vonHelmut Höge 28.03.2007

Hier spricht der Aushilfshausmeister!

Helmut Höge, taz-Kolumnist und Aushilfshausmeister, bloggt aus dem Biotop, dem die tägliche taz entspringt.

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In der April Ausgabe der Zeitschrift „Konkret“ werde ich in einem Interview zum Thema „Selbstbeteiligung der Bergbevölkerung beim Wiederaufbau Tschetscheniens“ mit dem Satz zitiert, „Wenn sie einen Berg vollgekackt hatten, zogen sie weiter“. Das Gespräch wurde in einer lauten Kneipe aufgezeichnet. Ich glaube inzwischen doch gesagt zu haben
„Wenn sie einen Berg vollgeharkt hatten, zogen sie weiter“ was als eine Anspielung auf regelmäßige landwirtschaftliche Aktivität der Bergbewohner verstanden werden soll.

Gremliza: Mit den Erzählungen Russendisko und dem Roman Militärmusik sind Sie zum Liebling des Feuilletons geworden. Die “Frankfurter Allgemeine” rühmt Sie, die Springer-Presse preist Sie, die “Taz” liebt Sie, KONKRET hat Ihr jüngstes Buch Küche totalitär als Abo-Prämie ausgelobt. Dabei stehen Sie für vieles, was deutsche Journalisten sonst gar nicht mögen: Sie machen sich über nationale Gefühle, ethnische Identität und das Selbstbestimmungsrecht der Völker lustig, ziehen den Antikommunismus durch den Kakao. Und obendrein sind Sie auch noch ein Ostjude. Um Leute wie Sie auszurotten, haben unsere Väter und Großväter einen Weltkrieg geführt. Wie erklären Sie sich ihrem Erfolg?

Kaminer: Ich versuche, Verständnis mit der Welt zu entwickeln. Die älteste Regel der Samurai sagt: Sei streng zu dir und nachsichtig zu den andern. Das ist sehr schwierig. Nachsicht zur Welt habe ich einigermaßen gelernt. Aber ich kann auch zu mir selbst nicht streng sein. Mit dem Alter habe ich große Nachsicht zu allem entwickelt.

Sie sind gerade mal 40.

Ich bin nicht alt, aber doch älter geworden. Ich habe immer im Kollektiv gelebt, war nie allein, mußte viel Zeit mit Leuten verbringen, denen ich nichts abgewinnen konnte, und bin dabei tolerant geworden. Ich habe gelernt, die Welt als eine sehr komplexe Sache zu sehen. Ich kann gut mit Dingen leben, die ich nicht verstehen kann.

Mit manchem sind Sie gar nicht sehr nachsichtig und werden, auf Ihre lakonische Art, mitunter auch polemisch. Die Letten etwa verspotten Sie so: “Lettland wird noch immer vom Westen unterschätzt und als kleines niedliches Land am baltischen Meer abgetan. In Wirklichkeit ist Lettland, das hunderteinundzwanzigst-größte Land der Welt, ein mächtiger, von der ganzen Welt unabhängiger Staat mit Meerblick. Das Land hat eine natürliche Grenze zu Estland und Litauen sowie eine unnatürliche zu Rußland. Sauer auf die Russen zu sein ist zum Sinn und Zweck der lettischen Politik geworden. .. Unter den Kommunisten ging alles den Bach runter. Die Wälder wären dichter und der Himmel blauer, wenn die Russen nicht alles versaut hätten. Der höchste Berg des Landes ist heute nur noch dreihundertzwölf Meter hoch, wahrscheinlich weil ihn die Kommunisten niedergetrampelt haben.” Und von der lettischen Präsidentin Vaira Vike-Freiberga sagen Sie, sie könne dem Kommunismus viel weniger abgewinnen als dem Faschismus…

Die lettische Präsidentin macht einen wahnsinnig. Natürlich gibt es Dinge, die ich überhaupt nicht leiden kann und dazu gehört vor allem der Nationalismus. Nationalismus ist eine Erfindung der herrschenden Klasse. Das Gerede von nationalen Interessen soll nichts anderes, als den Leuten ein Gefühl einer Zusammengehörigkeit zu geben, die sie gar nicht besitzen, um sie in Reih und Glied aufstellen, in den Krieg zu schicken oder einfach rumzukommandieren. Vernünftig wäre es, man ließe die Leute miteinander vögeln: Armenier mit Türken, Juden mit Arabern – das würde in dreißig, vierzig Jahren alle nationalen Konflikte und Kriege beseitigen. Aber das wollen die politischen Eliten dieser Länder, diese langweiligen Jurastudenten, nicht, denn dann könnten sie nicht regieren.

Um Ihre sogenannten Kochrezepten, ich sage sogenannt, weil ich niemanden kenne, der so was essen will, und auch Sie sagen ja, die russische Küche sei die einzige der Welt, bei der das Essen unwichtig ist…

Man braucht einfach nur eine große Gesellschaft dazu, mit 15 oder 20 Gästen, dann macht diese Küche schon Spaß.

Um diese Kochrezepte herum beschreiben Sie die ehemaligen sowjetischen Teilrepubliken Armenien, Georgien, Usbekistan, Tatarstan vor und nach der Gründung und vor und nach dem Zerfall der Sowjetunion, und immer kommt dabei heraus, daß die Zeit der Sowjetunion die beste Zeit dieser Staaten gewesen. “Zu Sowjetzeiten”, schreiben Sie etwa, “war Aserbaidschan eine multinationale Republik: Armenier, Georgier, Russen, Kurden und Ukrainer lebten hier friedlich neben- und miteinander.”

Die Revolution von 1917 hat Bildung, Medizin und überhaupt eine höhere Lebensqualität in diese entlegenen Regionen gebracht, die Abwicklung des Sozialismus hat sehr viel Elend über diese Republiken ausgebreitet. Es wurde sehr viel Blut vergossen, es wurden sehr viele Kriege begonnen, in denen keiner etwas gewonnen hat.

Außer seiner nationalen Souveränität.

Die Auflösung der Sowjetunion war eine sehr merkwürdige Geschichte. In Wahrheit waren es ja nicht die vielen kleinen Republiken, die 1991 aus der Sowjetunion ausgetreten sind, sondern es war die russische Föderation zusammen mit der Ukraine und Weißrußland, und zwar entsprechend einem Artikel der Verfassung, wonach jede sowjetische Republik jederzeit und ohne Vorankündigung bedingungslos austreten konnte. Stellen Sie sich mal vor, Kalifornien träte aus den USA aus…

… oder Schleswig-Holstein aus der Bundesrepublik…

Unvorstellbar. Es gab Leute, die Stalin aufgefordert haben, diesen Artikel aus der Verfassung zu streichen. Wenn das da drin steht, sagten sie, wird das früher oder später jemand tun. Aber Stalin wollte den Artikel behalten, und so konnten die Republiken 1991 ganz legal die Sowjetunion verlassen. Es war der größte Fehler von Gorbatschow, beim Austritt der russischen Föderation nicht daran zu denken, daß in den vielen neuen Republik Nationalisten die Macht ergreifen und über die Kommunisten, über seine Leute, herfallen würden.

Die Familie ihrer Frau hat das selbst erlebt. Sie mußte auf einem Lastwagen bei Nacht und Nebel aus ihrer Heimatstadt Grosny fliehen und hat sich dann im kaukasischen Mineralnie Wodi-Gebiet niedergelassen.

Dort haben die Flüchtlinge, größtenteils russische Kosacken, ein Dorf gegründet. Die ersten zwei, drei Jahre ging es ihnen gar nicht gut, sie mußten in Bauwagen oder auf der nackten Erde leben. Inzwischen haben sie alle einen Swimmingpool im Garten und es geht ihnen gut.

Wie das?

Das sind wirtschaftliche tüchtige Leute, sehr tüchtige.

Und leben von Ackerbau und Viehzucht?

Viele von denen haben aus diesem Krieg schließlich auch Gewinn gezogen. Zunächst hat die russische Armee die Tschetschenen platt gemacht. Danach gab es mehr oder weniger einen Konsens, natürlich auf der Basis von Gewalt und sehr vielen Männern mit sehr vielen Waffen, aber doch einen Konsens, also keine flächendeckenden Bombardements mehr. Es stellte sich die Frage, wer Tschetschenien wieder aufbauen soll. Die Tschetschenen selbst sind eher Krieger, sie sind keine Arbeiter, keine Leute, die ihre Städte wiederaufgebaut hätten. Sie hatten diese Städte auch nie gebaut, das hatten die Russen getan, die in den Tälern wohnten. Die Tschetschenen waren in den Bergen. Wenn sie einen Berg vollgekackt hatten, zogen sie weiter. Das ist ganz normal bei Nomaden.

Und so bekamen nun die russischen Kosaken, die gerade Tschetschenien hatten verlassen müssen, sich aber alle im Umkreis von hundert Kilometern angesiedelt hatten, Aufträge zum Wiederaufbau Tschetscheniens. Der Onkel meiner Frau, ein Bauingenieur, hat zusammen mit anderen Russen den Flughafen von Grosny wieder aufgebaut. Und aus dem, was beim Bau des Flughafens übrigblieb, haben sie ihre Häuser und Swimmingpools gebaut.

Nach alten realsozialistischen Rezept, das Sie in Ihrem Kochbuch verraten: “In der Sowjetunion war es Sitte, nach Feierabend Kleinigkeiten von der Arbeit mit nach Hause zu nehmen, zum Andenken an einen gelungenen Arbeitstag.” Der Onkel hat es gemacht wie die Datschenbauer in der DDR.

In Tschetschenien aber unter Bedingungen der Kriegswirtschaft. Der Onkel ist ein sehr ehrlicher, sehr guter Bauingenieur, der schon immer auch mit Tschetschenen gut konnte, kein Nationalist. Ich weiß, daß es andere gab, die mit der Armee Deals gemacht haben: Ihr werft an einem verabredeten Ort Bomben ab, damit wir dann sagen können, da hätten wir gerade was für 30 Millionen gebaut gehabt. In Republiken wie Tschetschenien, die in einem so erbärmlichen Zustand sind, kann man gar keine normalen Geschäfte treiben.

Wenn nichts läuft, muß man schmieren.

Aber Korruption ist nur dann Korruption, wenn es auch nichtkorrupte Beamte gibt. Die dunkle Seite des Guten. Wenn die helle Seite fehlt, ist die dunkle Seite plötzlich nicht mehr dunkel, sondern hell. Dann ist die Korruption nicht Korruption, sondern Alltag.

Mein Vater arbeitete in einem Betrieb, der Pontons produzierte, die von einem LKW aus aufgerollt eine Militäreinheit oder auch Zivilbevölkerung über einen Fluß bringen konnten. Wie alles in der Sowjetunion hatte auch diese Produktion immer zwei Zwecke: einen militärischen und einen zivilen. Aber es war nichts, was er mit nach Hause nehmen konnte. Und er hat sehr darunter gelitten, weil die meisten Freunde von ihm zwar schlechtere Stellen hatten, aber in einer anderen, nach Sacco und Vanzetti benannten Fabrik. Dort wurden Zahnbürsten, Kämme und andere Erzeugnisse aus Plastik produziert. Diese Leute hatten mehr Zahnbürsten als Zähne und mehr Kämme als Haare, und damit immer was zum Verschenken oder zum Tauschen. Das war eine deutliche Steigerung der Lebensqualität. Und mein Vater saß da mit seinen ausklappbaren Brücken – bis er merkte, daß an denen doch etwas Gutes war: Bevor sie mit so einer gelben Farbe gestrichen wurden, hat man sie abgebeizt. Und diese Substanz konnte man auch trinken. Es war die einzige Währung, die dieser Betrieb seinen Mitarbeitern anzubieten hatte. Diesen technischen Alkohol hatte mein Vater immer in Zwei-Liter-Flaschen stehen …

Und starb bald?

Man erzählte sich, daß man davon blind wird und Haarausfall bekommt. Immer, wenn mein Vater das Zeug getrunken hatte, wachte er um eins auf und beschwerte sich über Herzstillstand. Das dauerte ungefähr fünf Minuten und dann ging’s wieder.

Der hat sich gut gehalten, mein Vater, durch diese ganzen 25 Jahre in diesem Betrieb. Viele Leute sind dort Alkoholiker geworden. Alkoholismus war der größte Abstieg, der einem in der Sowjetunion widerfahren konnte. Man konnte keinen Job behalten, auch nicht als Ingenieur. Der Chef meines Vaters hat alles verloren, sein Parteibuch, seine Familie, seinen Job und wurde zum Schluß sogar seine Moskau-Anmeldung los, mußte umziehen nach Gorki.

Eine Verbannung?

Ja. Das war um 1980, wegen der Olympischen Spiele. Breschnjew wollte Moskau säubern. Nach Breschnew kam Andropow, der für noch mehr Ordnung sorgen wollte. Da wurden Leute, die um 14 Uhr irgendwo auf einer Bank saßen, angemacht, warum sie nicht bei der Arbeit sind.

Wie ist Ihre Familie durch den Zweiten Weltkrieg gekommen? Ihr Großvater, habe ich gelesen, ist bei der Panzerschlacht am Kursker Bogen ums Leben gekommen.

Kim hieß er, er hat sich selbst diesen Namen gegeben, es war das russische Kürzel für die Kommunistische Jugend-Internationale. Ich habe seine Briefe gelesen, von der Front, das war der blanke Wahnsinn: nichts Privates, 99,9 Propaganda und ein paar Bemerkungen über das Wetter. Unglaublich. Und der war damals 31, gerade zum zweiten Mal Vater geworden, ging 1941 in den Krieg, seine Frau mit ihren zwei Töchtern wurde evakuiert, mit meiner Mutter, die zehn war, und mit dem neugeborenen Kind. Sie gingen nach Samarkand, Usbekistan. Als der Zug mit den jüdischen Emigranten ankam, lief das ganzes Dorf zusammen, um sich die Juden anzuschauen, weil jemand erzählt hatte, die Juden hätten kleine Hörner auf dem Kopf.

Nach dem Krieg, mein Großvater war gefallen, konnten sie zuerst nicht nach Moskau zurück. Dafür brauchte man eine Einladung, eine schriftliche, vor irgend jemandem. Deswegen hatten die klugen Leute erst gar nicht wegfahren wollen. Aber wer ist schon klug in einer solchen Situation? 1946 haben sie von einer alten Bekanntschaft meiner Oma dann doch die nötige Einladung bekommen. Sie kamen zurück, die Wohnung war natürlich schon besetzt, aber es waren gute Leute. Sie haben in ihrer eigenen Wohnung eine Ecke bekommen. Es war eine sehr ärmliche Moskauer Gegend, die natürlich inzwischen abgerissen und planiert ist. Aber ich habe das noch gesehen mit eigenen Augen.

Das war der mütterliche Teil Ihrer Familie. Wie erging es dem anderen?

Der väterliche Teil meiner Familie lebte in Odessa. Der Opa war ein sehr umtriebiger Mensch, ein großer Abenteurer, ständig unterwegs, hatte Jobs in verschiedenen Städten in der Ukraine. Der kam nach Czernowitz, wo er aus einer bereits bestehenden Schuhfabrik eine sowjetische Schuhfabrik machen sollte. Er hat schon früh gemerkt, was kommen würde, und hat für seine Familie einen sehr schicken Plan ausgearbeitet. Er hat seiner Familie in Odessa ein Telegramm geschickt: Nehmt die notwendigsten Sachen und fahrt nach Smolensk. Ohne jegliche Erklärung, kein Wort über Krieg oder sonstwas. Nur: Fahrt dort hin. In Smolensk wird eine Nachricht von mir auf euch warten.

Als dieses Telegramm kam, ging meine Oma zu ihrem Opa, den sie für sehr klug hielt, und hat gesagt: Schau mal, mein Mann spinnt. Der schreibt, nimm nur die notwendigen Sachen und fahrt nach Smolensk. Was soll ich tun? Ihr Opa hat gesagt: Der ist wahrscheinlich tatsächlich voll daneben, aber ich rate dir, mach, was er sagt, wer weiß, wie er sonst reagiert. Also sind sie nach Smolensk gefahren. Dann hat er sie in die entgegengesetzte Richtung geschickt, er ließ sie hin und her springen wie die Flöhe. Der Rest der Familie ist in Odessa geblieben. Sie haben extra angefragt beim Parteikomitee der Stadt und haben dort die definitive Antwort bekommen, daß Odessa auf gar keinen Fall aufgegeben wird. Sie sind geblieben und alle auf eine furchtbare grausame Art und Weise ums Leben gekommen. Sie wurden von den Nazis eingesperrt und verbrannt.

Der Opa aus Czernowitz hat den Auftrag bekommen, am Ural eine Fabrik für Granaten und Tragen aufzubauen. Er hat dort die ganze Zeit des Krieges gearbeitet, sehr erfolgreich. Dann hat er noch ein Lager für deutsche Strafgefangenen geleitet, die in seinem Betrieb gearbeitet haben. Die haben meinem Vater das Rauchen beigebracht, da war er sieben. Dort am Ural hat sich der Rest Familie getroffen und überlebt.

Und nun leben Sie und ein Teil Ihrer Familie in dem Land, aus dem damals die Mörder kamen. Ihre literarische Antwort darauf ist ein leiser Hohn. In Ihrem Kochbuch lassen Sie Ihren Freund Alik sagen, es sei dumm gelaufen mit der Schlacht im Teutoburger Wald: “Hätten die Barbaren damals die Römer nicht verprügelt, wäre in Deutschland einiges anders gelaufen, vor allem hätten wir hier eine viel feinere Küche. Risotto statt Klopse. Aber sie mußten ja die Römer verjagen aus ihrem tollen Wald. Und was haben sie nun davon? Döner Kebab.” Wo bleibt die Ehrfurcht vor den kulturellen Werten der deutschen Nation, vor “deutschen Frauen, deutscher Treue, deutschem Wein und deutschem Sang”, wie es in der zweiten Strophe des Deutschlandlieds heißt?

Durch meine sehr vielfältigen Tätigkeiten habe ich mit sehr vielen unterschiedlichen Bevölkerungsschichten zu tun. Ich habe mit gedopten, betrunkenen Technofreaks, mit Kriegsveteranen und Rentnern zu tun, mit Intellektuellen, Proletariern, Journalisten und Hausfrauen, und ich sehe, daß Deutschland kein Nationalstaat mehr ist, sondern ein Haufen verschiedener Minderheiten, die sich nach Interessen gruppieren…

Schön wär’s.

… aber nicht nach deutschem Wein und deutschem Gesang. Das beste Beispiel dafür ist die deutsche Politik. Sie haben doch gewiß auch diese schizophrene Haltung bemerkt, daß die deutsche Politik zu jeder Frage zwei Meinungen hat, die einander ausschließen. Egal worum es geht – ob Gesundheit, Außenpolitik, Rauchverbot, Irak-Krieg: Die Deutschen sind immer dafür und dagegen und haben für beides immer gute Gründe. Das nimmt die Öffentlichkeit so wahr, als wäre das nichts Außergewöhnliches.

Die Deutschen waren gegen den Irak-Krieg.

Sie haben gesagt: Wir unterstützen die Amerikaner, aber wir sind gegen Krieg. Wir sind dafür, daß die Amerikaner den Krieg gegen den Terror führen, aber ohne uns. Also wir sind gegen Krieg und wir sind für Krieg, für Amerika, gegen Amerika.

Und beides aus den gleichen Gründen.

Wir sind gegen Terror und wir sind für Terror. Wir lassen uns vom Terror nicht unsere Freiheiten rauben, sondern wir werden uns selbst total überwachen. Nur auf diese Art und Weise kann eine Regierung die unterschiedlichen Minderheiten bei der Stange halten. Es gibt keine Mehrheit in diesem Land, die sagt, mit deutschem Wein und deutschem Gesang sind wir gegen diesen Krieg. Und es gibt eine Regierung, die all diese Meinungen mit einbezieht. Wissen Sie, wer das auch gemacht hat? Hm? Das hat Stalin so gemacht. Immer wenn es darum ging, in welche Richtung die Sowjetunion sich entwickeln sollte, wenn die einen sagten, Rußland muß ein Industriestaat werden, und die anderen sagten, Rußland muß ein Agrarstaat bleiben, ließ er die einen wie die anderen niedermetzeln, um dann selbst beides zu machen: Industrialisierung und landwirtschaftliche Entwicklung.

Da hat Angela Merkel ein großes Vorbild.

Das ist ein beinahe absurdes Beispiel. Aber im Grunde sind die westlichen Demokratien auf eine solche Haltung angewiesen, auch wenn sie ihre politischen Feinde nicht gleich umbringen müssen, weil sie die in diesem Informationskrieg durchaus gut unter der Matte halten können. Es ist wie beim Pokern. Jeder Spieler hat einen Plan. Und ein guter Zocker gibt den anderen das Gefühl, daß ihre Pläne aufgehen werden. Und wartet ab.

Ein erfolgreicher Zocker geht mit der Bank.

Das macht die Merkel wie jeder westliche Demokrat. Sie geht mit der Bank. Sie läßt die Leute auflaufen und geht mit der Bank. Die Bank bleibt. Der Bruder meiner Frau ist ein Spieler. Der war Anfang der 90er Jahre hier. Ich hatte damals Geld verdient im Theater, 5.000 Mark, und habe ihm das Geld gegeben, damit er uns alle reich macht. Er hat im Europacenter Poker gespielt, und ich habe beobachtet, wie er das macht. Ich dachte, das kann doch überhaupt nicht angehen, er kann die Sprache nicht, er spielt mit Leuten, die er nie gesehen hat, wie kriegt er das hin? Das ist eine reine psychologische Übung. Der hat immer nur gewonnen. Aber zum Schluß dann auch alles verloren, auch die 5.000, aber nicht beim Poker, sondern beim Roulette.

Da helfen keine Pläne und keine Psychologie.

Nein, das war seine eigene Verrücktheit. Er war schon als Kind sehr begabt in Mathe und beherrschte sehr viele unterschiedliche Spiele sehr gut. Und irgendwann hat er gesagt: Roulette? Ich weiß, wie das geht. Meine Ersparnisse wurden zum Mittel, die Verrücktheit dieses Mannes zu beweisen. Schade eigentlich, er hatte beim Pokern 17.000 plus gemacht in zwei Wochen.

Sie leben jetzt schon 16 Jahre hier. Sie haben miterlebt, wie großartig die Deutschen ihre Vergangenheit bewältigt haben. Spätestens seit der Weltmeisterschaft im Sommer 2006 ist nun wirklich alles erledigt. Und wir können nun den anderen zeigen, wie sie ihre Vergangenheit bewältigen sollen, den Polen, den Tschechen, den Russen.

Je mehr Vergangenheitsbewältigung man betreibt, um so mehr bleibt zu bewältigen. Das Holocaust-Mahnmal muß ja auch noch bewältigt werden. In zehn, zwanzig, dreißig Jahren werden die Kinder ihre Eltern fragen: Was ist das, mitten in der Stadt? Ist das Kunst? Wie soll man das verstehen? Ich war neulich in Wien, da hat ein berühmter Künstler auch so ein Holocaust-Mahnmal gemacht, eine Skulptur eines alten Juden, der auf allen Vieren mit einer Bürste die Straße schrubbt. Weil es drum herum keine Bänke gibt, setzen sich die amerikanischen Touristen gern auf den Rücken des Mannes und kauen an ihren McDonald-Sachen. Deshalb hat die Stadt beschlossen, etwas dagegen zu unternehmen. Man hat mit dem Künstler gesprochen, und der hat diesen Mann in Stacheldraht gewickelt, damit die Amerikaner sich nicht mehr draufsetzen können. Er sieht jetzt aus wie ein durchgeknallter Igel. Die Wiener, die haben doch was drauf, was die Kunst betrifft, nicht?

In Rußland gibt es auch so einen Bildhauer, Surab Zereteli, der hat ganz Moskau mit seinen blöden Figuren vollgestellt. Er gilt als Nummer eins der Denkmalmacher. Kolumbus hat er versucht nach Amerika zu verkaufen, die haben ihn nicht genommen, dann hat er das Denkmal als Peter den Großen an den Moskauer Bürgermeister Luschkow verkauft. Neulich war in Indien ein Kongreß zu Ehren von Mahatma Gandhi, da saß er plötzlich in der ersten Reihe. Der ist überall auf der Welt, der Mann. Als ich ihn jetzt sah, in Indien, dachte ich…

Er hat bestimmt noch einen Ghandi übrig?

Genau, aus einem alten Breschnew umgewandelt.

Sie beschreiben in Ihrem Kochbuch die deutsche Liebe zu Sibirien.

Sibirien ist eine deutsche Seelenlandschaft, hat ein Slawist gesagt, sehr treffend.

Bei Ihnen sagt ein Russe am Baikalsee über deutsche Touristen: “Da sind welche aus Stalingrad, die nicht mitbekommen haben, daß der Krieg zu Ende ist, und die noch immer nach einem Ausweg aus dem Kessel suchen.” Und Sie rufen deutschen Arbeitslosen zu: “Auf nach Sibirien! Die Baikal-Amur-Magistrale zu Ende bauen! Eine Autobahn von der Mongolei bis nach Spanien wäre auch nicht schlecht. Oder die A 1 von Aachen durch Königsberg weiter bis nach Irkutsk.”

Letzten Sommer hat mich ein junger Däne gefragt, warum die Deutschen, wenn sie nach Dänemark kommen, immer die Fahrräder auf dem Auto haben. Ganz einfach, sagte er, damit sie das nächste Mal nicht wieder zu Fuß nach Hause müssen. Es scheint als sei in Gegenden, wo die Deutschen mal waren, die Erinnerung an sie doch sehr viel stärker und einschlägiger als das Gedächtnis der Deutschen.

Ich kenne auch Deutsche, die solche Witze machen. Zum Beispiel den, wo ein junger Mann von seinem Opa gefragt wird: Wo warst du im Urlaub? – In Paris. – Und, hat es dir gefallen? – Nee, überhaupt nicht, alles so teuer und die Franzosen so unfreundlich. – Wirklich?, sagt der Opa. Ich war mal in Paris, da war alles für umsonst und die Mädchen haben uns alle geküßt. Mit wem warst du denn? – Mit TUI. – Und du? Mit der SS.

In den einst überfallenen Ländern hat sich ein wichtiger Restposten an Bewußtsein erhalten: Seien wir besser ein bißchen vorsichtig mit unseren lieben deutschen Nachbarn.

Die Deutschen sind ein Volk, das sehr lange braucht, um seine Aggressionen zu akkumulieren. Es gibt Völker, die leben permanent im Krieg, aber in einem so leichten Kriegszustand, in dem immer nur mit Hockern und Stühlen rumgeschmissen wird, der aber nicht eskaliert. Die Deutschen pendeln zwischen Kriegt und Frieden. Erst handeln sie so furchtbar vernünftig und gerecht, daß man schon kotzen muß vor lauter Gerechtigkeit und Vernunft. Und dann explodieren sie, haben einen – historisch gesehen: kurzen – Blackout und danach ganz viel Reue, ganz viel Vergangenheitsbewältigung und ganz viel Vernunft, noch mehr Vernunft als je zuvor. Bis zum nächsten Mal …

Von solchen ethnischen oder nationalen Mentalitäten ist bei Ihnen häufig die Rede. Wie entstehen die eigentlich? Es ist ja gewiß nichts Genetisches. Warum sind die Letten so sehr anders als die Russen?

Das sind die anderen Umstände.

Historischer Materialismus.

Die kulturellen Mythen, die auch gleichzeitig die Anpassungsgeschichten sind. Ich sehe das an meinen Kindern, die schauen sich so um, was die anderen treiben. Sie bringen das nach Hause und sehen, wie ihre Eltern darauf reagieren. Ein Tschetschene kommt zu seiner tschetschenischen Mutter und sagt: Mama, ich habe gerade auf den Berg gekackt. Und sie sagt, gut, Junge. Wenn ein Deutscher zu seiner Mutter kommt und sagt, ich habe auf den Berg gekackt, kriegt er eins auf die Fresse. Er weiß dann, das darf man machen, aber die Mutter darf nichts davon wissen. Das ist nicht gesellschaftsfähig.

Und das machen sie nicht aus freien Stücken, nicht, weil sie Lust dazu haben, sondern weil sie diese Taktik als Überlebenschance begriffen haben. Und so geht das, ob man nun die Religion nimmt oder die Politik – es läuft immer auf dasselbe hinaus, alles gehört zusammen: Martin Luther mit seinen Thesen und diese aufgeblasenen SPD-Gewerkschaften. In Deutschland ist eine große Tradition des Teilens entstanden, durch den Umgang der Bewohner mit der Natur, mit den politischen Strukturen, mit ihren Fürsten, mit ihrer Religion. In Tschetschenien teilen sie ganz anders, da herrscht eine große Kultur des Nehmens und Gebens, die auch ihre kulturellen Hintergründe hat. Sie haben einen anderen Begriff von Gerechtigkeit: Es ist nur gerecht, daß der eine nichts hat und der andere alles, denn es wurde in einem gerechten Kauf erworben oder verloren. Das ist nicht weniger gerecht als hier oder anderswo.

Es ist eine absurde Zumutung, jemanden zu sagen, wir sind gerechter als ihr, ihr versteht ja von eurem Kram gar nichts. Das versucht die deutsche und die europäische Öffentlichkeit mit Putin zu machen, der einigermaßen intelligent ist, der relativ gebildet ist, Fremdsprachen kann und vor allem Sinn für Humor und keine verstellten Gesichtszüge hat. Lenin ist 1924 gestorben. Putin ist der neue Lenin, ein Visionär, einer, der in einer sehr kurzen Zeit unglaublich viel erreicht hat, der Rußland stabilisiert hat, ein Land, das total aus den Fugen geraten war, ja das es überhaupt nicht mehr gab.

Und die Demokratie, Herr Kaminer, ist gar nichts?

Wo fehlt sie denn?

Das sagen Ihnen Frau Merkel, Herr Steinmeier und alle deutschen Leitartikler Tag für Tag.

Es gibt zur Zeit keinen großen Grund für Kritik. Die Situation wird sehr dämonisiert. Neulich las ich einen großen Artikel über Rußland. Jeder zweite Satz entsprach einfach nicht der Wahrheit. Nehmen wir die Sache mit dem Stop der Gaslieferungen. Das haben die Weißrussen gemacht, aber immer heißt es, Putin hat es gemacht, die Russen haben es gemacht. Und der vergiftete Litwinenko wurde ständig als Ex-Agent bezeichnet, obwohl er nie Agent war, sondern allenfalls ein Hausmeister. Aber das interessiert hier niemanden.

Und die Freiheit der Presse?

Die Presse wird in Rußland anders gelenkt als Deutschland. Daß die gängigen Nachrichten hier nicht die wahren Nachrichten sind, sondern im Nachrichtengeschäft ausgehandelt werden, das kann nur der Blöde übersehen. Sonst könnten sich nicht alle Zeitungen plötzlich für den gleichen Film interessieren, obwohl auch zwanzig andere Filme anlaufen. Oder wie in dieser Siemens-Sache, wo es so dargestellt wurde, als seien das Schlimmste die verlorenen 1.000 Arbeitsplätze. Daß da ein Riesenkonzern eine Tochterfirma in den fernen Osten verschenkt und dazu noch Millionen draufgelegt hat, daß da also irgendwas gelaufen ist, was in Rußland einen mittelgroßen Krieg hervorgerufen hätte, das wird hier mit Nachsicht behandelt. Daß da einer einen ganz großen Koffer mit Barem jemandem in den Rachen geschoben hat, das dringt nicht an die Öffentlichkeit.

Sie sagen ab und zu sehr lakonisch, die Sowjetunion der 80er Jahre sei “wunderbar” gewesen, “das System hat funktioniert”. Sie sind ja kein Nostalgiker…

Ich bin ein Forscher.

… und wenn Sie also die Sowjetunion der 80er Jahre verteidigen, muß das andere Gründe haben als Wehmut.

Man muß die Sowjetunion nicht verteidigen. Diese Konterrevolution fand ja nicht von unten statt, nicht die Bevölkerung hat rebelliert, sondern die Kommunisten, die gleichen Leute, die davor den Sozialismus aufgebaut haben, haben beschlossen, ihn wieder abzubauen. Das war eine parteipolitische Maßnahme und hatte sehr wenig mit dem Willen des russischen Volkes zu tun. Insofern lebt die Sowjetunion weiter, als eine Aktiengesellschaft. Sie entspricht so mehr der heutigen Welt.

Damals, vor der Konterrevolution, haben Sie antikommunistische Sender gehört: Radio Liberty oder Voice of America.

Das waren keine Antikommunisten, sondern Weltverbesserer.

Das waren Ihre Leute?

Das waren unsere Leute. Die richtigen Antikommunisten habe ich erst im Westen kennen gelernt, nachdem ich ausgewandert bin. Das waren Leute, die tatsächlich glaubten, daß die Sowjetunion ein Reich des Bösen sei, wie Ronald Reagan das in die Welt gesetzt hat. Es fand eine wahrhafte Verteufelung der anderen Seite statt. Und so dachte ich, dagegen muß ich ankämpfen, denn diese Verteufelung diente nur dazu, die westliche Art von Demokratie als der Weisheit letzten Schluß anzupreisen und jedem, der nicht damit einverstanden ist, zu sagen: Tut uns leid, besser kann es gar nicht sein. Deswegen habe ich in vielen Interviews mit “Wunderbare Sowjetunion, nicht vierzig Wurstsorten aber viele glückliche Leute” versucht, eine Art Verharmlosung zu betreiben, weil ich dachte: Verharmlosung mal Verteufelung macht Objektivität.

Die Sowjetunion ist unwiederbringlich dahin, der sogenannte reale Sozialismus hat keine Chance mehr. Daß nun jeden Tag ein bißchen fanatischer auf dieser Leiche herumgetrampelt wird, soll…

… die Leute bei der Stange halten. Wir wissen doch gar nicht, wie gut wir es haben. Wir haben ganz viele Wahlkreise und Kandidaten, und alle paar Jahre ein paar neue, und in der Sowjetunion gab es nur einen Kandidaten und alle sind sie unter der Gefahr, erschossen zu werden, an die Wahlurnen marschiert und mußten diesen Kandidaten wählen.

Soweit fast richtig.

Aber anders als im Westen hat in der Sowjetunion niemand seine Hoffnung auf die Staatsmacht gesetzt. Kein Mensch hat jemals irgendwas Gutes von irgendeiner Regierung erwartet. Auf diese Idee ist überhaupt keiner gekommen. Jeder hat versucht, aus eigener Kraft über die Runden zu kommen. Und hier fügen sich alle Menschen total in dieses System. Daß sich alle mit einem System identifizieren, ist gelenkte Demokratie. Denn von selber kommt es nicht, daß alle dieses Mitmach-Gefühl haben: Wir gestalten das Land mit.

In Wirklichkeit aber hat, gerade nachdem der Sozialismus kippte, die Politik total abgehoben. Früher wurden die Politiker vom Kapital gebraucht und bezahlt, dem Kapitalismus ein menschliches Antlitz zu geben. Das war wichtig, damit keiner auf die Idee kam, die Sozialisten seien die menschlichen. Es war eine Menschlichkeit, an der ziemlich unmenschliche Kräfte teilnahmen, aber sie haben sich Mühe gegeben. Und die Politik war ihr Schlüssel. Deswegen kam die Politik auch immer so fett rüber in Zeiten des Kalten Krieges.

Nachdem das vorbei ist, braucht das Kapital hier die Politik überhaupt nicht. Wie in Rußland haben sich Politik und Kapital verschmolzen. Dort hat eine Gruppe von Offizieren sich gedacht: Bevor das hier die Amerikaner machen oder Kriminelle, die gerade noch im Knast saßen, machen wir es selbst. Auf diese Weise können wir wenigstens die Staatlichkeit retten. Hier schmeißt jeder seinen Laden. In Berlin sind es die Amis, die alles gekauft haben, Tausende von Wohnungen, die Siedlungen, jede größere Baustelle ist eine amerikanische. Und diese Hedge-Fonds, die dann ab und zu als Heuschrecken gescholten werden, sponsern der Politik einmal im Jahr eine Love-Parade, damit der Wowereit sagen kann, all diese Feste kämen ohne Steuergelder aus. Zusammen schmeißen wir hier die Party. Und was wollt ihr eigentlich noch? Die Schulen funktionieren, es gibt Kindergärten…

Sie hätten fast einmal richtig Weltpolitik machen können, als Mathias Rust über ihrem Kopf nach Moskau eingeschwebt ist.

Wir feiern jetzt Jubiläum.

Rust und Sie?

Ich weiß nicht, ob Rust feiert, aber sehr viele Soldaten haben sich gemeldet bei mir übers Internet. Vorgestern war der 23. Februar, der Tag der sowjetischen Armee und der Flotte, ein großer Tag, ein Tag, an dem alle Schüler von den Frauen Blumen bekommen haben, die sie dann zwei Wochen später zum 8. März den Mädels zurückgeben konnten, wenn die Blumen bis dahin gehalten haben.

Kann es sein, daß die Sowjetunion sich auch ein bißchen totgefeiert hat?

Ja, Sie haben Recht, es waren viele Feste. Jetzt also haben sich zum 20. Jahretag der Landung von Rust unglaublich viele Soldaten aus meiner Einheit bei mir gemeldet. Ich bin leicht zu finden. In Rußland bin ich “Unser Mann, der es zu was gebracht hat im Westen”. Deshalb kommen ständig Fernsehteams und irgendwelche Journalisten aus Rußland zu mir. So haben mich sehr viele alte Freunde gefunden.

Kaminer und Beresowski, die reichen Russen im Westen.

Beresowski ist ein ganz Schlimmer. Der hat Millionen Menschen um den Finger gewickelt. Angefangen hat er als Autohändler, dann hat im großen Stil Wohnungen gekauft von Leuten, die nichts davon verstanden. Wie mein Vater, der ihm ganz schnell für 17.000 Dollar seine ziemlich anständige 2-Zimmer-Wohnung in Moskau verkauft hat.

Dafür kriegt man heute?

Für 17.000 Dollar kriegt man heute in Moskau zwei Quadratmeter. Zurück zu Rust. Da schreibt mir gestern ein Soldat von damals: Vor 20 Jahren saßen wir zusammen in diesem Wagen und Rust über uns. Ich schrieb zurück: Aber Wladik, ich weiß noch genau, als Rust über uns flog, saßest du im Wald mit deiner Mutter und fraßt Kaviar aus großen Büchsen, die sie dir gebracht hat. Und dann schreibt er mir zurück: Irgend jemand hat aber eine Kiste Kondensmilch versteckt und dann vergessen, wo. Er meinte mich. Da schreibe ich ihm: Und du bist dann am Fenster eingeschlafen, als du Schmiere stehen solltest.

Das ist so verrückt, daß alles so frisch in Erinnerung ist. Obwohl das mit der Milch, da hat er mich verwechselt, ich war das nicht. Milch ist überhaupt nicht mein Produkt. Ich konnte selbst in der Armee Milch nie leiden.

Sie haben dann das Leben von Rust weiterverfolgt?

Bis zu einem bestimmten Punkt.

Als er in einem Hamburger Kaufhaus einen Kaschmirpullover geklaut hat. Danach haben Sie ihn aus den Augen verloren?

Ja. Aber solche Menschen braucht die Politik, damit kann man die Menschen aus der Reserve locken… Obwohl man sagen muß, daß es eine regelrechte Selbstmordkettenreaktion in der sowjetischen Armee gegeben hat damals.

Von allen, die verantwortlich dafür waren, daß niemand auf dem Roten Platz landen kann …

Nicht von allen, aber zum Beispiel von dem Offizier, der für den gesamten Raketenabwehrkreis zuständig war. Der hat sich eine Kugel in den Kopf gejagt. So sind diese Armeeleute. Das ist der Unterschied zwischen Armee und Geheimdienst. Die Armeeleute, die beschweren sich nicht. Wenn ihnen irgendwas schiefgeht, schießen sie sich einfach in den Kopf. Die Geheimdienstler finden immer einen Ausweg.

Die intelligentere Spezies.

Auf jeden Fall. Aber auch eine uniformierte. Und ich konnte nie die Uniformierten ausstehen. Nicht mal bei den Zugschaffnern.

Mein Vater hätte Ihnen gefallen. Der war stolz darauf, nie eine Uniform getragen zu haben…

Sehen Sie, ich habe eine getragen, zwei Jahre lang.

… und nie in einer Partei gewesen zu sein.

Damit hat mich das Schicksal verschont. Ich bin auch ohne jede Zugehörigkeit durchgekommen, selbst in der Jugend. Mein Chef in der Armee, ein Captain mit dem Spitznamen “der Löchrige”, ein kleiner, sehr aggressiver Mann, wollte mir damit drohen, mich aus dem Komsomol rauszuschmeißen. Und als sich herausstellte, daß ich nicht mal Mitglied bin, war das letzte Mittel weggefallen.

Für mich war komischerweise gerade die Armee der Freiheitszug, nicht meine Hippiezeit davor. Davor hatte ich wenig Chancen zu rebellieren. Wogegen sollte ich rebellieren? Ich hatte sehr gemäßigte Eltern, die mit allem einverstanden waren oder fast mit allem. Ich hatte nie große, immer nur kleine Probleme mit der Staatssicherheit. Erst in der Armee, als ich Moskau schützen sollte, konnte ich meine Freiheitsrebellion erleben. Da stand einiges auf dem Spiel, da ging es nicht mehr um warme Plätzchen, das war einigermaßen gefährlich.

Was hätte passieren können?

Man konnte im Knast landen. Ich bin dann schließlich auch im Knast gelandet. Am Ende meiner zweijährigen Dienstzeit, ich sollte nach Hause entlassen werden, meine Kameraden, die mich unterstützt hatten, waren alle schon zu Hause, haben die Offiziere Rache genommen an mir. Sie wollten mich nicht nach Hause lassen. Davor konnten sie nichts tun, weil ich der einzige war, der sich mit dieser Technik auskannte. Sie hatten niemanden, der einspringen konnte. Das war alles in unserer Hand. Das habe ich auch kapiert und lange Zeit ausgenutzt. Zwei Jahre lang konnten sie nichts gegen mich tun, als mich in unseren eigenen Militärknast zu stecken. Aber da standen meine Freunde am Eingang. So ein Knast ist absurd. Das ist keine Strafe, das ist Spaß.

So was wie Stubenarrest?

Ja genau. Und dann haben sie sich etwas ganz Finsteres ausgedacht für mich. Sie haben mich in einen richtigen Knast gesteckt, bei einer Bau-Brigade, einer ganz anderen Armee-Gattung, wo ich niemanden kannte. Ein richtig übler Knast. Und natürlich ohne mir irgendwas anzuhängen. Das brauchte man nicht. Jeder Vorgesetzte konnte einen bis zu fünf Tage in den Knast stecken, mit Verlängerung, ohne Ankündigung.

Ohne Begründung?

Ja. Der Sinn der Sache war, daß niemand, der in diesem Knast saß, wußte, wie viel er noch abzusitzen hatte. Das war eine Art Folter. Es hätten zehn Tage oder zwanzig oder mehr oder auch weniger – es hätte alles sein können. Wenn ich nur ein Jahr in der Armee gewesen wäre davor, dann hätte ich das wahrscheinlich gar nicht verkraftet oder hätte falsch gehandelt. Aber da ich schon nach diesen zwei Jahren ein unglaublich abgehärtetes Stück war, hat mich das zwar beeindruckt, aber nicht umgeworfen.

Wie lange hat man Sie dort festgehalten?

Ich bin getürmt, zurück zu meiner Einheit, drei Tage durch den Wald, habe eine leichte Selbstverstümmelung gemacht und bin bei einem befreundeten Arzt in unserer Sanitätsabteilung gelandet. Da haben sie mich nicht wieder rausgekriegt. Ich durfte allerdings das Gelände nicht verlassen. Der Arzt war auf meiner Seite, und der Offizier, der mich in den Knast gesteckt hatte,

Der Löchrige?

nein, sein Chef – der Löchrige hatte nicht die Macht, so was in Bewegung zu setzen – sein Chef, ein Major, ein ganz anderer Typ, mußte einsehen, daß er gegen mich verloren hatte.

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kommentare

  • immer wieder toll den kaminer zu lesen.seine schroffe weitlebigkeit zeigt sich in seiner analyse dieser vergangenen zeiten.von kuchen backen zu arschbacken,mit kleinen brücken durch 7 jahrzeehnte und doch wieder so aktuell im jetzigen nirgendwo!salve

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