vonHelmut Höge 03.08.2006

Hier spricht der Aushilfshausmeister!

Helmut Höge, taz-Kolumnist und Aushilfshausmeister, bloggt aus dem Biotop, dem die tägliche taz entspringt. Gonzo-Journalismus der feinen Art.

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„Die Wissenschaft ist grobschlächtig – das Leben subtil…“ (Roland Barthes)

Im einen Jahr wurde man als Posteinsortierer auf „Anthrax-Briefe“ gewissermaßen gespitzt, im darauffolgenden bekam die taz viele Briefe mit Beschimpfungen und Unrat gefüllt – und in diesem Sommer sind es nun – wegen der „Kartoffel“ – vor allem wütende Briefe aus Polen. Das nehme ich jedenfalls an, dass sie aus Wut geschrieben wurden – lesen kann ich sie nicht. Daneben mehren sich aber auch auf Deutsch die stets öden „Meinungsbriefe“. Komischerweise beziehen die Autoren darin nicht selten Stellung zum Evolutionismus-Kreationismus-Streit. Dabei ist das eine Wahl wie zwischen Pest und Cholera. In irgendeinem besonders bescheuerten US-Bundesstaat spitzt sich sogar die ganze gerade anstehende politische Wahl dort auf dieses Thema zu. Wobei man jedoch sagen muß, dass anderswo die zur Wahl stehenden Alternativen auch nicht gerade Substantielles tangieren. Bei der im Herbst anstehenden Abgeordnetenwahl in Berlin „kämpft“ die FDP-Wilmersdorf z.B. primär gegen „Hundekacke“ und die FDP-Tempelhof wirbt für eine „konsequent freie Schulwahl“. Während der türkische Kandidat der Grünen für mehr „Respekt“ in Kreuzberg sorgen will. Die SPD bemüht bezirksübergreifend das „Humor“-Gen (ausgerechnet von Berliner Taxifahrern); die CDU kontert mit „Berlin kann mehr.“ Das alles hat auch viel mit Evolutionismus bzw. Kreationismus zu tun.

Dabei gab es sogar mal so etwas wie einen darwinistischen Befreiungsschlag. Er bestand vor allem in der Aufklärung darüber, dass die Ordnung der Natur nicht gottgewollt und somit ewig ist, sondern sich gewissermaßen aus sich selbst entwickelt hat und immer weiter entwickelt – immer höher. Darwin sah die Evolution ganz optimistisch – jedenfalls für die Menschheit an der Spitze, die sich seiner Meinung nach sogar ganz unmaterialistisch (d.h. ohne Mutationen) „verbessern“ ließe: allein durch Erziehung, Religion und Kraft Gesetz.

Gleich nach der Lektüre von Darwins „Entstehung der Arten“, das 1859 erschien, schrieb Marx an Engels, dass dieses Buch „die naturhistorische Grundlage für unsere Ansicht enthält“. Sie verstanden die Menschheitsgeschichte als Teil der Naturgeschichte. Engels ging vorübergehend zu einem Studium der Naturwissenschaften über – und verfaßte eine Reihe von Schriften dazu ( 1878 den „Anti-Dühring“ und 1880-82 die „Dialektik der Natur“, woraus später „Der Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen“ ausgekoppelt wurde). Er versuchte darin den dialektischen und historischen Materialismus auf die Naturwissenschaften anzuwenden – als Methode. Rückblickend schrieb er: „Das heißt, man entschloß sich, die wirkliche Welt – Natur und Geschichte – so aufzufassen, wie sie sich selbst einem jeden gibt, der ohne vorgefaßte idealistische Schrullen an sie herantritt…Und weiter heißt Materialismus überhaupt nichts.“ Sein diesbezügliches Hauptwerk trägt dieses Ansinnen bereits im Titel – „Dialektik der Natur“.

In unserer rätekommunistischen Marx-Arbeitsgruppe in Westberlin gingen wir 1969 davon aus, dass der ursprüngliche Titel „Dialektik und Natur“ gelautet hatte – so sich selbst quasi problematisierend. Er war dann jedoch von den Gralshütern der Marx-Engels-Interpretation in Moskau fraglos zugespitzt worden, um dem Bolschewismus quasi die Unumstößlichkeit eines Naturgesetzes zu verleihen. Inzwischen hat uns, ich glaube, Thomas Kuczinsky darüber aufgeklärt, dass es mit der Titelei dieser Schrift doch etwas komplizierter war. Bei unserer Ablehnung der Dialektik in bezug auf Naturprozesse konnten wir uns desungeachtet auf Marcuse, Sartre und die Frankfurter Schule berufen, insbesondere aus Alfred Schmidts Arbeiten darüber. Sie rührte aber auch daher, dass damals die Maoisten (von der KPD/ML) Marxismusschulungen veranstalteten, für die sie einige dünne Broschüren von Stalin – u.a. „Über dialektischen und historischen Materialismus“ – als Grundlagentexte nahmen. Der Autor exemplifizierte darin diese einzig wahre Methode an einem Weizenkorn, indem er die verschiedenen Phasen seiner Entwicklung als einen jedesmaligen qualitativen Umschlag begriff.

Das von Stalin gewählte Beispiel (aus der Natur) war natürlich für die UDSSR ungeheuer bedeutungsvoll: Er veröffentlichte diese Texte Mitte der Dreißigerjahre, nachdem das ländliche Russland infolge der Kollektivierung und der Kulakenliquidierung gerade mehrere große Hungersnöte mit Millionen Toten durchlitten hatte und man bereits für das Stehlen einiger Weizenähren vom Feld für Jahre ins Lager kommen konnte. Wie überhaupt die Weizenernten bis zu Chruschtschows Paradigmenwechsel (Mais und friedliche Koexistenz) immer eine große Rolle in der russischen bzw. sowjetischen Geschichte gespielt haben. In der DDR wurden die sommerlichen „Ernteschlachten“ der Mähdrescherbrigaden und ihren „Erntekapitänen“ noch bis zuletzt vom Fernsehen sozusagen sportlich begleitet.

Als sogenannter „schöpferischer Darwinismus“ gewann parallel zur Kollektivierung ab 1928 die „proletarische Biologie“ von Mitschurin und Lyssenko immer mehr an Einfluß, die vor allem höhere Getreideerträge (auch und gerade im Norden der Sowjetunion) versprach. Sie setzte sich militant von der „formalen (bürgerlichen) Genetik“ ab. Dieser wurde vorgeworfen, statt im Dienste der Landwirtschaft und damit des sozialistischen Aufbaus zu forschen, sich mit fruchtlosen „Erbsengesetzen“ (Mendel) und „Fliegenbeinzählereien“ (Morgan) abzugeben.

Ironischerweise war es dann jedoch auf dem Höhepunkt des Lyssenkoismus 1948 (als über 3000 „Anhänger des Mendelismus-Weismannismus-Morganismus“ ihren Arbeitsplatz verloren) die vor allem im Westen weiter entwickelte formale Genetik, die sich in der Folgezeit als gesellschaftlich sehr viel wirkungsvoller erwies – bis heute; während der Lyssenkoismus spätestens ab 1961 in mehr oder weniger gnädige Vergessenheit geriet.

Ihren Erfolg verdankt die formale Genetik dem aus der Kriegsforschung nach dem Zweiten Weltkrieg sozusagen heimgekehrten „neuen Denken“: Informationswissenschaft, Kybernetik und Kryptologie. Den Anfang machten der Physiker Erwin Schrödinger mit seinem Bestseller „Was ist Leben?“ (1943) und der Mathematiker Norbert Wiener mit dem Buch „Kybernetik – oder Ordnung und Kommunikation im Tier und in der Maschine“ (1948). In den darauffolgenden Jahren entstand daraus ein ganzer „industriell-militärisch-akademischer Komplex“, wie die amerikanische Biologiehistorikerin Lilly E. Kay das molekularbiologische Forschungs- und Anwendungsnetz der NATO-Staaten rückblickend nennt.

Während es der antidarwinistische Insektenforscher Jean-Henri Fabre schon zu Anfang des 20. Jahrhunderts beklagt hatte, dasss „die Naturgeschichte, dieses wunderbare Studienfach für junge Menschen, infolge ihrer fortwährenden Vervollkommnung zu einer widerlichen abstoßenden Sache geworden“ sei, jubelte der Neodarwinist Neville Seymonds, ein Schüler von Erwin Schrödinger, über dessen „Lebens“-Werk: Damit „hörte die Biologie auf, eine ‚unernste‘ Beschäftigung zu sein und wurde erwachsen.“ Und das heißt – auf gut amerikanisch: Sie wurde ein Geschäft! „Americas Business is the Business! meinte US-Präsident Coolidge einmal.
„Heutzutage sind Wissenschaftler Politiker, sie sind Aktienhändler, sie haben ihre eigenen Biotech-Unternehmen,“ erklärte dazu Lilly E.Kay 2004 in einem Interview mit dem Berliner „Gen-ethischen Informationsdienst“. In ihrem Land seien heute „mindestens 80 Prozent der Molekularbiologen an eigenen kommerziellen Biotech-Unternehmen beteiligt“. Einer dieser Fitties – im Rang eines wissenschaftlichen Beraters von Biotech-Unternehmen, William Bains, sagte kürzlich – in der Zeitschrift „Nature Biotechnology“: „Die meisten Anstrengungen in der Forschung und in der biotechnologischen industriellen Entwicklung basieren auf der Idee, dass Gene die Grundlage des Lebens sind, dass die Doppelhelix die Ikone unseres Wissens ist und ein Gewinn für unser Zeitalter. Ein Gen, ein Enzym, ist zum Slogan der Industrie geworden…Kann das alles so falsch sein? Ich glaube schon, aber ich bin sicher, das macht nichts. Denn die Hauptsache ist, dass es funktioniert: Manchmal funktioniert es, aber aus den falschen Gründen, manchmal wird es mehr Schaden anrichten als Gutes tun…Aber die beobachtbare Wirkung ist unbestreitbar…Wir müssen nicht das Wesen der Prozesse verstehen, um die Werkzeuge zu erkennen…Inzwischen führen die Genom-Datenbanken, die geklonten Proteine und anderes Zubehör der funktionalen Genetik zu Werkzeugen, Produkten, Einsichten, Karrieren und Optionen an der Börse für uns alle.“

Neuerdings geben viele Biologen selbst zu, dass lebendige Systeme zu komplex sind, als dass die Gentherapie funktionieren könne, obwohl sie mittlerweile fast 15 Jahre alt ist. Desungeachtet bombardiert uns der Wissenschaftjournalismus fast täglich weiter mit neu ausgelesenen Genen, die für dieses und jenes gut oder schlecht sein sollen. Die Bremer Humangenetikerin Silja Samerski gab demgegenüber in einem taz-Interview 2005 zu bedenken: Das “ ,GEN‘ ist nichts anderes als ein Konstrukt für die leichtere Organisation von Daten, es ist nicht mehr als ein X in einem Algorithmus, einem Kalkül. Aber außerhalb des Labors wird es dann zu einem Etwas, zu einem scheinbaren Ding mit einer wichtigen Bedeutung, mit Information für die Zukunft . . . über das sich anschaulich und umgangssprachlich reden lässt. Es ist doch sehr fraglich, ob man umgangssprachlich über Variablen von… oder Bestandteile eines Kalküls oder Algorithmus sprechen kann, ob sich also überhaupt außerhalb des Labors sinnvolle Sätze über ,GENE‘ bilden lassen, die von irgendeiner Bedeutung sind. Wenn aber solche Konstrukte in der Umgangssprache auftauchen und plötzlich zu Subjekten von Sätzen werden, mit Verben verknüpft werden, dann werden sie sozusagen in einer gewissen Weise wirklich.“

Der Genforscher Francois Jacob hatte bereits 1970 in seinem Buch „Logik des Lebenden“ gemeint: In den Labors werde nicht mehr das Leben untersucht. „Die Biologie interessiert sich heute für die Algorithmen der lebenden Welt.“ Zuvor vertrat bereits der Genforscher Erwin Chargaff die durchaus selbstkritisch gemeinte Auffassung, dass die Wissenschaft viel zu „mechanomorph“ geworden sei, und dass das Leben nicht einfach nur als ein „System raffinierter Stanzvorrichtungen“, als eine „Kette von Schablonen, Katalysatoren und Produkten betrachtet werden kann“.

Der Erfolg der Gentechnik verdankt sich nicht zuletzt auch einem Wechsel bei ihren „Modellorganismen“ – von der Fruchtfliege (Drosophila) zu den Bakterien – vor allem Escherichia coli. Dieses Bakterium ist inzwischen das best- und meistuntersuchteste Lebewesen der Welt. Darüberhinaus ist dieser Einzeller, der vornehmlich in unserem Dickdarm lebt, von einem Objekt der Forschung schier zum Subjekt geworden, denn das kostspielige Labor, das es für die Bakterienerforschung braucht, ist nunmehr E.coli selbst geworden. Der Berliner Wissenschaftstechnikhistoriker Hans-Jörg Rheinberger sagte es so: Die Molekularbiologen konstruieren „nicht länger Reagenzglasbedingungen, unter denen die Moleküle des Organismus und ihre Reaktionsfolgen den Status wissenschaftlicher Objekte annehmen. Genau anersherum: Der Molekulartechnologe konstruiert informationstragende Moleküle, die nicht länger bereits im Organismus existieren müssen, und um sie zu reproduzieren, zu exprimieren und zu analysieren benützt er das Milieu der Zelle als deren angemessene technische Einbettung. Der Organismus selbst wird damit in ein Labor verwandelt. Worum es von nun an geht, ist nicht länger die extrazelluläre Repräsentation intrazellulärer Strukturen und Prozesse, sondern die intrazelluläre Repräsentation eines extrazellulären Projekts, mit einem Wort: die Um-Schreibung des Lebens.“ Praktisch heißt das z.B., dass in die Bakterie fremdes Genmaterial injiziert wird, damit sie dann lauter vielversprechende neue Stoffe synthetisiert – d.h. produziert. Das fing schon 1982 mit dem von E.coli-Stämmen „künstlich hergestellten“ Insulin an.

Die Hightech-Bakterienforschung hat die von Darwin erschütterte Stellung des Menschen und seines Weltbildes noch einmal erschüttert, indem sie zum einen dem kulturell immer beliebter werdenden „Kampf ums Dasein“, dem „Survival of the Fittest“ die „Symbiose“ und die „freie Assoziation“ bzw. „Zellkolonie“ entgegenstellte, und zum anderen, indem sie dabei die Pyramide des Fortschritts glatt auf den Kopf stellte, dazu das ganze von Linné überkommene Ordnungsprinzip des Lebens gleich mit: Nicht wir sind für alles verantwortlich – als die Krone der Evolution, sondern die Bakterien! Mit ihnen fing das Leben (vor rund 3,5 Milliarden Jahren) an – und mit ihnen wird es wahrscheinlich auch enden. Sie sind sozusagen die Grundsubstanz (aus der Ursuppe entstanden) – und bilden deswegen in einer neuen Ordnung der Organismen das erste Reich (Phylum). Die Bakterien sind darüberhinaus unsterblich, denn sie vermehren sich durch Teilung: aus einer Mutterzelle werden zwei Töchterzellen usw.. Dadurch existiert bei ihnen noch ein Gedächtnis-Kontinuum vom ersten bis zum heute lebenden Bakterium. Dies ändert sich erst, wenn sich die Fortpflanzung wie bei uns mit der Sexualität verkoppelt und damit gleichzeitig der Tod ins Leben eingeführt wird. Zudem verändern bzw. erweitern sich durch Verschmelzen verschiedener Bakterienarten ihre Stoffwechselvorgänge, so dass sie den sich immer wieder verändernden Umweltbedingungen gewachsen bleiben. Aus den dergestalt integrierten Bakterien werden Organellen (Orgänchen) in einem anderen Bakterium – und dann auch in Pflanzen- bzw. Tierzellen, angefangen mit Chloroplasten und Mitochondrien. Bei diesem „Mutualismus“ verwendet man die Begriffe „Symbiose, Einverleibung, Versklavung, Verstaatlichung“ fast als Synonyme. Das erinnert an den polnischen Dichter Stanislaw J. Lec, der einmal seufzte: „Heutzutage werden einem selbst die freiwilligen Handlungen aufgezwungen.“

Auch die sich dadurch immer komplexer gestaltenden Einzeller besitzen noch keinen membranumhüllten Zellkern für ihre Chromosomen, die weiter frei im Cytoplasma der Zelle herumschwimmen. Das erleichtert den Bakterien die Sexualität, die wie gesagt nichts mit ihrer Fortpflanzung zu tun hat. Die Bakterien-Sexualität besteht darin, das ein Individuum einem anderen ein paar Gene schenkt (lassen wir es dahingestellt sein, ob es sich dabei um „egoistische“ oder sonstwelche handelt). Dies geschieht mittels dünner biegsamer Röhrchen, die quasi von einem zum anderen Bakterium rüberwachsen, es kann aber auch durch direkte Berührung und sogar durch Viren (als Boten) zu einer Gengeschenk-Übergabe kommen. Da die Bakterien ihre Teilung selbst bestimmen – gemäß eines bestimmten Fließgleichgewichts, können sie auch über ihre Artgrenze hinaus derart sexuell miteinander verkehren, wobei man bei den Bakterien von Konjugation spricht. Man hat sich jedoch angewöhnt, unter einer Art all jene Individuen zu fassen, die sich gegenseitig befruchten können, deswegen könnte man das ganze Riesenreich der Bakterien auch als eine einzige Art (von Prokaryoten) ansehen. Die Viren gehören nicht dazu. Sie sind bloß mit Protein ummantelte Gene und brauchen zu ihrer Reproduktion lebende Zellen.

Vom Bakterienreich unterscheidet sich das Reich der Protoctisten, deren Vertreter alle einen Zellkern besitzen (man nennt sie deswegen auch Eukaryoten). Einige sind auch schon mehrzellig, außerdem haben sie noch weitere Bakterien symbiotisch integriert, die sich zu Organellen entwickelten, indem sie mehr und mehr eigene Gene an die „Wirtszelle“ abgaben. Da sie jedoch einige behalten haben, kann man bis heute ihre genetische Identität mit ihren frei lebenden Artgenossen feststellen. Ihr Verlust an Autonomie (durch Integration) hatte eine Spezialisierung im Sinne einer Arbeitsteilung zur Folge – oder umgekehrt. Und das machte die Protoctisten noch „fitter“ für ihr Überleben. Der Rest ist schnell erzählt: Aus den zwei Reichen – der Bakterien und der Protoctisten – gingen dann die restlichen drei hervor: die Pflanzen, die Tiere und die Pilze – die sich alle darin gleichen, dass sie sich nicht durch Zellteilung, sondern im Gegenteil durch Verschmelzung zweier Spezialzellen (einer Ei- und einer Samenzelle) vermehren. Wobei die daraus entstehende neue Zelle sich jedoch wiederum durch Teilung zu einem Embryo entwickelt. Diese „5 Reiche der Organismen“ (wie die Zellforscher Lynn Margulis und Karlene V. Schwartz sie nennen) und so wie sie sich heute darstellen (es sind erst etwa 5% aller Bakterien- und Protoctisten-Arten bekannt), sind geeignet, unsere ganzen Zielvorstellungen, die Welt zu verbessern und verantwortlich für sie zu sein, als anmaßend zu denunzieren und auf den Kopf zu stellen: Wahrscheinlich sind wir – Pflanzen, Tiere und Pilze – nur entstanden, damit die Einzeller immer ein geeignetes Nährmedium zur Verfügung haben! Im Falle von E.coli ist das wie gesagt der Dickdarm von Säugetieren – für sie der beste Ursuppen-Ersatz. Am üppigsten gedeihen die Bakterien im übrigen im Darm von Termiten, wo sie neben symbiotischen auch noch kooperative Verbindungen eingegangen sind, um die schwierige Verdauung von Holz zu bewerkstelligen. Ähnlich viele Bakterien leben außerdem noch im Vormagen (Pansen) von Rindern. Als Abfallstoff produzieren sie Methan, dem sich die Rinder durch Rülpsen entledigen, Es ist so viel, dass sie damit für nahezu den gesamten Methananteil in der Atmosphäre (14%) verantwortlich sind, deren Sauerstoffgehalt wiederum zur Gänze aus dem Stoffwechselprozeß von Chloroplasten resultiert: zur Photosynthese fähige Archaebakterien, die dann in Algen integriert wurden. Für viele Bakterienarten war diese Anreicherung der Atmosphäre einmal reines Gift, für uns jedoch Vorbedingung, um überhaupt an Land zu kommen!

Wie die Bakterienforschung herausfand, ist zwar viel mehr Kultur in der Natur als uns heute glaublich erscheint, aber der dialektische und historische Materialismus als „Methode“ tut dies bei der Analyse des „Grundwiderspruchs zwischen Vererbung und Anpassung“ gerade ab. Marx wollte sein „Kapital“ eigentlich Darwin widmen. Dessen Verdienst bestand auch und gerade darin, dass er die Teleologie, jedwegliche Zielgerichtetheit, aus der Evolution verbannte und stattdessen den Zufall (in Form von Mutationen) ins Spiel brachte. Demgegenüber ist mindestens der Marxismus-Engelismus absolut teleologisch, ja, der Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung läßt zusammen mit der Entwicklung der Produktivkräfte den Kapitalismus fast von selbst in die nächsthöhere Stufe, den Kommunismus, übergehen oder umschlagen. Diese glückliche Zukunft ist also fast unumgänglich. Die Arbeiterklasse hat deswegen laut Marx auch „keine Ideale zu verwirklichen; sie hat nur die Elemente der neuen Gesellschaft in Freiheit zu setzen, die sich bereits im Schoß der zusammenbrechenden Bourgeoisgesellschaft entwickelt haben.“ Noch viel mehr galt diese Teleologie für die marxistisch-leninistisch regierte Sowjetunion: „Wie unsere ganze Kultur und unser ganzes System ist die Kunst, der sozialistische Realismus, durch und durch teleologisch. Sie ist dem höchsten Ziel unterworfen und dadurch geadelt. Letzten Endes leben wir nur, um das Kommen des Kommunismus zu beschleunigen,“ schreibt Abram Terz (alias Andrej Sinjawskij), dem solche und ähnliche ketzerische Gedanken 1966 sieben Jahre Zwangsarbeit einbrachten, denn die Teleologie galt offiziell als theologisch, bürgerlich und somit als reaktionär. Höchstens durfte man das sozialistische System als „teleonomisch“ (zweckmäßig) bezeichnen, insofern es im Gegensatz zur Natur und zum Kapitalismus planmäßig entwickelt wird, seine eigene Geschichte also (endlich!) mit Vernunft gestaltet und vorantreibt. Der Westberliner Wissenschaftshistoriker Wolfgang Lefèvre hat dies auch für den Darwinismus – im Gegensatz zum Lamarckismus – geltend gemacht: „Die natürliche Selektion ist kein teleologischer Vorgang; aber es handelt sich bei ihr um einen teleonomischen Prozeß, d.h. um einen Prozeß mit Zweckmäßigkeit ohne Zweck (Kant), in dem die Zweckmäßigkeit eine Rolle spielt, obgleich kein subjektiver, antizipierter Zweck daran beteiligt ist.“

In der DDR wurde trotz der sowjetischen Mitschurin-Lyssenko-Doktrin auch weiterhin formale Genetik betrieben – vor allem im Institut für Biochemie der Pflanzen in Gatersleben unter der Leitung von Hans Stubbe, der bereits 1943 ein eigenes Institut für Kulturpflanzenforschung erhalten hatte, wo er angeregt von Hermann J. Muller Mutationsexperimente mit Röntgenstrahlen durchführte. Man versprach sich davon eine Verbesserung der Erträge von Nutzpflanzen. An den philosophischen Instituten der DDR kam es gleichzeitig zu Versuchen, die „proletarische Biologie“ der Sowjetunion vorsichtig zu kritisieren und mit der westlichen Kybernetik und Informationswissenschaft zusammen zu denken, wobei man sich mehr und mehr von allem „Lamarkismus“ verabschiedete.

Erwähnt seien hierzu die Arbeiten von Jakob Segal: „Das Prinzip des Determinismus in Biologie und Physik“, von Klaus Fuchs-Kittowski: „Probleme des Determinismus und der Kybernetik in der molekularen Biologie“ und von Klaus Gössler: „Vom Wesen des Lebens“ sowie auch das populärwissenschaftliche Urania-Büchlein „Biologie und Weltanschauung“ von Rolf Löther. Wichtig war die Kybernetik jedoch vor allem im Zusammenhang mit der Produktivkraftentwicklung durch die elektronische Datenverarbeitung, die auch für die Planwirtschaft derart vielversprechend schien, dass noch auf dem Berliner Rosa-Luxemburg-Kongreß 2006 einer der Referenten ihre diesbezüglichen Vorzüge – diesmal für die globalisierte Volkswirtschaft – herausstreichen konnte, obwohl es nach dem Sieg des Neoliberalismus fast nirgendwo auf der Welt mehr eine rein staatskapitalistische Planwirtschaft gibt. Es handelte sich dabei um den schottischen Sozialisten Paul Cockshott, der zuvor bereits zusammen mit Allin Cottrell das Buch „Alternativen aus dem Rechner, Plädoyer für sozialistische Planung und direkte Demokratie“ veröffentlicht hatte, wobei die Autoren davon ausgingen: „Je mehr Plan desto weniger Wertgesetz – und umgekehrt“.

Auch in Frankreich gab es damals Wanderer zwischen den Systemen: den französischen Genetiker und späteren Nobelpreisträger Jacques Monod z.B.. Als junger Wissenschaftler am Pariser Pasteur-Institut war er zunächst Mitglied der Kommunistischen Partei und als Lamarckist Anhänger der neuen „proletarischen Biologie“ gewesen. 1943 kam er mit dem Biologen und Marxisten Marcel Prenant in Kontakt, der damals Leiter der Widerstandsgruppe FTP (Francs-tireurs et partisans) war. Er delegierte Monod zu den Streitkräften des Freien Frankreichs, wo dieser dann im Range eines Majors dem Stab des Generals de Tassigny angehörte. Nach dem Krieg kehrte Monod an das Pariser Institut zurück, wo er sich in der Folgezeit vom „Lamarxismus“ abwandte und mehr und mehr zu einem militanten Neodarwinisten wurde. Lily E. Kay merkt dazu an: „Eine Verbindung mit der KPF, die in den frühen Fünfzigerjahren in Frankreich sehr präsent war, schien eher schädlich für französische Wissenschaftler, die von amerikanischen Behörden unter der Schirmherrschaft des Marshall-Plans unterstützt wurden…Noch nachteiliger war eine solche Verbindung auf dem Höhepunkt der Hexenjagd des McCarthyismus.“ Denn sie erschwerte es z.B. Monod, für Einladungen an amerikanische Forschungsinstitute ein US-Visa zu bekommen. Nachdem er sich jedoch von der sowjetischen Biologie und der KP distanziert hatte, finanzierte ihm die Rockefeller-Stiftung sogar ein eigenes Labor für Molekularforschung im Pasteur-Institut, woraufhin die von De Gaulle eingerichtete „Délégation Générale à la Recherche Scientifique et Technique“ – „eine Institution zur militärischen Mobilmachung der Wissenschaft im Kalten Krieg – die ‚Molekularbiologie‘ als Speerspitze einer künftigen Wissenschaft und Biotechnologie“ anerkannte.

Indem ausgehend von den USA „das Leben“ als „Code“ am Beispiel der Viren und mithilfe von Kybernetik und Informationswissenschaften im Rahmen der amerikanischen Kriegsforschung begriffen, d.h. „geknackt“ wurde, konstituierte sich also nach und nach weltweit eine Molekularbiologie, für die „lebendige Entitäten“ wie (vorprogrammierte) Computer funktionieren. Während umgekehrt unsere Homecomputer von immer mehr (deprogrammierenden) Viren überfallen werden. Dergestalt wurden Mensch und Maschine wesensgleich; ihre Austauschbarkeit war gegen Ende des Zweiten Weltkriegs nahezu besiegelt.

Die ganz anders entstandene „proletarische Biologie“ der Sowjetunion ging demgegenüber von der grenzenlosen „Umerziehungsfähigkeit“ von Pflanzen, Tieren und Menschen aus, gelangte dabei jedoch theoretisch nicht über Züchter-Pädagogiken hinaus. Der Philosoph und Althussermitarbeiter Dominique Lecourt bezeichnete ihre Begrifflichkeit als „spontane Philosophie eines Gärtners“ – ohne damit jedoch ihre praktischen (handarbeiterischen) Erfolge schmälern zu wollen. Er spielte damit auf Althussers „spontane Philosophie eines Wissenschaftlers“ (SPW) an, die dieser u.a. am Beispiel der aufs große Ganze zielenden Antrittsvorlesung von Jacques Monod am Collège de France entwickelt hatte.

Was in der UDSSR anfänglich „der Revolutionär als Beweger“ (Nikolai Tschernischewski) war, wurde im Westen – ebenfalls unter Berufung auf Darwin – zum „unbewegten Beweger“ (Max Delbrück). Und was Lilly E. Kay in bezug auf die „Entschlüsselung des genetischen Codes“ schrieb, gilt in gewisser Weise auch für die sowjetische Biologie – dem Mitschurinismus-Lyssenkismus: „Die neue Semiotik wurde in den neuen Bedeutungsregimen des industriell-militärisch-akademischen Komplexes und der Kultur des Kalten Krieges formuliert“. Sowohl in der UDSSR als auch in den USA deutete sich damit jedoch ab 1948 an, dass der hier wie dort von den „Neuen Ingenieuren der Seele“ eingeleitete Paradigmenwechsel oder epistemologische Bruch keine Heterotopien, sondern nur neue Hegemonie(n) hervorbringen würde.

Und dabei berührten sich bisweilen die Extreme: Während Salvator Allende in Santiago Stafford Beers Labor finanzierte, forschte der chilenische Wissenschaftler Humberto Maturana ab 1970 an Heinz von Foersters „Biological Computer Laboratory“ in den USA. Dort gab er den „Artificial Intelligence-Forschern“ zu bedenken: Sie „ahmten biologische Phänomene nach. Wenn man aber biologische Phänomene nachahmt und dabei nicht zwischen den Phänomenen und seiner Beschreibung unterscheidet, dann ahmt man am Ende die Beschreibung des Phänomens nach.“ (Seine Überlegungen gipfelten 1975 in dem Buch „Autopoietic Systems“, das dann Stafford Beer mit einem Vorwort versah.) Maturanas obige Bemerkung ähnelt fast spiegelbildlich dem, was zuvor bereits Bertold Brecht – als Propagandist der „proletarischen Biologie“ („Die Erziehung der Hirse“) – in einer seiner „Geschichten von Herrn Keuner“ den revolutionären „Bewegern“ zu bedenken gab: „Was tun Sie,“ wurde Herr K. gefragt, „wenn Sie einen Menschen lieben?“ „Ich mache einen Entwurf von ihm,“ sagte Herr K., „und sorge, dass er ihm ähnlich wird.“ „Wer? Der Entwurf?“ „Nein,“ sagte Herr K., „Der Mensch.“ Nietzsche hatte einmal gemeint: Unser Erkenntnis-Organ ist nicht zur Erkenntnis, sondern zur Bemächtigung der Dinge gemacht.
Nun hat sich aber dieser ganze Komplex noch einmal umgedreht: Diesmal ist es die nach dem Zweiten Weltkrieg reformulierte Genetik im Verein mit ihrem Modellorganismus E.coli, die wieder an der russischen Forschung anknüpft. Dort hatte man, spätestens seit Tschernyschewskis berühmten Roman „Was tun?“, den Darwinismus immer besonders hoch gehalten, jedoch abzüglich seines Konkurrenz-Begriffs (den „Struggle for Life“ innerhalb einer Art): das sei ein typisches Inselphänomen und ansonsten englisches Händlerdenken; in Russland habe dieses Entwicklungsprinzip keine Gültigkeit, im Gegenteil – hier komme man nur mit Gemeinschaftlichkeit und Zusammenarbeit weiter. Am bündigsten formulierte dies vor 1900 der Anarchist Peter Kropotkin, nach einem Sibirienaufenthalt als Geologe – in seinem Werk „Die gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt“. Kropotkin prophezeite darin bereits, dass man mit fortschreitender mikroskopischer Technik bald feststellen werde, dass selbst im bakteriellen Bereich das Prinzip der „Mutual Aid“ – wenn auch unbewußt noch – wirksam sei. Genau diesen Nachweis haben dann die amerikanischen Zellforscher – allen voran Lynn Margulis – ab den Siebzigerjahren mit ihrer „seriellen Endosymbiontentheorie“ geleistet.

Zuerst formuliert wurde sie jedoch bereits 1905 – von den russischen Botanikern Alexander Mereschkowski und Andrej Famintsyn, indem sie einige Organellen in Einzellern als ehemals frei lebende Bakterien identifizierten. Darauf aufbauend entwickelte dann der Botaniker Boris M. Kozo-Polyansky in den 20er- und 30er-Jahren die „Symbiosetheorie“ weiter, u.a. entdeckte er, dass die Flechten aus einer Symbiose zwischen einer Alge und einem Pilz bestehen. Eigentlich wurde diese inzwischen längst anerkannte Theorie nur während der Lyssenkoära in den Fünfzigerjahren vernachlässigt, wahrscheinlich auch, weil sie damals nur wenig zur Produktivitätssteigerung in der Landwirtschaft beitragen konnte, obwohl sie vor allem von Botanikern erforscht wurde. Lynn Margulis ist unterdessen zusammen mit dem englischen Geophysiker James Lovelock zur „Gaia-Hypothese“ fortgeschritten, mit der die ganze Erde einschließlich ihrer Atmosphäre als „selbst lebendig“ begriffen wird. Die Bakterien sind überall: in und an uns, in der Luft, im Wasser, im Boden – in einem Gramm Erde können über 100 Millionen Bakterien leben. Die meisten kommen in Form von Biofilmen vor, wo sie sich unter günstigen Bedingungen alle 20 bis 30 Minuten teilen. In Irkutsk fand man jüngst im ewigen Eis lebende Bakterien, die 500 Millionen Jahre alt waren, sie haben sich theoretisch nur alle paar tausend Jahre vermehrt. Auch die „Gaia-Hypothese“ geht auf russische Forschung zurück – insbesondere auf den Biosphären-Begriff des Geochemikers Wladimir J. Wernadski.

Insgesamt legen die Arbeiten dieser Zellforscher nahe, dass wir nicht so sehr Zwerge auf den Schultern von Riesen sind, sondern eher Statisten in einem Biofilm. Allein in unserer Mundhöhle leben mehr Bakterien als Menschen auf der Erde. An und in unserem Körper schleppen wir durchschnittlich zwei Kilogramm Bakterien mit uns herum. Wenn es weniger wird, z.B. nach einer Antibiotikakur, sollte uns das zu denken geben: die Ratten verlassen das sinkende Schiff. Der Vergleich hinkt jedoch, insofern sich nur wenige Bakterien parasitär gebärden: abgesehen von einigen so genannten Opportunisten sind die meisten für uns lebensnotwendig. Ja, wir sind in gewisser Weise sogar identisch mit ihnen. E.coli begreift man schon jetzt als Teil unseres Darms. Und „Bündnisse“ wie solche in Form von Flechten, die sich vor allem in extremen heißen oder kalten Gegenden bewähren, werden heute von den Biologen andauernd entdeckt.

Es ist als wäre der Forschungsblick auf das Leben von der Soziobiologie zur Biosoziologie umgeschwenkt. Und das ist kein kleiner Schwenk! Er versucht über das Denken der Evolution hinaus nun auch das Werden zu begreifen, was laut den Marxisten Gilles Deleuze und Félix Guattari eher einer „Involution“ gleicht. In diesem Zusammenhang haben sie in ihrer „Schizo-Analyse“ („Anti-Ödipus“ und „Tausend Plateaus“) auch umstandlos die Symbiontentheorie eingeführt. Und sprechen z.B. in Umdrehung der laut Kropotkin noch bewußtlosen Mutual Aid unter Mikroorganismen von einem psychischen „Unbewußten“, das „molekular ist – die Schizo-Analyse ist eine Mikro-Analyse“. Deswegen befaßt sie sich mit der Frage der „Tier-Werdung“ ebenso wie mit der Anverwandlung von Orchidee und Wespe und ähnlichen „Bündnissen“. Letztlich geht es ihr als eine umfassende Soziotop-Theorie jedoch um das „Revolutionär-Werden“, um kollektiven Widerstand und Sabotage – gegen die schleichende Umwandlung der Disziplinar- in eine Kontroll- und Kommunikationsgesellschaft, die eine zunehmende Individualisierung und Atomisierung mit sich bringt.

Desungeachtet hält sich gleichzeitig eine tiefsitzende Bakterienabscheu und -angst, die aus der Frühzeit der Bakterienforschung resultiert, als Mediziner wie Louis Pasteur und Robert Koch einige Arten als Krankheitserreger identifizierten. Seitdem gibt es schädliche, sogar tödliche Bakterien und Keime auf der Welt, vor denen sich die Menschheit schützen muß. Noch heute verspricht ein Staubsaugerwerespot im deutschen Fernsehen, dass das neue Gerät selbst unter dem Bett „alle Bakterien und Keime“ ausrottet. Eher ist zwar das Gegenteil der Fall, aber darum geht es gar nicht: Es geht um einen anhaltenden „Biokrieg“, den vor allem die USA führen, sowie neuerdings um eine herbeiphantasierte Paranoia vor „Bioterror“.

Dies ist das Thema eines Buches von Philip Sarasin mit dem Namen einer Bakterienart als Titel: „Anthrax“. Der Historiker aus Zürich behauptet, dass der eigentliche Grund für die staatliche Finanzierung und Forcierung des „Human Genom Projects“ der Biokrieg ist, womit sich die molekularbiologische Forschung ründet: Sie entstammt der Kriegsforschung und mündet nun auch wieder in diese. Sarasin geht in seiner Darstellung von einem amerikanischen Science-Fiction-Roman aus, dem der US-Präsident Bill Clinton quasi die Augen öffnete. In diesem geht es um Terroristen, die mit tödlichen Viren kämpfen. Seitdem gibt es in den USA eine große Anthrax-Forschung im Geheimen. Und aus diesem Labor stammen auch die speziellen zu Feinstaub gemahlenen Anthrax-Sporen, die dann – nach dem Attentat auf das World Trade Center – mehrere Posteinsortierer, aber vor allem einige regimekritische US-Journalisten töteten. Und das löste dann wieder eine kleine Lawine an gefakten Anthrax-Briefen aus, die mit Mehlpulver oder ähnlichem gefüllt waren. Bei den Absendern handelte es sich fast durchweg um Untergebene, die ihren Chef damit erschrecken wollten – also um eine primitive Form von Rache in einem Lohnarbeiter-Ausbeuter-Verhältnis – wie sie in jedem Land, das den kollektiven Arbeitskampf und die gewerkschaftliche Organisation quasi verbietet, gang und gäbe ist.

Im Zuge der globalen Amerikanisierung blüht jedoch auch hier das Einzelkämpfertum mit Haßkappe auf. Von der deutschen Presse wurden die „Anthrax-Steller“, die anonyme Briefe mit vermeintlichen Milzbranderregern in Pulverform verschickt hatten, als „Trittbrettfahrer“ denunziert, während die hiesigen Sozialforscher sie als neue Querulantengruppe entdeckten, d.h. als eine neue Eskalationsstufe im allgemeinen Briefterror, für den die Querulanten ja seit je bekannt und gefürchtet sind. Somit sind die Anthraxbriefe eine Form von Mobbing – eine Antwort von unten z.B. auf die „Pink Letters“ von oben, d.h. auf die massenhaften Kündigungsschreiben, auf die die betroffenen zunächst noch durchaus fröhlich – mit sogenannten „Pink-Letter-Parties“ – reagiert hatten.

Die Anthraxbriefe signalisieren jedoch: Jetzt ist Schluß mit lustig! In Deutschland wurden bereits einige dieser „Täter“ zu mehrmonatigen Gefängnisstrafen auf Bewährung verurteilt. In Neumünster konnte sich einer gerade noch damit herausreden, daß es sich bei seiner Anthrax-Aktion im Supermarkt nachweislich um Kunst handelte. In den USA, wo die Verfassung jedem Bürger höchstens das Recht zur Querulanz einräumt, ist dagegen schon bald jeder Penner ein Schläfer, wie der Schriftsteller Perikles Monioudis auf einer Amerikareise meinte beobachtet zu haben.

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