vonHelmut Höge 12.12.2006

Hier spricht der Aushilfshausmeister!

Helmut Höge, taz-Kolumnist und Aushilfshausmeister, bloggt aus dem Biotop, dem die tägliche taz entspringt.

Mehr über diesen Blog
Liebe FreundInnen, KollegInnen, GenossInnen!

In den Kämpfen der ArbeiterInnen im italienischen 'Heißen Herbst' 1969
entwickelte sich eine revolutionäre Dynamik mit enormer Ausstrahlung.
Ausgehend von ihren eigenen Bedingungen und Bedürfnissen stürzten sich viele
hunderttausend Menschen in die unterschiedlichsten Kämpfe: für mehr Lohn und
weniger Arbeit, eigenständiges Herabsetzen von Miet- und Energiekosten,
proletarisches Einkaufen, Hausbesetzungen, Kämpfe an der Uni, Lohn für
Hausarbeits-Kampagnen u.v.a. Diese Kämpfe erhielten ihre Durchschlagskraft,
weil in ihrem Zentrum der Massenarbeiter stand. Begriffe und politische
Konzepte wie 'Klassenzusammensetzung', 'Untersuchung' und vor
allem '(Arbeiter-)Autonomie' sind in diesem historischen Zusammenhang
entstanden.

Heißt das was für hier und heute? Einerseits wird 2006 das Jahr mit den
meisten Streiks in der BRD seit 1992 sein, andererseits erblühen in der
radikalen Linken seit Jahren philosophische Phantasien wie 'Multitude',
Konstrukte wie das 'Prekariat' und realpolitische Forderungen
wie 'Existenzgeld'. Die Streiks haben keine Ausstrahlungskraft und die
Philosophien führen nur zur weiteren Abschottung der linken Szene von der
sozialen Wirklichkeit. Lässt sich das aufbrechen?

Wir werden einen Film von Ende 2004 zeigen, in dem Arbeiter von ihren Kämpfen
Ende der 60er/Anfang der 70er in Porto Marghera erzählen (siehe unten) und
zwei Referate vorbereiten, um in eine produktive Diskussion zu kommen.

Veranstaltung am 18.12.06 um 19 Uhr im kato (unter der Haltestelle
Schlesisches Tor)

alles weitere entnehmt bitte unserer Website:
http://www.wildcat-www.de/veranst.htm


Die DVD (mit zwei Filmen "Porto Marghera. gli ultimi fuochi" und "Porträt
Augusto Finzi"; der erste ist untertitelt in Deutsch, Englisch, Französisch
und Polnisch; der zweite in Deutsch und Englisch) legen wir für AbonnentInnen
der nächsten Wildcat gratis bei.
Zur DVD gehört ein 80seitiges Booklet mit Material zum Film (historische
Texte, aktuelle Interviews, Reden, Hintergrundmaterial).

hasta la vista!
eure wildcats
FILM ÜBER DIE ARBEITERKÄMPFE IM INDUSTRIEGEBIET PORTO MARGHERA

Wir haben über ein Jahr lang an der Herausgabe des Films »Porto Marghera. Die
letzten Feuer« (2004) als DVD mit Untertiteln gearbeitet. Das hat vorallem
zwei Gründen: Der Streik bei BSH ist dazwischen gekommen. Und: Die Arbeit an
der DVD hat viel mehr Spaß gemacht als gedacht.
Was hat uns genau Spaß gemacht?

1) In den 60er und 70er Jahren haben viele radikale Linke nach Italien
geguckt, weil dort so spannende Sachen passierten... Der Operaismus wurde als
libertäre, emanzipatorische Theorie gesehen. Für GenossInnen, die die Sprache
lernten und hinfuhren, folgte die Ernüchterung: die operaistischen Gruppen
und auch diejenigen der Arbeiterautonomie in den 70er Jahren waren
ultraleninistische Organisationen; die Organisierte Autonomie '77 ff. nahm
jeweils aktuelle Themen auf und setzte sich mit ihrem Apparat drauf - bis hin
zu den tute bianche bzw. disobbedienti, wie sie heute heißen. -- Der Film
zeigt, dass die Arbeiterkämpfe in den 50er, 60er und 70er Jahren eine andere
Realität waren...

2) ... die "Arbeiterautonomie" war die praktische und massenhafte Überwindung
der Lenin'schen Behauptung, die Massen könnten nur tradeunionistisches
Bewusstsein entwickeln und bräuchten deshalb die Führung durch die
revolutionäre Partei. Der heiße Herbst '69 ist einmalig in der
Klassengeschichte Europas nach dem Zweiten Weltkrieg, was die
Erfahrungsprozesse in den Kämpfen und ihre Ausweitung ins ganze soziale
Gefüge betrifft.

3) Arbeiterkampf - und das kann man in dem Film gut sehen - hieß: Kampf in der
Fabrik, Hausbesetzungen, Kampf im Stadtteil, Strom- und Mietstreiks,
Hausbesetzungen, vor allem aber Kampf gegen die (gesundheitsschädliche)
Arbeit - das ging von alternativer Medizin, über die Beschäftigung mit dem
Essen bis hin zu direkter Aktion und Arbeitszeitverkürzung.
Arbeiterkampf im Gegensatz zum Gewerkschaftskampf ist gar nicht so sehr die
komplette Ablehnung aller Institutionen, sondern die kompromisslose
Durchsetzung der eigenen Bedürfnisse als Arbeiter - und das ist letztlich der
Wille, die eigene Lage zu kritisieren und abzuschaffen. Die Fabrik und die
Arbeiter(innen) werden im Film äußerst scharf und radikal kritisiert - das
gleiche müsste gegen Programmierer, Bank- und Versicherungsangestellte,
Beschäftigte im Öffentlichen Dienst usw. erst noch geleistet werden! - Ein
wesentliches Manko der heutigen Kämpfe und Kampagnen: Ihnen fehlt die
Perspektive, die eigene Lage umzustürzen (z.B. bei der Forderung nach
Existenzgeld ).

4) Die Kampfformen in der Fabrik waren vielfältig und innovativ:
Schachbrettstreik, Stop-and-go-Streik, Kombination aus beidem, Sabotage,
wilder Streik ohne Forderungen, Umzüge, sit-ins, go-ins, Bummelstreiks,
verhasste Kapos verprügeln - und immer wieder: Versammlungen, auf denen alles
beschlossen wurde - diese Basisorientierung ist ein wichtiges Kriterium der
Klassenkämpfe in
Italien. Der Egalitarismus war ein sehr starker Antrieb, gegen die
Gewerkschaft haben sie gleiche Lohnerhöhungen bzw. sogar umgekehrt
proportionale Lohnerhöhungen durchgesetzt.


Anfang einer Debatte?

Positiv überrascht hat uns die (neue) Bereitwilligkeit der damaligen
Arbeiteraktivisten (alle, die noch leben, sind auch heute noch in food coops,
Mieterinitiativen usw. aktiv) zu reden - wir haben also zusätzliche
Interviews gemacht. Inzwischen machen die Arbeiter selber Veranstaltungen mit
dem Film. Wir haben die Veranstaltungen zusammen besucht. Deshalb hat die
Arbeit an dem Film und am Booklet so lange gedauert. Mitte Dezember kommt
aber die DVD aus dem Presswerk und die Wildcat 78 aus der Druckerei. Wir sind
guten Mutes, am 18. im Kato beides zur Hand zu haben.

Der Film hat bereits einiges ausgelöst; u.a. beginnt jetzt - endlich! - eine
Untersuchung über die Arbeiterkader von PotOp; bisher hat niemand mit ihnen
geredet. Es geht also nicht um den Blick zurück auf eine abgeschlossene
Geschichte, sondern um den Beginn einer Auseinandersetzung, in der endlich
auch die Protagonisten der damaligen Kämpfe, die Arbeiter selbst das Wort
ergreifen....

Der Film ist in vielen Bezügen sehr »modern«: es geht um Kämpfe gegen
Sub-Unternehmer, gegen Sklavenhändler, gegen Zeitverträge, gegen
Betriebsschließungen, gegen gesundheitsschädliche Arbeit... Die Kämpfe
stießen an drei Grenzen, die noch heute aktuell sind: die Krise, die
Gewerkschaft, die Repression:
1) Unternehmer in die Krise treiben und ggf. kaputt machen - aber was, wenn
die Revolution nicht gelingt? Die Branchen ins Ausland treiben - und dann?
(Kämpfe gegen Betriebsschließungen ziehen sich wie ein roter Faden durch den
Film, von 1950 bis 2004)
2) Revolutionäre Gruppen und ArbeiterInnen können radikale neue
organisatorische Lösungen finden, aber die institutionellen Vertreter
gewinnen die Oberhand, sobald es um die Absicherung des Erkämpften geht
(diese Fragestellung wird erst deutlich, wenn man den zweiten Film auf der
DVD anguckt).
3) Repression: Was tun gegen einen Staat, der 4000 Aktivisten in den Knast
schmeißt und Tausende in den Untergrund oder das Exil treibt?!
(Ermittlungsverfahren »7. April«) Bereits im Heißen Herbst begann
die »Strategie der Spannung«: am 12. Dezember 1969 werden in Mailand und Rom
fünf Bomben deponiert, in Rom gehen drei hoch und verwunden Menschen, die
Bombe in der Piazza Fontana im Zentrum Mailands tötet 16 und verwundet 90
Menschen. In den folgenden Jahren werden immer wieder faschistische Gruppen
im Dienst staatlicher Stellen Bomben in Züge legen. Der Bombenanschlag am 2.
August 1980 auf den Hauptbahnhof von Bologna, ist der grausige Höhepunkt. Es
sterben 85 Menschen und 200 werden verletzt. Im Herbst 1980 beenden
der »Marsch der 40 000« und die Unterschrift der Gewerkschaft unter ein
Abkommen, das »Kurzarbeit zu null Stunden« für 23 000 Fiat-ArbeiterInnen
vorsieht, einen ganzen Kampfzyklus. Danach wurde auch die Strategie der
Spannung (vorläufig?) nicht mehr gebraucht.  1981 flog die Geheimloge P2 auf.
Sie bereitete den Staatsstreich mit vor und hatten in vielen Attentaten ihre
Finger drin – eines ihrer Mitglieder sollte später Ministerpräsident werden.
Die Strategie der Spannung, der 7. April usw. kommen im Film nicht explizit
vor, man muss sie aber mitdenken, da viele der aktiven Arbeiter jahrelang im
Knast waren.
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https://blogs.taz.de/hausmeisterblog/2006/12/12/noch-eine-bewegungsmeldung/

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kommentare

  • UND DER REST.
    UND WO IST DAS

    KONKRETE.

    DIE HABEN EIN PROBLEM AM FREITAG.
    NICHT WAHR
    HEIßT JA BLOß NOVELLE
    EINER
    GESETZ
    GEBUNG

    WERBUNG ÜBER UND ZWISCHEN DIE KÖPFE DER LEUTE

    WO STEHT DAS DA OBEN.
    12.12.2006 abends.

    ein jemand.

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