vonfini 10.11.2020

Finis kleiner Lieferservice

Eine philosophische Werkzeugprüfung anhand gesellschaftlicher und politischer Phänomene.

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In der Nacht auf den 24.07.2020 schickte die Initiative Watch the med – Alarmphone eine E-Mail an die italienischen und maltesischen Behörden wegen eines Seenotfalls im der maltesischen Rettungszone: Ein Schlauchboot mit 108 Menschen trieb mit kaputten Motoren auf dem Mittelmeer, einige Menschen an Bord waren krank, auch Wasser und Essen waren knapp. Sea-Watch erhielt diese E-Mail in CC, sodass sich die Moonbird am nächsten Morgen umgehend auf die Suche nach dem Schlauchboot begab.

Fall 9: Wer wird gerettet?

Air Liaison Officer (ALO) war an diesem Tag Lina, die seit einem Jahr bei Sea-Watch arbeitet. Als ALO koordiniert Lina die Kommunikation mit den zuständigen Rescue Coordination Centers (RCC) für die Moonbird-Crew vor und während einer Mission. Da die ALO von Sea-Watch und auch andere Organisationen wie Alarmphone seit 2018 eigentlich keine Informationen mehr zu Notfällen bekommen, sondern ihre Anrufe entweder ignoriert und abgeblockt werden, bleiben häufig nur noch E-Mails als Medium, um wenigstens die Koordinaten der Seenotfälle durchzugeben und die rechtliche Verpflichtung zur Rettung aufzuzeigen.  Lina versuchte auch in diesem Fall das maltesische RCC anzurufen, um mehr Informationen über den Fall zu bekommen und einschätzen zu können, ob eines der RCC seiner Pflicht, Seenotrettung zu koordinieren, vielleicht doch nachkam. Niemand reagierte auf ihre Anrufe.

Über Funk hörte jedoch die Moonbird-Crew, dass die Armed Forces Malta (AFM) bereits in dem Fall aktiv waren: Sie hatten den unter italienischer Flagge fahrenden Öltanker Cosmo angewiesen, zu dem Seenotfall zu fahren und ihn zu überwachen. Während auch die Moonbird nach dem Schlauchboot suchte, fand sie ganz in der Nähe der angegebenen Koordinaten ein weiteres Boot: Ein Holzboot mit 72 Menschen an Bord – ebenfalls in Seenot.

Das Wasser steigt

Auch der Zustand des Schlauchbootes verschlechterte sich minütlich: Einer der Schläuche verlor Luft, sodass langsam das Wasser im Boot anstieg. Die Menschen versuchten in Panik das Wasser mit ihren Händen aus dem Boot zu befördern – was blieb ihnen anderes übrig? Cosmo war zwar inzwischen bei ihnen angekommen, aber wurde vom RCC Malta nicht dazu aufgefordert, die Menschen zu retten. Veranlasst ein*e Kapitän*in eigenständig ohne Koordination durch das zuständige RCC eine Rettung, verweigert Malta im Anschluss das Anlanden und das Schiff muss Tage oder sogar Wochen auf dem Meer ausharren. Lina schickte also erneut E-Mails an die maltesischen Behörden: “Malta war ja nicht nur klar zuständig, da sich beide Notfälle in ihrer Rettungszone befanden, sondern sie hatten schon mit dem Tanker Cosmo dazu korrespondiert!”. Die Cosmo meldete sich ebenfalls erneut beim RCC Malta und wies darauf hin, dass sie keine Kapazitäten hätten, beide Boote zu retten. Aufgrund der angespannten Covid-19 Lage musste der Kapitän auf die Sicherheit seiner eigenen Crew achten. Malta reagierte nicht darauf, sondern wies die Cosmo an, die Boote weiterhin zu überwachen. “Es ist eigentlich typisch, dass Malta Handelsschiffe nicht anweist, Menschen zu retten.”, erzählt Lina, “Sie ordnen ihnen nur an, die Situation zu überwachen und schicken dann die sogenannte libysche Küstenwache um die Menschen in Seenot illegal nach Libyen zurück bringen zu lassen.” Stattdessen erschien das Flugzeug PIRATE der Operation EUNAVFOR MED IRINI. Neben der Durchsetzung des Waffenembargos gegen Libyen ist diese Operation der europäischen Union zuständig für die Ausbildung der sogenannten libyschen Küstenwache sowie zur “Störung des Geschäftsmodells von Menschenschmuggel durch Informationssammlung und Patrouillenflüge”. Ein klares Mandat zur Rettung sieht diese Operation nicht vor, da die Schiffe bewusst abseits der zentralen Migrationsroute patrouillieren. Die PIRATE meldete die zwei Notfälle ebenfalls an Malta und flog danach wieder zurück nach Lampedusa. Auch die Moonbird musste die Fälle verlassen, da der Treibstoff nicht länger ausreichte. Alarmphone blieb weiterhin in Kontakt mit den Menschen auf den Booten. Nach mehreren Stunden in ernster Gefahr durch den entleerten Schlauch, entschied der Kapitän der Cosmo am frühen Abend, die Menschen zu retten und konnte sie in Italien an Land bringen.

Zurück in die Hölle

Die 72 Personen des Holzbootes in Seenot wurden jedoch in der maltesischen SAR-Zone von der sogenannten libyschen Küstenwache abgefangen. Durch einen Tweet der International Organization for Migration (IOM) konnte Sea-Watch rekonstruieren, dass die Menschen zurück nach Tripolis in Libyen gebracht wurden. Während des Abfangens forderte die sogenannte libysche Küstenwache die Cosmo außerdem auf, ihnen die Personen des ersten Notfalls ebenfalls zu übergeben. Der Kapitän der Cosmo verweigerte die Übergabe und rettet damit immerhin diese Menschen vor Folter und Verfolgung. Die libysche Regierung hat die Genfer Flüchtlingskonvention bis heute nicht unterzeichnet. Ein Bericht von Amnesty International verweist schon 2017 auf die menschenunwürdigen Bedingungen vor Ort: Flüchtende und durch illegale Push-Backs “Zurückgeholte” wie die 72 Menschen dieses Falls werden mit hohen Haft- und Bußgeldstrafen empfangen, die sie in Internierungslagern absitzen müssen – sofern sie keine Familien haben, die für die Geldstrafen aufkommen können. “Vergewaltigungen, Folter, gewaltsame Übergriffe und Menschenhandel sind an der Tagesordnung. Sie haben nur äußert eingeschränkten Zugang zu Wasser und Lebensmitteln. Es gibt Engpässe bei der medizinischen Versorgung und massive hygienische Mängel.”, fasste Martin Rentsch vom UNHCR Anfang 2020 die Situation in den Internierungslagern gegenüber der Bundeszentrale für politische Bildung zusammen.

Outsourcing von Menschenrechtsverletzungen

Ich möchte nicht schon wieder auf den 90 Mio Euro herumreiten, die die EU in Libyen investiert, um die sogenannte libysche Küstenwache einsatzbereit zu halten. Klassische Unternehmensberatungen würde dieses Vorgehen als cleveres Outsourcing bezeichnen, das eigene Ressourcen schont und außerdem das Umgehen von geltendem Recht ermöglicht: Malta schickte auch in diesem 9. Fall  nicht nur kein Schiff zur Rettung der 180 Menschen in Seenot in der eigenen Rettungszone, sondern veranlasste offensichtlich die sogenannte libysche Küstenwache zu einem illegalen Push-Back. Obschon seit mehr als 12 Stunden klar war, dass sich insbesondere das Schlauchboot in absolut akuter Seenot befand, hielt es das RCC Malta nicht für nötig, ein Schiff dorthin zu schicken. Da Lina befürchtete, dass das maltesische RCC auch noch die anderen Menschen illegal nach Libyen zurück führen lassen wollte, schrieb sie eine E-Mail um die Behörden daran zu erinnern, dass sie damit bestehendes Recht verletzen würden. Es kam keine Antwort, allerdings wurde versehentlich eine interne Mail an sie weitergeleitet: “Do not reply” hieß es als Anweisung in der Weiterleitung ihrer Mail an die Offizier*innen des RCC Malta. Zu den eigenen Menschenrechtsverletzungen äußert sich Malta lieber nicht, am Ende würde die illegale Kooperation mit der sogenannten libyschen Küstenwache noch aus Versehen bestätigt.

Was bleibt? Die Notwendigkeit ziviler Aufklärungsflugzeuge wie der Sea-Watch Airborne über dem zentralen Mittelmeer, zur Beobachtung und Dokumentation der illegalen Kooperation zwischen europäischen Behörden und der sogenannten libyschen Küstenwache. “Insbesondere dieses strategische Vorgehen hinter den Abschiebungen und Push-Backs finde ich immer wieder schockierend.”, so Lina, “Das müssen wir aufzeichnen und dokumentieren.”

 

Siehe auch:

#CrimesOfMalta: Menschenrechtsverletzungen in der EU

#CrimesOfMalta I: RCC Malta – zu busy für Seenotrettung

#CrimesOfMalta II: Wie viele Zeichen ist ein Menschenleben wert?

#CrimesOfMalta III: Schwimmwesten statt Asyl

#CrimesOfMalta IV: I will stay with you, no problem.

#CrimesOfMalta V: Zurück zur „Müllhalde“ Europas

#CrimesOfMalta VI: Schleusung von Menschen ist Staatssache

#CrimesOfMalta VII: Menschenrechte oder Heldentum?

#CrimesOfMalta VIII: Seid Ihr endlich tot?

#CrimesOfMalta X: Wofür es zivile Seenotrettung braucht

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