vonHelmut Höge 07.10.2006

Hier spricht der Aushilfshausmeister!

Helmut Höge, taz-Kolumnist und Aushilfshausmeister, bloggt aus dem Biotop, dem die tägliche taz entspringt. Gonzo-Journalismus der feinen Art.

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Mehr Glück als beim Botanischen Garten hatte ich mit meinem taz-presseausweis bei einer fünftägigen Expedition durchs wilde Westschweden. Und hernach waren sowohl die Reiseveranstalter als auch die taz-Reiseseitenredakteurin mit meinem Bericht zufrieden. Letztere bat mich, darüberhinaus noch ein Reisebuch „Schweden – auf den Spuren von Nils Holgerson“ zu besprechen. Auch das tat ich zu ihrer Zufriedenheit. Aber dann kam nichts. Die Saison in Westschweden war längst vorbei. Sie warte auf weitere Texte über Skandinavien, sagt die Reiseseitenredakteurin. Ich versuchte daraufhin – mit Erfolg – Wladimir Kaminer zu überreden, einen Bericht über unsere letzte Islandreise Anfang August zu schreiben. Daraufhin erschienen die Skandinavien-Reiseseiten dann auch tatsächlich – allerdings ohne meinen Westschwedentext und von der  Nils-Holgerson-Reisebuchbesprechung war quasi nur noch ein Maggiwürfel übriggeblieben. Aber das hatte mir auch schon der „Meinungs“-Redakteur prophezeit: „Jetzt kann man deine langen Texte endlich beruhigt kürzen, du kannst sie danach ja in deinen blog ungekürzt übernehmen.“ Einer der stellvertretenden Chefredakteure hatte dazu hämisch gegrinst.

„Erzählen Sie, was Sie gesehen und verstanden haben,“ bat der Dramatiker Heiner Müller vier Schüler des Gymnasiums Bad Freienwalde nach der Aufführung seines Revolutionsstückes „Zement“ 1973. Ich stehe vor einer ähnlichen Aufgabe – nach einer Journalistenreise durch Schweden, unter der Führung einer Dame vom westschwedischen Touristenverband, einer weiteren von der deutsch-dänischen Reederei „Scandlines“ und einem jungen Skandinavisten aus einer Lübecker PR-Agentur. Zumal die von ihnen organisierte mehrtägige Überlandtour per Schiff und Kleinbus von Hotspot zu Hotspot durchaus Theaterqualitäten hatte. Nicht selten  waren wir, eine Handvoll Journalisten, dabei sogar Teil der Aufführung. Einmal, indem der Besitzer eines einsamen aber desto vornehmeren Restaurants auf einem Berg oder an einem See uns  ein besonders gutes Essen, bestehend aus regionalen Zutaten, servierte. Zum anderen, indem z.B. einige leitende Angestellte des Göta-Kanals extra für uns eine Bootsfahrt mit Imbiß auf der „MS Regina“ organisierten, wozu noch ein Kapitän und etliche  Studenten gehörten, die, um ihr Stipendium aufzubessern, während der Kanalsaison an den Schleusen Dienst tun – wir aber kamen außerhalb der Saison angeschippert. Vollends Theater wurde uns dann auf der Festung Karlsborg vorgemacht – von einer jungen Führerin in alter Uniform mit echter Schreckschußpistole, deren Schüsse jeweils den nächsten Akt eines Festungsdramas ankündigten, das „live“ nie stattfand:  die Abwehr eines  russischen Angriffs auf diese Ausweichhauptstadt der Schweden – halben Wegs zwischen Stockholm Göteborg. Als die Festung endlich stand, war sie bereits veraltet, außerdem kamen die Russen nie bis Karlsborg. Wir sahen sie dafür in einem an Statisten reichen Spielfilm des Festungs-Kinos.

Müßte ich diese kurze Reise zusammenfassen, d.h. auf einen Begriff bringen, würde ich von einer spezifisch schwedischen Dialektik zwischen gesellschaftlichem Luxus und privater ABM sprechen. Und dazwischen wie hingemalt lauter reiche Bauernhöfe. Mir schien in Västergötland, Bohuslan und Dalsland, dass die schwedische Reformation, nach der die Bauern mit einer eigenen Interessensvertretung ins Parlament gelangten, der Bevölkerung und des Landes weitaus mehr gebracht hat als die deutsche, die bekanntlich mit einer Niederlage im Bauernkrieg endete. Mit gleich mehreren Schloßbesichtigungen wurden wir auf diesen heroischen Abschnitt der schwedischen Geschichte aufmerksam gemacht. Und all diese prächtigen Barockanlagen waren bis hin zum dazugehörigen Kräutergarten gleichsam staatspädagogisch-ökologisch wertvoll gemacht geworden. Im Endeffekt oder vielmehr im Nebeneffekt kommen dabei dann aktuelle Geschichten wie die heraus, die uns ein Biologielehrer und Hobbylimnologe während eines kurzen  Ausflugs mit seiner Yacht über den Vänern – Schwedens größtem See – erzählte: In diesem sensiblen Urlaubsgebiet erschoß kürzlich ein Bauer einen Wolf – und kam dafür sechs Monate ins Gefängnis. Man muß hinzufügen, dass die schwedischen Gefängnisse inzwischen weltweit die „humansten“ sind. Am Marinestandort nahe Karlsborg erzählte  mir ein angetrunkener Offizier von seinem lange zurückliegenden geheimen Spionageeinsatz im Raum Leningrad, der fast schief gegangen wäre – und ihn aus der Bahn geworfen habe:  Nun genieße er nur noch das Leben. Ich traf ihn nach einem Elchessen vor der Tür des Restaurants „Göta Kanal“ – an einem großen Aschenbecher, dem ungemütlichen Aufenthaltsort der letzten, bedauernswerten schwedischen Raucher. Der Fahrer und Besitzer des Kleinbusses führte ebenfalls eine multiple Existenz – u.a. besaß er als Jazzkritiker eine eigene Webpage. Über einen Berg, an dem wir bei Linköping vorbeifuhren, wußte er zu berichten: „Der ist schon von Linné besungen worden.“ Als wir durch einen Buchenwald fuhren und ein Dorf passierten, bemerkte er: „Hier hat der Großvater von Greta Garbo gelebt.“ In der Porzellanfabrik von Lidköping, der zweitältesten Europas, führte uns eine leicht deprimierte Angestellte durch die 10.000 Stücke umfassende Ausstellung, später erzählte sie, dass man die Produktion nach Malaysia verlegen werde. Die Kanalgesellschaft besitzt eine verlassene Wassermühle, als wir sie passierten, wurde sie gerade von drei einst freien Theatermachern zu einem Hotel mit Minikanal-Erlebnispark umgebaut. Sie bewirtschaften dieses „Norrqvarns Upplevelsland“ quasi auf eigene Rechnung – als eine Art Wir-AG. Ähnlich war auch eine Gruppe von Künstlern beschäftigt, die seit Jahr und Tag das letzte  Kanalpostschiff, die „Eric Nordevall“, die 1856 im Vättern-See sank, originalgetreu nachbauen. Eine ganze Holzschiffs-Werft ist daraus inzwischen entstanden  – mit Ausbildungsplätzen und Sponsorenvideos. Während die Künstler eher verhalten-optimistisch ihre „Projekte“ präsentierten, gestaltete sich der Auftritt eines deutschstämmigen Volvo-Mitarbeiters und Hobbyhistorikers erneut theatralisch, indem er uns als Mönch verkleidet die alte Quelle zeigte, aus der einst mit einer Königstaufe die schwedische Nation gewissermaßen hervorgesprudelt war. Das Ereignis fand um das Jahr 1000 statt, daneben steht heute eine Kirche – jedoch  ohne Dorf drumherum. Dazu erklärte uns der Heimatforscher: Während der Reformator Gustav Vasa 1527 die katholischen Ländereien enteignete und Karl XI. sich 1680 auf die Bauern stützend eine „Adelsreduktion“ durchführte, habe Gustav IV. 1796 das dörfliche Gemeineigentum abgeschafft und das Land neu verteilt, um ökonomisch selbständige Betriebe zu schaffen. Dadurch sei das genossenschaftlich wirtschaftende Dorf aufgelöst und ein Landproletariat geschaffen worden – zugunsten verstreuter Einzelgehöfte. Übrig blieben die Kirchen – und zwischen ihnen heute immer mehr  Ferienhäuser von Städtern, die oft und gerne Flagge zeigen, d.h. in ihren  Vorgärten die schwedische Fahne hissen und dazu regelmäßig den Rasen mähen. Auch die 120 pro Saison als Schleusenwärter am Göt-Kanal beschäftigten Studenten sind vier Stunden täglich mit dem Mähen des Uferrasens beschäftigt. Aber noch immer seien 75% des schwedischen Territoriums „Blaubeerflächen“, beruhigte mich eine.

Das Schriftstellerehepaar Sabine und Wolfram Schwieder hat ein Reisebuch über Schweden geschrieben, in dem es sich von dem 1906 veröffentlichten Buch Selma Lagerlöfs: „Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson“ leiten ließ. Die Nobelpreisträgerin hatte es bereits als eine schwedische Landeskunde für den Schulunterricht verfaßt. Ihre Geschichte beginnt am südlichsten Punkt Schwedens in Schonen, wo ein Junge namens Nils Holgersson auf einem kleinen Bauernhof lebt. Weil er alle Tiere quält, wird er eines Tages in einen Däumling verzaubert. Zusammen mit dem Hausganter Martin gelingt es ihm, sich einer Gruppe von Wildgänsen anzuschließen, die auf dem Weg nach Norden ist. Im Verfolg ihres Fluges lernt der Leser ganz Schweden kennen, mehr noch aber beeindruckt ihn die gegenseitige Hilfe in der Tierwelt, die die Gänseschar unter der Führung der alten erfahrenen Graugans Akka von Kebnekajse unterwegs immer wieder erfährt. Auch Nils Holgersson wird dadurch gewissermaßen geheilt – und zu einem anständigen Menschen umerzogen. Die Reise mit den Gänsen in den Norden ist ein gelungenes sozialpädagogisches Experiment – mit einem schwer erziehbaren Jugendlichen. Ähnlich schickt man heute viele deutsche Neonazis mit dem Flugzeug in Camps nach Sibirien. Als Jugendlicher habe ich dieses Buch wohl zwanzig mal gelesen. Es begründete mein anhaltendes  Interesse an Tieren und Pflanzen. Daneben behandelte die feministische Autorin aber in ihrer Reiseerzählung auch soziale Probleme der Menschen. Ich erinnere mich an eine  junge bleiche Arbeiterin in der Zündholzfabrik von Jönköpping an den Ufern des Vättern. Als sie die Gänse über die Fabrik fliegen sieht, ruft sie ihnen sehnsüchtig nach: „Nehmt mich mit, nehmt mich mit!“ Jedesmal, wenn ich seitdem Wildgänse am Himmel sehe, muß ich an diese Szene denken. Leider haben die Autoren des Reisebuches auf den Spuren von Nils Holgersson wenig Sinn für Sozialkritik in Schweden entwickelt. Nicht zuletzt deswegen, weil die schwedischen  Fremdenverkehrsverbände natürlich nichts Besseres zu tun hatten, als diesen ewigen Weltbestseller der Lagerlöf für sich – und das heißt für den Tourismus – auszuschlachten, um Fakelore daraus zu machen. Nahezu überall, wo die beiden Schriftsteller hinkamen, warteten schon „hervorragende Führer“ in historischen Kostümen und ökologisch aufgeräumten Original-Environments mit weiteren Nils-Holgersson-„Realia“ auf sie. Und es blieb wenig mehr zu tun als festzustellen, dass sich da und dort seit damals nur wenig verändert hat, oder das die Autorin sehr genau recherchiert – bzw. sich gut in die Sichtweise der Gänse auf das Land von oben reingedacht hat. Anders als dem Ehepaar Schwieder und dem Regisseur des Films „Nomaden der Lüfte“ z.B. stand ihr dafür kein Flugzeug zur Verfügung.

Die Autoren meinen, dass Selma Lagerlöf „sich nie kritisch über ihr Land äußert – im ‚Nils Holgersson‘,“ der das „Heimatgefühl der jungen Leser stärken“ sollte. Ihr jetziges Reisebuch ist jedoch noch unkritischer – will mir scheinen. So erwähnen sie zwar die Bergbaustadt Kiruna, die wegen der steigenden Stahlpreise immer reicher und größer wird, ebenso auch die Probleme der lappländischen Samen, deren nomadische Lebensweise als Rentierzüchter dadurch gefährdet ist. Aber eigentlich sind diese Samen für sie auch bloß Folklore. Dabei wurde erst kürzlich deren Sprecher Olaf T. Johansson wegen seines Widerstands gegen die Diskriminierung der Samen als „Terrorist“ verhaftet und immer wieder machen Großgrundbesitzer und Jagdpächter den Rentierzüchtern die Weiderechte streitig – weswegen es einen internationalen Aufruf gibt, ein Rentier zu adoptieren, damit die betroffenen Züchter die Gerichtskosten aufbringen können. Nach dem Ersten Weltkrieg bereits hatten die schwedischen Sozialdemokraten ein Gesetz verabschiedet, mit dem den Samen ihre Nationalität aberkannt wurde, sobald sie ihre Rentierherde abschafften. Gerade dazu wurden und werden sie jedoch ständig gedrängt. Im Times Literary Supplement erinnerte Norman Stone gerade daran, dass man die Samen in Schweden noch bis in die Siebzigerjahre sterilisierte, weil sie so kleinwüchsig und immer betrunken waren. Schweden ist entgegen anderslautender Gerüchte alles andere als ein tolerantes Land – für gutbetuchte weiße  Mittelschichtstouristen jedoch absolut weltoffen und nahezu perfekt aufgeräumt.

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https://blogs.taz.de/hausmeisterblog/2006/10/07/gluck-mit-westschweden/

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