vonHelmut Höge 19.12.2006

Hier spricht der Aushilfshausmeister!

Helmut Höge, taz-Kolumnist und Aushilfshausmeister, bloggt aus dem Biotop, dem die tägliche taz entspringt.

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Gestern im Kreuzberger Kato zeigte das Wildcat-Kollektiv einen Film – “Die letzten Feuer” – über die Arbeitskämpfe im Industriegebiet von Venedig – Porto Marghera 1968/69. In der anschließenden Diskussion meinte einer der Wildcat-Genossen: Das ist nicht das Ende gewesen – damals, sondern der Anfang.

Da nun am scheinbaren Ende der Arbeiterbewegung der Arbeiterfilm an vielen Orten wieder gefragt ist – als abgeschlossenes Forschungsgebiet gewissermaßen, sei hier erst einmal ein kleiner Rückblick von Produktionen aus den letzten 15 Jahren eingeschoben:

“Man kann sich noch erinnern, daß die ganze Welt stille stand – als China und die Tische zu tanzen anfingen,” schrieb Karl Marx einst. Hier haben nun ebenfalls nicht nur wieder die Wahrsager und Zukunftsdeuter Konjunktur, es demonstrierten und protestieren auch dort – in den chinesischen Nordprovinzen Heilongjiang und Liaoning – zehntausende von Arbeiter und Arbeitslose gegen die rapide Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen, nachdem immer mehr staatliche Fabriken und Industrieanlagen still gelegt wurden. 2006 kam es laut offizieller Statistik zu 87.000 “Unruhen” in China.
In der Westpresse sprach man zuvor von den “größten organisierten Demonstrationen seit 1989”, etliche Aktivisten wurden inhaftiert. Es war sogar die Rede von einer neuen Gewerkschaftsbewegung. Und der DGB sowie die Friedrich-Ebert-Stiftung mußten sich fragen lassen, warum sie – ähnlich wie zuvor in Südkorea – nur mit offiziellen Gewerkschaftsvertretern Kontakte pflegten. Insbesondere in der Stadt Liaoyang versuchten derweil die China-Korrespondenten dem Volkszorn auf den Grund zu gehen. Schon vor dessen öffentlicher Artikulation hatte sich ein junger chinesischer Filmemacher mit der Lebens- und Arbeitssituation in der Hauptstadt Shengyang der Provinz Liaoning beschäftigt – seine fünfstündige Dokumentation wurde hernach heimlich nach Berlin gebracht und sogleich auf der Berlinale gezeigt.

“Das ist wahrscheinlich der interessanteste Film des diesjährigen Festivals”, so kündigte eine Sprecherin der Sektion Forum den Film “Tiexi District” von Wang Bing an. Beeindruckend genug war diese lange Elegie auf das Industrieproletariat jedenfalls – obwohl oder weil es seit dem Zusammenbruch des Sozialismus hunderte solch filmischer Elegien gibt.

Nicht wenige entstanden im Rahmen der Pflichtprogramme öffentlich-rechtlicher Sender – und befaßten sich z.B. mit der “letzten Schicht” auf einem Lausitzer Braunkohlebagger, im Kalibergwerk Bischofferode und im Wolfener Filmwerk ORWO – oder mit der Abwicklung einer Textilfabrik in Bombay, einer Werkzeugmaschinenfabrik in Moskau, einer Kolchose in Polen…

Berühmt wurde der amerikanische Dokumentarfilm über die Schließung der Chrysler-Fabrik in Flint “Roger and Me” (von dem die IG Metall mehrere Kopien zu Schlungszwecken erwarb); ferner der englische Spielfilm “Brassed Off” über die Arbeiter einer globalisierungungsbedingt platt gemachten Zeche in Yorkshire; der aufwendige französische Film “Réprise” – über die stillgelegte Batteriefabrik “Wonder” (von dem die französischen Gewerkschaften ebenfalls etliche Kopien erwarben); außerdem der finnische Film von Aki Kaurismäki über zwei Arbeitslose, die eine Kneipe mit dem sinnigen Namen “Zur Arbeit” eröffnen; sowie der englische Dokumentarfilm von Ken Loach über den Kampf der entlassenen “Docker von Liverpool”; und die Hommage von Alain Tanner auf die Genueser Hafenarbeiter: “L’Hommes du Port”, die ihre Arbeitsplätze quasi eigenhändig privatisieren.

Dieser Film kommt der chinesischen Langzeitdokumentation “Tiexi District” am nächsten: der Regisseur Tanner arbeitete einst selbst im Hafen von Genua. Und den Aufnahmen des jungen Regisseurs Wang Bing merkt man an, daß er ebenfalls mit seinen Protagonisten eng befreundet ist.

Dreieinhalb Jahre drehte er illegal in dem riesigen Industriekomplex der Stadt Shengyang, Hauptstadt der mandschurischen Provinz Liaoning. Auf der Berlinale meinte er: “Wenn man etwas von der Geschichte Chinas verstehen will, muß man dort hingehen”. Der “Tiexi District” war das Symbol für den “Traum einer Generation”, schreibt der Germanist und ehemalige Rotgardist Fang Yu dazu im Katalog.

1931 wurde das Gebiet von den Japanern besetzt, die wenig später im “Tiexi District” ein Kabelwerk, eine Fahrradfabrik und ein Stahlwerk zur Herstellung von Bajonetten bauen ließen. Auf dieser industriellen Grundlage errichteten die Sowjets im Rahmen ihrer Bruderhilfe in den Fünfzigerjahren 157 neue Metallfabriken, wobei sie teilweise zuvor in Deutschland requirierte Industrieanlagen verwendeten. Zu Hochzeiten arbeiteten im “Tiexi District” bis zu einer Million Arbeiter. Seit Beginn der chinesischen Wirtschaftsreformen der Neunzigerjahre und der harschen Parole “Xia Gang” (Runter vom Posten) wurde jedoch ein Werk nach dem anderen stillgelegt bzw. langsam abgewickelt.

Von unten kam es infolge der zunehmenden Arbeitslosigkeit zu Gewaltausbrüchen – wie die der berühmt-berüchtigten “Hammer-Bande” von Changchun. Und von oben zu massenhafter Korruption. Die Regierung ging gegen beides drastisch vor und forcierte zugleich die Investitionstätigkeit in den drei besonders von “Strukturproblemen” betroffenen Provinzen Jilin, Heilongjiang und Liaoning. In letzterer wurden allein 319 leitende Angestellte sowie der Bürgermeister von Shengyang hingerichtet, weil sie sich beim Verkauf der alten Maschinen persönlich bereichert hatten. Darüberhinaus versuchte man die Agonie der riesigen Schwerindustrie-Standorte zu verlängern. Die Arbeiter bekamen entweder eine einmalige Abfindung oder eine Rente, ansonsten hoffte man, daß sie, die immer schlechter entlohnt wurden, einzeln nach und nach verschwinden würden, um sich eine neue, bessere Arbeit zu suchen. Es gab auch welche, die z.B. in der Fahrradfabrik, die in ganz China berühmt ist, einzelne Abteilungen übernahmen – und sich so vom Arbeiter zum Kleinunternehmer wandelten.

Als der Regisseur Wang Bing 1999 mit den Dreharbeiten begann, war die Eisenschmelzhütte mit dem Stahlwalzwerk, das größte Chinas, bereits in Konkurs gegangen und geschlossen worden. In den Schmelzhütten und Elektrolysefabriken für Kupfer, Blei und Zink sowie in einem Teil des Kabelwerks wurde jedoch noch dreischichtig mit etwa 12.000 Leuten gearbeitet – wenn auch nur noch lustlos und immer mehr improvisierend.

Sämtliche Betriebe des “Tiexi Districts” sind mit einer Eisenbahnstrecke verbunden, auch diese war noch in Betrieb. In der Dispatcher-Baracke der Eisenbahner, wo einige Arbeitslose untergeschlüpft waren, die sich dann für die Beheizung des Raumes zuständig erklärten, hielt sich der Regisseur oft und gerne auf. Gelegentlich fuhr er auch auf einer Lokomotive mit und filmte die mehr als 20 Kilometer lange Strecke, an der immer öfter Kohlenklauer lauerten. Am Schluß versuchten viele Arbeitslose auch, Teile der Werke – Kabel z.B. – selbst zu demontieren, um sie auf eigene Rechnung zu verkaufen. Die meisten Szenen des Films spielen in den Arbeitshallen und den Aufenthalts- sowie Waschräumen der Arbeiter, die oft und gerne duschen bzw. baden, um sich von der Giftproduktion zu reinigen. Einige Male filmte er auch auswärtige Spezialisten-Brigaden, die auf Vertragsbasis noch schnell diese oder jene Reparatur in den Werken ausführten oder z.B. Waggons entluden.

Für die letzten übriggebliebenen der Stammgelegschaft war Wang Bing auch so etwas wie einen kleine Hoffnung, insofern er ihre Existenzsorgen und -nöte festhielt, um sie hernach allen vor Augen zu führen – zunächst in Berlin. Wobei er jetzt im Anschluß daran durchaus Gefängnis zu befürchten hat, weil er ohne Erlaubnis in den Fabriken sowie im Arbeiter-Sanatorium drehte und seinen Film dann an allen Zensoren vorbei ins Ausland schmuggelte.

Merkwürdigerweise sieht man kaum Trauer,Wut oder Verzweiflung. Es herrscht eine Art grimmige Aussichtslosigkeit. Es wird weiterhin gut und oft gegessen, man vertrödelt die Zeit mit Kartenspiel, zankt sich über Kleinigkeiten oder singt zusammen. Die Brigadiers – mit roten statt blauen Arbeitshelmen – ermahnen ihre Leute, sich trotz des absehbaren Endes weiterhin Mühe zu geben. Im letzten Fünftel befaßt sich der Film auch noch mit dem alten Wohnviertel der Stadt, das ebenfalls brutal abgerissen wird, um dem neuen postmodernen Shengyang Platz zu machen. Einige Familien weigern sich jedoch zu weichen: ohne Wasser und Strom hocken sie nun frierend in ihren Pechhütten. Aber auch sie lassen sich nicht unterkriegen: bei Kerzenlicht wird gekocht und dann erst mal gut gegessen. “Was Du im Bauch hast, kann Dir niemand mehr nehmen,” lautet ein altes chinesisches Sprichwort.

Die letzten Arbeiter des “Tiexi Districts” halfen nicht nur dem Regisseur, ins Werk zu gelangen, sie unterstützten sein Projekt auch materiell. Jeder Einstellung merkt man außerdem an, daß sie gewissermaßen mitspielten: Niemals starrt  jemand in die Kamera oder winkt bei vermeintlichen Peinlichkeiten – wie etwa einer Schlägerei zwischen Betrunkenen oder wenn jemand nackt durch den Aufenthaltsraum läuft – ab. Die Nostalgie, die sich ganz sicher bei den letzten Zuckungen der “Heavy Industry” einstellt, äußert sie höchstens in solch knappen Bemerkungen – wie etwa die beim Frühlingsfest 2001: “Auch das Feuerwerk war in den Achtzigerjahren besser!”

Auf der Berlinale betonte der Regisseur: “Das ist kein Film über Arbeitslosigkeit!” Darüber berichten auch die chinesischen Medien seit nunmehr fünf Jahren nahezu täglich – u.a. um den Bürgern zu helfen, mit “der schwierigen Lage” fertig zu werden. Wang Bings fünfstündiger und übrigens farbenprächtiger Dokumentarfilm, gedreht mit einer kleinen DV-Kamera und großer Kenntnis der schwierigen und verwirrenden Riesen-“Location”,  ist vielmehr die vorläufig definitive Elegie auf das Industrieproletariat schlechthin (nicht nur auf das chinesische), dem infolge der sogenannten Globalisierung jetzt erneut das Genick gebrochen wird. Und diesmal ganz ohne aggressiven Antikommunismus.

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