu finden und zu dokumentieren, was vor Ort passiert. Die Organisation achtet deswegen noch mehr als früher darauf, mit allen zivilen Akteuren rund um das Mittelmeer vernetzt zu sein, täglich libysche und tunesische Medienspiegel zu erstellen und möglichst alle Informationen zusammen zu tragen. Sea-Watch macht das, damit es eine umfassende Dokumentation der Seenotfälle und damit einhergehender Verbrechen im Mittelmeer gibt. Nachträglich fliegen die Flugzeuge von Sea-Watch dann über die Bereiche, die sie aus dieser Fülle von Informationen als Orte von Seenotfällen rekonstruiert haben: “Wir finden dann häufig nur leere Boote herumtreiben. Wenn da dann der Motor fehlt, kann man sich ziemlich sicher sein, dass die sogenannte libysche Küstenwache am Werk war und die Menschen zurück nach Libyen gebracht hat.”, schlussfolgert Neeske aus ihrer Erfahrung. Leichen findet die Crew eher selten: An Land gespült, werden sie nur bei einem Tod in direkter Küstennähe oder wenn sie Schwimmwesten tragen, denn Leichen sinken nach zwei Stunden erst einmal ab. Manchmal tauchen sie nach einer Woche wieder auf, wenn sich die entsprechenden Gase gebildet haben – aber dafür muss der Körper intakt bleiben, was bei tiefem Gewässer mit entsprechender Tierwelt eher die Ausnahme ist.
Wo keine Klagenden, da keine Richtenden
Seit die Moonbird-Crew gezielt die Kooperationen zwischen der EU und der sogenannten libyschen Küstenwache dokumentiert, wurde die Moonbird schon im letzten Jahr immer wieder von den italienischen Behörden am Fliegen gehindert. Tweets über die RCC Italien, Griechenland oder Malta waren meist direkt gefolgt durch vermehrte Kontrollen, eine Durchsuchung bei Landung in Griechenland, Flugzeuginspektionen oder sonstigen polizeilichen Ermittlungen gegen die Crew. Auch zivile Akteure wie der Flughafen der italienischen Insel Pantelleria wurden unter derartigen Druck gesetzt, dass die Moonbird dort nicht mehr tanken konnte.
Während des Lockdowns wegen der Corona-Pandemie gab es auch in Italien keine Seenotrettung. Die Moonbird startete deswegen so bald wie möglich wieder mit ihren Aufklärungsflügen und sichtete in diesem Sommer bereits 58 Boote mit insgesamt 3001 Mensch. So viele wie seit 2016 nicht mehr: “Wir beobachten regelmäßig, wie insbesondere die Armed Forces Malta mit allem, was sie aufbringen können und wirklich sehr perfiden Methoden, die Menschen wieder nach Libyen verschleppen lassen. Wir haben aber auch dokumentiert, wie Italien versucht, sich aus jeglicher Verantwortung heraus zu winden – Malta und Italien spielen da auch gern Ping-Pong mit ihren Zuständigkeiten.”, resümiert Neeske.
Am 04.09. wurde der Moonbird nun durch Italien die Flugerlaubnis entzogen. Man möchte keine Zeug*innen und Klagende erst recht nicht. Glücklicherweise hatte Sea-Watch schon ein zweites Flugzeug angeschafft: Die Seabird ist ein größeres Flugzeug, kann fast doppelt so lange fliegen wie die Moonbird und insofern auch außerhalb von Italien starten. Eine Woche nachdem die Moonbird festgesetzt wurde, konnte die Seabird schon loslegen. Ziel ist es trotzdem, die Moonbird frei zu klagen, so Neeske: “Diesmal habe ich noch Hoffnung, dass wir mit der Klage Erfolg haben. Aber ein zweites Mal werden wir das vielleicht nicht schaffen, denn wir sind den Regierungen, die im Mittelmeer ansonsten unbehelligt gegen Menschenrechte verstoßen, ein wirklicher Dorn im Auge!”
Wenn die Grenze nun ein Raum ist?
Die bisherigen Auseinandersetzungen mit Subjektivität und den damit einhergehenden gesellschaftlichen Grenzziehungen, die ich in den vorangegangenen Artikeln dargestellt habe, differenzieren zwar die Bereiche, die diesseits und jenseits einer Grenzen liegen, aus, verharren jedoch in dieser Dichotomie. Es gibt in dieser Perspektive nur die Möglichkeit Subjekt zu sein oder es nicht zu sein, anerkennbar oder nicht-anerkennbar zu sein, tötbar oder nicht zu sein, betrauerbar oder nicht-betrauerbar zu sein. Dichtotome Ansätze funktionieren allerdings nicht, um uneindeutige oder sich widersprechende Sachverhalte zu erkennen wie beispielsweise Recht, das gesetzt wurde, aber trotzdem nicht existiert. Der Ethnologe Hans-Peter Duerr eröffnet den Blick auf das Dazwischen, auf die Grenze als Raum selbst und als Zone der Ununterscheidbarkeit. Duerr geht dabei methodisch ähnlich vor wie Foucault, indem Narrative ausdifferenziert werden, anhand derer ein aktueller gesellschaftlicher Zustand verstanden werden kann. Foucault nutzt dafür historische Beispiele, Duerr bezieht zusätzlich tradierte Mythen und Märchen mit ein.
Die Hexe und die Zeug*innen
Auf diese Weise bildet Duerr eine Figur, formt eine Identität aus, die den Grenzbereich bewohnt. Er bedient sich dafür der Figur der Hagazussa, der Hexe, die das mittelalterliche Dorf regelmäßig verließ, um eigenständige Erfahrungen mit der Wildnis zu machen und von dort Kräuter mit in die Begrenzung des Dorfes brachte. Für dieses Verhalten, das Wandeln zwischen sicheren und unsicheren Räumen, wurde sie bestraft, indem sie auf den Grenzzaun zwischen Dorf und Wildnis gesetzt und dort angezündet wurde. So entstand das Bild der Zaunreiterin, der fliegenden Hexe, die auf einem Besenstiel reitet. Die Figur der Hagazussa ist nicht auf dieses historische Bild reduziert, sondern formt verschiedene Identitäten aus, die zwischen dem vollständig anerkannten Subjekt und dem ausgeschlossenen Leben existieren kann. Anders als das ausgeschlossene Leben, kann diese Identität Anerkennung finden, sichtbar und gehört werden. Allerdings ist ihre Situation jederzeit bedroht und kein bisschen stabil. Ein alltäglicheres Beispiel für die Hagazussa sind Zeug*innen internationaler Konflikte, es kann sowohl ein*e Kriegsfotograf*in als auch ein*e lokale Medienaktivist*in, ein*e ehrenamtliche*r Unterstützer*in, ein Mitglied der Moonbird-Crew ebenso wie Geflüchtete sein. Unabhängig von welcher Seite des Zauns sie ursprünglich in den Grenzraum kamen, bewegen sie sich nun zwischen anerkennbaren und nicht-anerkennbaren Subjekten, zwischen verschiedenen Ebenen des Rechts und seiner Umsetzung. Zeug*innen ermöglichen ein gegenseitiges Vermitteln von Perspektiven und damit ein individuelles Abwägen von Normen. Bezeichnend ist an dieser Stelle zu erwähnen, dass insbesondere die Flugzeuge von Sea-Watch immer wieder am Fliegen gehindert werden, denn man möchte keine Zeug*innen im zentralen Mittelmeer. Der Grenzraum soll ungehindert dafür genutzt werden, Menschen zum Verschwinden zu bringen, die für Europa keinen Wert darstellen.
Wer mit den Hexen fliegt…
Duerr exploriert damit eine mögliche dritte Form der Identität und Subjektkonstitution, die sich zwischen anerkennbar/nicht anerkennbar, lebenswert/nicht lebenswert bzw. wir/den Anderen bewegt. Dieser Grenzbereich wird nur von denjenigen bevölkert, die nicht eindeutig zuzuordnen sind oder die Stabilität ihrer Identität aufs Spiel setzen. Diese Perspektive und Verletzlichkeit eröffnet die Möglichkeit, feine Nuancen innerhalb beider an den Grenzraum anschließender Bereiche festzustellen und auszudifferenzieren. Allerdings drohen dadurch auch die Dispositive zu verschwimmen, was eine Unsicherheit der festen Raster „wahr“ und „falsch“ mit sich bringt. Die Grenzgänger*innen eröffnen einen Übergang zwischen diesen klar abgegrenzten Bereichen, sie ermöglichen das Wahrnehmen des Dahinterliegenden – die Hagazussa, die auf dem Zaun zwischen Dorf und Wildnis reitet ebenso wie die Zeug*innen der Moonbird-Crew, die durch Methoden der Zivilisation von Barbarei und Wahnsinn berichten. Sie zu begleiten, das Zeugnis mit zu vollziehen, kann bedeuten, eine schwerwiegende Erschütterung der eigenen stabilen Identität zu erfahren, da die westliche Dichotomie von Identität aufgegeben werden muss.
Gerade deswegen brauchen wir sie, die Zeug*innen vom Mittelmeer, die uns tagtäglich von all dem berichten, was es für uns eigentlich nicht geben kann.
Siehe auch:
#CrimesOfMalta: Menschenrechtsverletzungen in der EU
#CrimesOfMalta I: RCC Malta – zu busy für Seenotrettung
#CrimesOfMalta II: Wie viele Zeichen ist ein Menschenleben wert?
#CrimesOfMalta III: Schwimmwesten statt Asyl
#CrimesOfMalta V: Zurück zur „Müllhalde“ Europas
#CrimesOfMalta VI: Schleusung von Menschen ist Staatssache
#CrimesOfMalta VII: Menschenrechte oder Heldentum?
#CrimesOfMalta VIII: Seid Ihr endlich tot?