Von Alexander Kohn
„Sie haben früher die Käfighühner ihres Schwiegervaters gefüttert, stimmt das“, fragt taz-Reporter Peter Unfried.
Winfried Kretschmann, erster grüner Ministerpräsident Deutschlands, rollt das Kabel seines Mikrofons in der Hand zusammen wie ein Lasso: „Hätte ich sie verhungern lassen sollen? Oder hätte ich meinem Schwiegervater sagen sollen, dass er nicht in den Urlaub fahren kann? Einen gewissen Schuss Pragmatismus muss man schon mitbringen wenn man in einer Familie lebt, genauso in der Politik. Die Käfighühner sind am Ende elendig umgekommen, als der Hof abgebrannt ist.“
Unfried hat noch eine zweite Frage an Kretschmann, der seit gut einem Jahr in Baden-Württemberg mit grün-rot („Nicht rot-grün!“) regiert: „Produzieren Sie Ihren Strom eigentlich selbst?“
Kretschmann: „Ja zum großen Teil schon, mit einer Photovoltaik-Anlage. Aber seit diese ganzen Sicherheitsinstallationen in meinem Haus vorgenommen wurden, reicht der Strom allerdings nicht mehr.“
Gemeinsam mit taz-Kollege Jan Feddersen hat sich Unfried heute vorgenommen, Kretschmann in Sachen „Gutes Leben“ einmal so richtig auf den Zahn zu fühlen. Nach gut einer Stunde bekommen sie Verstärkung vom Überraschungsgast Daniel Cohn-Bendit. Nach zwei Stunden sind zwei Bahnhofsgegner aus Stuttgart (in einer der hintersten Reihen) nicht unbedingt glücklich mit der Performance des Pragmatikers im hellen Anzug zwischen Thymianbüschlein, Salbei, Pfefferminz und Rosmarin, die von einem Berliner Urban Gardening-Projekt ausgeliehen wurden und nun die Bühne schmücken sollen und dafür in der Hitze der Scheinwerfer schwer dürsten müssen.
Aber der Reihe nach: Bei Kretschmanns Einlauf klatschen die vielleicht 300 Menschen im Saal zunächst so gut wie einmütig. Kretschmann sammelt kräftig Sympathiepunkte. In Anspielung auf teure Limousinen, die er übrigens selbst seit rund 20 Jahren fährt, wie eine Nachfrage ergibt, sagt er: „Diese großen Wagen werden hauptsächlich exportiert. Wenn wir als eine Hochtechnologie-Region mit einem hohen Wohlstandsniveau nicht zeigen, dass man auch anders leben kann, dann werden weltweit noch viele große Schlitten nachgebaut. Vielleicht können wir ja auch ein gutes Leben exportieren.“ Dass man auch mal laufen könne, oder radeln eben. (Applaus!)
Die Kerbe kommt gut, weiter geht’s.
„Ist doch erstaunlich, dass sich die Leute nur am Wochenende auf ihre Räder schwingen und strampeln wie die Idioten. Aber ansonsten fahren sie mit dem Auto zur Arbeit. Wie wir uns bewegen, das ist eine kulturelle Frage. In Freiburg gibt es Fahrradparkhäuser. Aber als ich Lehrer war in Sigmaringen, da kannte ich jeden Radfahrer persönlich.“ Jedenfalls sei es immer schwer, Leute zum Verzicht zu bewegen. Ihnen etwas in Aussicht zu stellen sei wesentlich dankbarer: „Man kann in Baden-Württembreg nicht über zehn Prozent rauskommen, wenn man nicht auch ein Versprechen von Prosperität macht.“
Da sind sie wieder, die große Autos. Kretschmanns Aussage aus einem Interview mit der BILD-Zeitung wird von den beiden tazlern ins Spiel gebracht: „Weniger Autos sind besser als mehr Autos.“ Kretschmann erzählt exemplarisch von einem der vielen vielen Besuche skeptischer Wirtschaftsvertreter, die ihm dieser Nebensatz eingebracht hat: „Der Chef eines bekannten Autokonzerns war zwei Tage später in meinem Büro und hat mich zu meinen Einstellungen zur Autoindustrie befragt. Ich habe ihm gesagt, vom Ziel einer nachhaltigen Wirtschaft wird mich niemand abbringen. Aber über den Weg dahin könne man sich unterhalten.“
Und dazu später: „Es ist wichtig, dass wir jetzt nicht nur radikale Sprüche ablassen. Sondern wir müssen zeigen, dass man die Energiewende durchführen kann.“ Das Thema sei mittlerweile in der Mitte der Gesellschaft und auch bei Unternehmern angekommen.
Zu den Gegnern von Stuttgart 21: „Wir haben wirklich völlig aneinander vorbeigeredet.“ Es gehe hier nicht um Lüge oder Wahrheit, sondern um Alternativen. Der Konflikt sei „zivilreligiös aufgeladen“, besagten Menschen gehe es nicht mehr um einen Park oder Bahnhof. Man könne die Debatte „um einen Bahnhof nicht so aufladen, als ging´s um Atomraketen“. Man solle den Konflikt nicht überdimensionieren. „Sonst redet man nur noch aneinander vorbei und kann nicht mehr zu einem Konsens kommen.“
Es gehe bei S 21 tatsächlich nicht um einen Bahnhof, finden auch die beiden Stuttgarter von hinten im Saal. Sie verbringen ihre Freizeit an Ständen, zeigen Flagge gegen das Projekt. „Es geht um die Art, wie die Entscheidung gefällt wurde“, sagt die Aktivistin. Darum, dass es keine Transparenz gegeben habe, und noch immer nicht gebe. Leider hört Kretschmann das nicht, das Podium wurde nicht zur Publikumsdiskussion geöffnet.
Und der Vergleich mit den Atomraketen? „Pragmatiker“, nennen die beiden ihn mit einer Stimmlage irgendwo zwischen Ironie, Respekt und Enttäuschung.
Auch dem Politiker auf der Bühne geht es nicht um Inhalte allein. Nach gut einer Stunde im Kreuzgespräch zwischen den beiden taz-Journalisten bekommt er Verstärkung von Daniel Cohn-Bendit: „Man kann nicht mit der Apokalypse Politik machen. Und das ist ja das größte Problem der Politik – die Leute zu mobilisieren für etwas, was in 20 Jahren ist.“ Schließlich seien die Klimaprobleme von heute die „Konsequenzen der falschen Entscheidungen von vor 30 Jahren“. Das apokalyptische Thema sei nicht leicht zu lancieren: „Die Klimafrage existiert im Wahlkampf in Frankreich nicht.“
Kretschmann übernimmt wieder, das Lasso nun in der Rechten: „Wir müssen nicht nur ein Versprechen geben, dass wir eine Kathastrophe verhindern wollen, sondern dass wir in diesem Prozess auch neue Formen des guten Lebens erobern können. Dass man kein Miesepeter ist, auch wenn man ein harter Ökö ist.“
taz-Journalist Jan Feddersen: „Haben sie Hoffnung, dass die Grünen hin zur nächsten Bundestagswahl etwas sinnfroher rüberbringen, was sie mitteilen wollen?“
„Ich versuch’s“, verspricht Kretschmann.
Winfried Kretschmann über seine eigene Idee vom guten Leben.
[youtube]http://www.youtube.com/watch?v=peKU5KM6tKs[/youtube]
@ Martin: Vielen Dank für die klaren Worte zu Politik und Wahrheit. Meinen „Leserkommentar zu der Preis der Ruhe in die Zeit“ der über Google im Web zu finden ist habe ich im Sinne dieses Spannungsfeldes mit den beiden nachfolgenden Absätzen abgeschlossen:
…Die politische Konstellation in der Landesregierung führte zur Unfähigkeit, dem Bürger eine adäquate Entscheidungsgrundlage für die Volksabstimmung zur Verfügung zu stellen, verbunden mit unrichtigen Behauptungen zu Ausstiegskosten, die sich in Umfragen als wahlentscheidend erwiesen haben.
Der Ausgang für Stuttgart und für die Selbstheilungskräfte der repräsentativen Demokratie ist noch offen, heute schon sichtbar ist die Verwandlung einer innerstädtischen Parklandschaft in die Kulisse eines Endzeitfilms sowie die Zerstörung einzigartiger Architekturdenkmäler – klaffende Wunden, die einer Stadt im Kampf zwischen Wahrheit und Macht zugefügt wurden.