„Das Einzige was zählt, ist der Augenblick, aber auch das Jahrhundert!“
Auch wenn sich die Jugendbewegung mit ewigen Wahrheiten garniert, folgt sie doch streng den jeweils neuesten Konjunkturen und Moden – das reicht von Sartre bis Piercing, von Bio bis Techno und von Ernst Jünger bis Punk. So wie letzteres die Hippies negierte, wird derzeit „68“ von den „Bobos“ und „Dibos“ erledigt. Wobei allerdings schon die französischen 68er-Marxisten Gilles Deleuze und Félix Guattari zu bedenken gaben, dass das „Revolutionär-Werden“ etwas ganz anderes ist als „die Revolution – rückblickend“! Bereits die englischen Romantiker wurden nicht müde, Cromwell zu verdammen, „und ihre Argumente ähnelten verblüffend den heutigen – z.B. über Stalin“. Zuvor hatt bereits Michel Foucault, der selbst Teil einer „Franzmänner-Mode“ wurde, zu bedenken gegeben: „“Was gibt es überhaupt in der Geschichte, was nicht Ruf nach oder Angst vor der Revolution wäre?“
Hier einige Details über Helmut Salzinger, der uns diesbezüglich ab „67“ immer mal wieder was zu sagen hatte:
1. Von Helmut Salzinger hatte ich in den Sechzigerjahren nur gelegentlich mal einen Text – in der Zeit und dann in der Sounds – gelesen. Aber dann gaben wir 1970 in Westberlin eine Zeitung namens „Hundert Blumen“ heraus, die sich u.a. auch mit der Rock-Szene in Berlin befaßte. In diesem Zusammenhang kam uns Helmut Salzingers Buch „Rock Power“ wie eine Generallinie vor. Ähnlich war es dann mit seinem Buch „Swinging Benjamin“, das der Verödung Benjamins durch universitäre Vereinnahmung und Zurichtung entgegenwirkte (wir entfernten uns damals immer mehr von der Uni). Als ich 1976 nach der portugiesischen Nelkenrevolution aufs Land zog, hörte ich irgendwann, dass Helmut Salzinger nicht weit von uns in Norddeutschland ebenfalls aufs Land gezogen sei. Er hätte ein oder mehrere Häuser in Hamburg geerbt und lebe nun zusammen mit seiner Freundin Mo von den Mieteinahmen. Es gab bald mehrere Stadt-Land-Kreise, die sich gelegentlich berührten: Hilka Nordhausens Hamburger „Buch Laden Welt“, die Künstler, mit denen sie dort zu tun hatte, ihr Mitarbeiter Michael Kellner, der weiter Texte von Helmut Salzinger verlegte, die taz, Werner Pieper und seine „Grüne Kraft“ im Odenwald, das Frankfurter Bräunungsstudio „Malaria“…um nur einige zu nennen.
Einmal besuchte ich Mo und Helmut Salzinger in Odisheim. Wir saßen in der Küche und tranken Tee. Danach bekam ich fast regelmäßig sein selbstkopiertes Fanzine „Falk“ zugeschickt. Einige Male fungierte ich als Zwischenträger für einen taz-Artikel von ihm. Er kam auch einmal in die Redaktion, um den Kulturredakteur Mathias Broeckers näher kennen zu lernen. Irgendwann beschlossen wir, Salzinger und ich, ein und das selbe Buch zu rezensieren – von E.M. Cioran. Er negativ, ich positiv. Der in Paris lebende Philosoph des Pessimismus fragte mich anschließend über eine junge deutsche Freundin von ihm, ob ich nicht mit ihr zusammen seine Biographie schreiben wolle, über Salzingers wütenden Verriß kein Wort.
Dann fingen Broeckers und ich ausgehend von Thomas Pynchons Roman „Die Enden der Parabel“ an, uns mit der Glühbirne – als Metapher für Aufklärung, Fortschritt, Sozialismus etc. – zu beschäftigen. Nach einiger Zeit kam eine Anfrage von Helmut Salzinger, ob wir nicht Lust hätten, darüber eine Falk-Nummer zu machen. Schließlich kam es so, dass der damalige Heidelberger taz-Korrespondent Michael Braun die Falk-Ausgabe Nr. 33 zusammenstellte – mit Glühbirnenmaterial, das wir ihm dafür schickten. Das Heft hieß dann „Neues aus dem Beleuchtungswesen“. Ich war unterdes im Vogelsberg gelandet, wo wir uns als „Agentur Standardtext“ vorwiegend mit „Kammlagenkritik“ befaßten, auch hierüber gab es einen Austausch mit Helmut Salzinger bzw. mit seiner Falk-Heftreihe. So gelangte da hinein über den Umweg der Agentur z.B. ein Zitat von Herbert Achternbusch: „Da wo früher Pasing und Weilheim waren, ist nun Welt. Die Welt hat uns vernichtet, das kann man sagen!“
Umgekehrt verfaßte Mathias Broeckers eine enthusiastische Besprechung des Buches „Der Gärtner im Dschungel“ von Helmut Salzinger. Da ich mich zu der Zeit schon wieder aus der Landwirtschaft so gut wie ausgeklinkt hatte, obwohl ich noch im Vogelsberg lebte, hat mich dieses Buch erst sehr viel später interessiert – da lebten Helmut und Mo schon nicht mehr. Ihr gemeinsames Projekt auf dem Land hieß „Head Farm Odisheim“. Das ist „Überohrs Factory, sein letzter verzweifelter Griff nach der Weltmacht,“ wie Helmut Salzinger selbst einmal erklärte. Dazu durchstöberte er die Zeitung nach Spuren des alltäglichen urbanen Wahnsinns, verfolgte den Vogelflug vom Garten aus, rauchte Haschisch, las Thoreau, Castaneda, Pirsig, und dachte sich das handelnde Subjekt weg – in drei Büchern, die „Ohne Menschen“, „Gärtner im Dschungel“ und „Moor“ hießen. Diese ganzen Unternehmungen waren noch Teil einer ebenso kollektiven wie internationalen Anstrengung, die damals unter dem Namen „Landkommune-Bewegung“ firmierte und in den USA zum Beispiel Bücher mit Titeln wie „Was die Bäume sagen“ hervorbrachte.
Helmut Salzinger blieb dabei – und versuchte, diese Bewegung praktisch und literarisch bis zu seinem Tod zu vertiefen. Aus dieser heute vor allem zeitlichen Tiefe kommen jetzt einige seiner damaligen Lesungen auf CD über uns (herausgegeben vom Verlag Peter Engstler). Es geht darin um „Die Allgegenwart des Holunders“, um Wolken, Wind, Mitte Februar, drei Raben, eine Lerche, Bruder Bussard, immer wieder Falken und eine neugierige Fledermaus. Die „Poesie des Landes“ äußert sich ihm in „grauen Regengüssen, Weiden, Birken, diesigen Wäldern, einer Herde Kühe“. Es ist eine Poesie oder „Kultur des Landes“, die ihre Kraft aus der Erde erhält: „Die neue Gesellschaft wird biologisch sein“, zitiert er dazu einen US-Ökologen – und keinen Blubo-Dichter, denn Helmut Salzinger versuchte sich gegen die Vernutzung der Landschaft und auf die Seite der letzten Biotope zu stellen und entdeckte dort sogar mitunter noch oder schon wieder einen Silberstreifen am Horizont.
Heute, da die industrielle Landwirtschaft ebenso wie die Landflucht und die Konsumgesellschaft an ihre Grenzen stoßen und wieder Subsistenzwirtschaften in die Perspektive geraten, kann man seinen zwei ebenso avantgardistischen wie unverdrossenen Kleinverlegern (Kellner und Engstler) danken, dass sie diesem „Anfänger“ treu blieben. Ich zog dagegen irgendwann wieder nach Berlin. Aber dort arbeitete ich u.a. an einer Land-Kolumne, die ich „Agronauten“ nannte. In diesem Zusammenhang rief ich einmal Peter Engstler in der Rhön an und fragte ihn, da er doch das Gärnterbuch verlegt habe, ob er mir nicht ein Rezensionsexemplar schicken könne. „Klar,“ sagte er, „ich habe aber noch viel mehr Bücher von Helmut Salzinger verlegt,“ woraufhin ich etwas naßforsch erwiderte: Ja, ich weiß, aber mich würde erst mal nur dieses eine interessieren. Am Schluß meinte Peter: „Ach, ich schick dir alle Bücher von ihm, das ist doch besser, als wenn sie unter meinem Bett verschimmeln.“ Und so geschah es dann auch.
Darüberhinaus geschah aber noch etwas: Peter Engstler bot mir wenig später an, in seinem Verlag ein Buch zu veröffentlichen (es hieß dann „Neurosibirsk“), außerdem lud er mich zwei mal auf die Jungviehweide nahe seines Dorfes ein, wo er regelmäßig Lesungen organisiert, zu der im wesentlichen Leute aus den o.e. Kreisen hinkommen. Bei dieser Gelegenheit lernte ich auch gleich Peter Engstlers Buchladen und sein Helmut-Salzinger-Archiv kennen, das in dem Haus untergebracht ist, wo Mo zuletzt lebte. Statt des Gärtnerbuches nahm ich mir dann sein Moorbuch vor, das mir inzwischen fast das liebste von allen ist – und machte daraus einen Agronauten-Text, der eine Art Nachruf auf Helmut Salzinger sein sollte, insofern er das beinhaltete, was der Autor gerne tat (mit seinem Hund rumlaufen) und was er dabei dachte (Fortschrittskritik üben):
Helmut Salzinger geht im Frühherbst in der Nähe seines Dorfes Odisheim mit dem Hund spazieren, „auf einem Weg zum Raterbusch hinüber“. – ins „Lange Moor, das zu einem System von Hoch- und Niedermooren gehört, welches sich vom Ahlenmoor im Norden bis Ebersdorf im Süden erstreckt“.
Dabei kommt er an einem Schild vorbei: „Achtung! Floratorf Produkt. Aus dem vor Ihnen liegenden Hochmoor – werden die reinen Rohtorfe für die Herstellung der natürlichen Floratorf-Produkte gewonnen. Floratorf-Produkte helfen, alles besser wachsen und blühen zu lassen. Gärten werden schöner und Städte grüner. Helfen Sie mit, daß unsere Flächen und Gräben sauber bleiben und eine Zerstörung durch Feuer und Abfälle unterbleibt. Köhlener Torfwerk WK. Strenge GmbH“.
Helmut Salzinger bemerkt dazu: „Das Hochmoor als Betriebsgelände des Torfwerks. Und die Floratorf-Produkte, die mit der Vollkraft der Natur das Geschäft der Stadtbegrünung betreiben. Man stellt sich ein gutes Zeugnis aus und nutzt die Gelegenheit zur Werbung. Inzwischen wird das Hochmoor hier in Torf verwandelt und in den Städten auf Blumenbeete und -töpfe gekrümelt. Wenn man die Flächen, wo der Torf abgeräumt worden ist, sich selbst überläßt, ziehen sie das Wasser an und haben sich in wenigen Jahren neu begrünt. Das renaturierte Moor erstreckt sich bereits kilometerweit. Ob nun auch das Hochmoor anfangen wird zu wachsen, das wird sich erst noch zeigen. Vorerst erstreckt sich vom Firmenschild aus ein unabsehbares, weiß schäumendes Meer von nickendem Wollgras“.
Helmut Salzinger und sein Hund gehen einen verbotenen Grenzweg am Moorrand entlang, dabei entdecken sie: „Nach Nordosten erstrecken sich jetzt die Torfstiche mit ihrem ausgedehnten System von Gräben, Wällen, Wegen und zum Trocknen gestapelten Torfsoden, alles Braun in Braun. Inselartig haben sich bereits Gräser auf dem Torf angesiedelt. Es folgen Sauerampfer und Brombeere, Glockenheide…Dahinter ist der Abbau in vollem Gange. Vor meinem Auge walzt ein Gefährt, irgendetwas zwischen Raupe, Wanze oder Käfer mit Pflug, es schält im Vorbeifahren den Torf als ununterbrochenen Streifen vom Boden, der dann wohl in handliche Soden geteilt und geschichtet wird. Ob es das ist, was sie ‚ringeln‘ nennen? An einem halb verfallenenen aber noch benutzten Schuppen habe ich ein Papier angeheftet gefunden, mit dem die Firma bekannt gab: ‚Am 13.9. wird wieder geringelt‘.“
Helmut Salzinger kommt über diese Nachricht ins Grübeln: „Nun, heute ist erst der 9.9.. Für wen die Nachricht wohl ist? Der 13. ist doch erst nächste Woche, und es sieht nicht so aus, als würde bis dahin jemand hier vorbeikommen, um sie zu lesen. Doch wer weiß? Ich bin ja auch vorbeigekommen. Und damit konnte keiner rechnen“. Am Ende des Randweges stoßen Helmut Salzinger und sein Hund auf einen „knallrot aufgemotzten BWM, der dort abgestellt ist“. Ein paar hundert Meter weiter stehen Hütten und schweres Räumgerät.
Helmut Salzinger kommt dabei der Gedanke: „Für mich wäre die Vorstellung, dass das Moor abgetorft wird, leichter erträglich, wenn ich dabei Menschen sähe, die mit dem Torfspaten persönlich dem Moor zuleibe gehen…Aber was hier geschieht, ist mechanisierter, industrieller Abbau, professionelle Ausbeutung des Moors“.
Wieder zurück in seinem Haus wird Helmut Salzinger diese und andere Gedanken/Eindrücke als „Versuch, nichts zu erzählen“ niederschreiben. Die ersten Zugvögel haben die Gegend bereits verlassen, aus dem Norden kommend überfliegt eine Schar Wildgänse keilförmig das Moor. Auch die ersten Kraniche aus Schweden sind hier schon gesehen worden.“
2. „Ja das wars“ heißt eine CD mit Natur-Gedichten und Gelegenheitstexten von Helmut Salzinger aus Odisheim, die der Verlag Peter Engstler aus Ostheim gerade veröffentlicht hat. Der Autor und Vortragende Helmut Salzinger starb 1993. In den Sechzigerjahren gehörte er zu den wenigen undogmatischen Linken, die auch in bürgerlichen Zeitungen publizierten. Berühmt machten ihn dann seine Bücher über Walter Benjamin und über Rockmusik. Nachdem er sich aufs Land – zwischen Hamburg und Bremen – zurückgezogen hatte, schrieb er noch einige Jahre lang unter dem Pseudonym Jonas Überohr Kolumnen für die Musikzeitschrift „Sounds“. Danach widmete er sich nur noch der Natur, erkundete die Hochmoore in seiner Umgebung und gab darüber gelegentlich eine kleine hektographierte Zeitschrift namens „Falk“ heraus. Die in dieser Zeit entstandenen Texte und Gedichte verlegte erst sein Hamburger Freund Michael Kellner und dann Peter Engstler in der Rhön, der nun auch Helmut Salzingers Nachlaß verwaltet, nachdem dessen Freundin Mo ebenfalls starb. Ihr gemeinsames Projekt auf dem Land hieß „Head Farm Odisheim“.
Das ist „Überohrs Factory, sein letzter verzweifelter Griff nach der Weltmacht,“ wie Helmut Salzinger selbst einmal erklärte. Dazu durchstöberte er die Zeitung nach Spuren des alltäglichen urbanen Wahnsinns, verfolgte den Vogelflug vom Garten aus, rauchte Haschisch, las Thoreau, Castaneda, Pirsig, und dachte sich das handelnde Subjekt weg – in drei Büchern, die „Ohne Menschen“, „Gärtner im Dschungel“ und „Moor“ hießen. Diese ganzen Unternehmungen waren noch Teil einer ebenso kollektiven wie internationalen Anstrengung, die damals unter dem Namen „Landkommune-Bewegung“ firmierte und in den USA zum Beispiel Bücher mit Titeln wie „Was die Bäume sagen“ hervorbrachte. Helmut Salzinger blieb dabei – und versuchte, diese Bewegung praktisch und literarisch bis zu seinem Tod zu vertiefen. Aus dieser heute vor allem zeitlichen Tiefe kommen jetzt einige seiner damaligen Lesungen auf CD über uns.
Es geht darin um „Die Allgegenwart des Holunders“, um Wolken, Wind, Mitte Februar, drei Raben, eine Lerche, Bruder Bussard, immer wieder Falken und eine neugierige Fledermaus. Die „Poesie des Landes“ äußert sich ihm in „grauen Regengüssen, Weiden, Birken, diesigen Wäldern, einer Herde Kühe“. Es ist eine Poesie oder „Kultur des Landes“, die ihre Kraft aus der Erde erhält: „Die neue Gesellschaft wird biologisch sein“, zitiert er dazu einen US-Ökologen – und keinen Blubo-Dichter, denn Helmut Salzinger versuchte sich gegen die Vernutzung der Landschaft und auf die Seite der letzten Biotope zu stellen und entdeckte dort sogar mitunter noch oder schon wieder einen Silberstreifen am Horizont. Heute, da die industrielle Landwirtschaft ebenso wie die Landflucht und die Konsumgesellschaft an ihre Grenzen stoßen und wieder Subsistenzwirtschaften sowie experimentelle Agronautiken in die Perspektive geraten, kann man seinen zwei ebenso avantgardistischen wie unverdrossenen Kleinverlegern danken, dass sie diesem „Anfänger“ treu blieben.
3. Man kann die ganzen 68er-Abrechnungen bald nicht mehr lesen, vor allem nicht die selbstkritisch gemeinten der einstigen Rädelsführer, die, um mit ihren gefälligen Schuldbekenntnisse noch Aufmerksamkeit zu erregen, nicht einmal mehr davor zurückschrecken, die damalige „Antiautoritäre Bewegung“ als quasi-faschistisch zu charakterisieren. Ein Ex-Maoist und nunmehriger taz-redakteur sprach neulich rückblickend von einer wahren „Solidaritätshölle“. All diese 68er-Bücher erscheinen in bürgerlichen Verlagen und ihre Autoren gehörten zur sogenannten „Politfraktion“, die um Einfluß rang. Daneben gab es noch die eher in Ruhe gelassen werden wollenden Hippies – von den „Beatniks“ herkommend und dann von Drogen und Musik befeuert. Sie schufen sich einen eigenen „Underground“ – inklusive Verlage, Medien usw.. Diese sich bald über London und Amsterdam auch auf dem Kontinent ausbreitende Bewegung hat den Sartreschen „Existentialismus“ modernisiert – in der doppelten Bedeutung von weiterentwickelt und zur Mode gemacht.
Der Wiener Auschwitz-Häftling und Schriftsteller Jean Améry hörte 1946 einen Vortrag von Jean-Paul Sartre in Paris, bei dem einige Leute vor hysterischer Ergriffenheit in Ohnmacht fielen. Es waren erwachsene junge Leute, keine Teenager, „und noch ihre Hysterie hatte eine gewisse geistige Würde“. Deutete sich da bereits die Popkultur an? Einer der ersten Musikkritiker dieses immer wieder unter anderem „Label“ fortdauernden Nachkriegsjugend-Phänomens war Helmut Salzinger, dem jetzt eine Aufsatzsammlung mit dem Titel „Querfalk“ gewidmet ist. Er starb 1993 im niedersächsischen Odisheim und „Falk“ hieß seine dort von ihm am Kopierer vervielfältigte Zeitschrift, die vom ganzen Leben handelte.
Beides verkörperte einen Pol, zu dem sich die Hippiebewegung bis zur Wende entwickelte. Wobei sie von Anti-AKW-Protesten über schamanistische Praktiken bis zu „New Age“ und Punk alles integrierte und überhaupt eine große Experimentierfreude zeigte. Die Herausgeber des „Querfalk“ schreiben: „Falk war der Knotenpunkt jenes Netzwerkes, das Helmut Salzinger seit den Siebzigern zu weben versucht hatte, und – neben ein paar vereinzelten weiteren Projekten – der Kulminationspunkt der Headfarm-Idee.“ Headfarm – so hatte er nach seinem „Ausstieg“ aus den Kreisen der Hamburger Kulturschaffenden seine „Landkommune“ in Odisheim genannt.
Es gibt noch eine weitere „Headfarm“ – im Odenwald: die Alte Schmiede in Löhrbach von Werner Pieper, der dort seit Hippiegedenken die „Grüne Kraft“ (in Form von Büchern, Zeitschriften und Non-Books) herausgibt. Von ihm haben „Die Grünen“ ihren Namen. So hießen aber auch schon die bäuerlichen Partisanengruppen im russischen Bürgerkrieg, zu denen u.a. die anarchistische „Machno-Bewegung“ zählte. Pieper zahlt kein oder nur wenig Honorar, stattdessen lädt der gelernte Koch alle seine Autoren einmal monatlich zum Essen ein. Es ist daraus ein ähnliches „Netzwerk“ wie das von Helmut Salzinger in Odisheim entstanden, und ähnlich wie im „Querfalk“ klingen nun auch die Erinnerungen von 60 Althippies über ihre frühen Bewußtseinserweiterungs-Experimente und Kontakte zu Pieper – in seinem Buch: „Alles schien möglich“. Einer der Autoren, Eugen Pletsch, ist mit Beiträgen in beiden Bänden vertreten. Der ehemalige „Sänger vom Frankenschlag“, Handelsvertreter des Modemachers Gerriet Hellwig und Autor des Golfbuches „Der Fluch der weißen Kugel“ lernte einst Werner Pieper auf einem „Steppenwolf-Konzert“ in Frankfurt kennen. Zusammen besuchten sie dann Helmut Salzinger in Odisheim. Später wanderte der verplauderte Eugen Pletsch mit dem eher schweigsamen Helmut Salzinger durch die Rhön. Im „Querfalk“ schreibt er: „Einmal kamen wir auf einen hohen Berg. Darauf war ein Turm, und von dort aus, höher als die Falken fliegen, schauten wir über das weite Land. Selbst ich schwieg für einen Moment und Helmut lächelte dankbar.“
Es existiert eine ganze Sozialgeographie aus solchen in Europa verstreuten „Anlaufpunkten“ wie die „Headfarm“, die es nicht mehr gibt, dafür jedoch andere. Nach Helmut Salzinger Tod zog seine Freundin Mo 1999 von Odisheim nach Ostheim in die Rhön – und mit ihr das Archiv von Helmut Salzinger, das nun von dem dort lebenden Cut-Up-Texter und Verleger Peter Engstler verwaltet wird. Er veröffentlichte jetzt auch den „Querfalk“. Seit 1984 betreibt er in Ostheim einen Buchladen, in dem regelmäßig „Provinzlesungen“ stattfinden, außerdem lädt er seine Autoren alle zwei Jahre zu einer dreitägigen Lesung auf die Jungviehweide „Kalte Buche“ bei Ginolfs ein. Es ist daraus mit der Zeit ein eigenes „Netzwerk“ entstanden. Seit einigen Jahren gehören dazu auch einige Ostberliner, die dort auftreten: Sie kommen aus einem ostdeutschen „Netzwerk“, an dem der Anarchodichter Bert Papenfuß seit Jahren strickt, und geben u.a. die Zeitschrift „Gegner“ und „Floppy Myriapoda“ heraus. Aus vielen „Experimenten“ hüben wie drüben ist inzwischen „Kunst“ geworden. Darin endeten sie sozusagen. Dabei sollte es eigentlich, einem postsituationistischen Credo folgend, darum gehen, „neue Existenzweisen zu erfinden, die geeignet sind, der Macht zu widerstehen und sich ihrem Wissen zu entziehen“. Auch diese gibt es weiterhin.
Jean Améry faßte den „Existentialismus“ 1961 einmal wie folgt zusammen: “ 1. Der Mensch ist nur das, was er aus sich macht. 2. Der Mensch ist frei. 3. Der Mensch ist sozial engagiert.“ Er ist also nur das, was er tut. Im Grunde ist er überhaupt nichts, „sondern besteht nur im permanenten Prozeß der Selbst-Realisierung. Das ‚Sein‘ ist nicht dem Menschen eigen, sondern nur den Dingen, der Mensch besteht aus der Summe seiner getanen Handlungen und aus seinen künftigen Möglichkeiten, seinem ‚Projekt‘.“ Nahezu unter den Tisch gefallen ist inzwischen die dazugehörige Résistance-Erkenntnis, dass wir kein Projekt haben, sondern eins sind und es demnach darauf ankommt „über sich selbst hinauszugehen – das ist der wichtigste dialektische Vorgang der menschlichen Existenz.“ Für Sartre definiert sich vor allem der „Revolutionär“ durch das Überschreiten (dépassement) der Situation, in der er sich befindet. Seine Freiheit ist dabei jedoch nicht vage und unbeschränkt, „sondern stets auf eine gegebene Wirklichkeit bezogen“.
„querFALK“, herausgegeben von Caroline Hartge und Ralf Zühlke, im Verlag Peter Engstler Ostheim/Rhön 2007,138 Seiten 14 Euro
4. Ganz Deutschland ist von der Ich-Armee überrollt! Nein, nicht ganz: ein kleines Häuflein aufrechter Wir-Vorkämpfer („Das Ich ist nicht nur hassenswert, es hat nicht einmal Platz zwischen uns und dem Nichts!“) hält sich noch – und hat sich in der Rhön auf einer Jungviehweide verschanzt. Wenn es regnet, suchen sie Schutz in einem alten Nazi-Hütehaus. Bei Sonnenschein baden sie im nahen Basaltsee oder mimen träge Erholungssucher, erst nachts werden sie munter, um am Lagerfeuer oder im Licht von Taschenlampen Geschichten zu erzählen: Es geht dabei um Aufstandserfolge und -niederlagen, um – verstorbene Vorbilder wie Jack Kerouac und Helmut Salzinger, um Seemänner im Auftrag der Komintern wie Knüffgen, um chinesische Rotgardisten in Umerziehungsdörfern, um prähistorische Lokalbolschewisten an der Ostsee und natürlich um das Ganze – in Prosa und Poetry.
Drumherum stehen genügend Kleinverleger bereit, den Erzählern Selbstgebrannten oder Most zu reichen sowie auch, um ihre Manuskripte sofort wohlwollend zu prüfen. Zu ihren Füßen sitzen dazu noch diverse Zeitschriftenmitherausgeber – wie die des Ostberliner „Gegner“ und der „Floppy Myriapoda“ etwa, um ebenfalls ihr Programm vor Ort zu komplettieren. Der Organisator Peter Engstler betreibt an einem Tag in der Woche eine Buchhandlung im Rhöntouristendorf Ostheim und der akustisch begabte Heidelberger Ex-Buchhändler Jörg Burkhart trägt neben eigenen Texten auch einen von der Mainzer Gewaltfilmerin Pola Reuth mit vor. Dazwischen läuft Jonny Cash. Der Greifswalder Piratenforscher Bert Papenfuß erzählt einen Witz aus Polen: Stehen zwei Penner vor einem Supermarkt und trinken Schnaps. Plötzlich kommen zwei Yuppies raus und nehmen einen tiefen Schluck aus ihren Plastikwasserflaschen. Sagt der eine Penner zum anderen: „Kuck mal! Ist das nicht ekelhaft? Wie die Tiere!“ Papenfuß trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift „Too old to die young!“
Tatsächlich handelt es sich bei dieser fünfzigköpfigen Erwachsenengruppe mit vielen Kindern (das älteste ist dreißig) um den harten Kern jener deutschen Hippies, die einst noch die Kurve zum Punk kriegten, dann in Paris VIII. ein Seminaire sur les mots „too much“ et „good vibrations“ absolvierten und nun den ganzen Bestand zu sichern trachten – wohlmöglich gar wieder auszuweiten, ohne erneut eine Generationenmode daraus erwachsen zu lassen. Dafür nehmen sie auch in Kauf, dass ihren Kindern die ganzen Geschichten am Arsch vorbeigehen, während die mitgebrachten Hunde sich äußerst fröhlich ins Performative einfügen. Und wenn ein Traktor vorbeifährt, der den Leseschwall kurzzeitig übertönt, dann ist das auch gut und nicht schlecht!
Gelegentlich wird der Toten mitgedacht, die natürlicherweise immer mehr werden – und manchmal schon wie ein Alp auf den Köpfen der Lebenden lasten. Andererseits gibt es so viele, die sich heuer nicht auf der Jungviehweide einfanden, weil sie anderes zu tun hatten – und ihrer werden immer mehr. Die „Connections“ dieser Rhön-Verschwörung reichen inzwischen bis nach Nordthailand, in den Südsudan und über den Odenwald auf der einen Seite hinaus – auf der anderen bis nach Bremerhaven und Reinbek bei Hamburg. Wir haben es hier mit einem Rev-Rhizom zu tun, das zur Bandenbildung neigt, jedoch auch die Einsamkeit zu schätzen weiß, sowie die Annehmlichkeiten einer umsichtigen Gastfreundschaft. Den Aktivisten dieses jährlich wiederkehrenden Zusammenkommens steht sogar eine Aufwandsentschädigung aus der Kriegskasse zu.
Und anschließend geht es wieder zurück – in die Archive, Redaktionen, Bibliotheken, Antiquariate und sonstigen Hide-Aways: prallgefüllt mit rustikaler Rhön-Reizüberflutung, neuen Literaturtips, Emailadressen und Nebenbeigeschichten, wie die von der wahljeminitischen Dichterin, die gerade mit einem märkischen Bioschweinemastbetrieb Schiffbruch erlitt. Überhaupt sind die Schiffs-Metaphern auf dem Rhöngipfel ständig präsent (auch wenn der Große Steuermann längst tot ist, aber das Schiff ist laut Foucault „die Heterotopie schlechthin“). Doch während die weiblichen Erzähler dabei eher das vermaledeite Ruder in die Hand kriegen wollen, beklagen die männiglichen munter den eingeschlagenen Kurs. Zwischendurch gehen alle zum Aussichtspunkt – und werfen von da oben einen weiten Blick über das Bewußtseinsmeer. Allen ist klar: „Es gibt also nicht im Verhältnis zur Macht den einen Punkt der großen VERWEIGERUNG – die Seele der Revolte, den Brennpunkt aller Rebellionen, das reine Gesetz des Revolutionärs. Aber es gibt Widerstände, von denen jeder ein Sonderfall ist: sie sind möglich, notwendig, unwahrscheinlich, spontan, wild, einzelgängerisch, konzertiert, kriechend, gewalttätig, unversöhnlich, bereit zu Verhandlungen, eigennützig oder bereit zum Opfer…“ Wolf Kittler nennt dieses Foucaultsche Resümee einen „Aufruf zum Guerillakrieg“.
5. Helmut Salzingers Bücher und Zeitschriften verkaufte u.a. die Hamburger Buchhändlerin Hilka Nordhausen. Sie ist inzwischen ebenfalls gestorben. Eines ihrer Bücher „Melonen für Bagdad“ veröffentlichte und verkaufte umgekehrt Peter Engstler in seinem Verlag bzw. in seiner Rhönbuchhandlung. Vor einiger Zeit fand in Berlin eine Ausstellung mit einigen ihrer künstlerischen Arbeiten statt. Dazu hier das Folgende:
„Hilka Nordhausen (geb 1949) war eine der wichtigen Persönlichkeiten des Hamburger Kunst- und Kulturbetriebs der 70er- und 80er-Jahre,“ heißt es im Internet, wo nun gleichzeitig auch für den in Nordhausen hergestellten Doppelkorn geworben wird. Die letzten Jahre wohnte Hilka am Kottbusser Tor in Kreuzberg, wo sie 1993 starb. Acht Jahre später widmete die Hamburger Kunsthalle der Künstlerin, Galeristin, Schauspielerin und Buchautorin eine umfangreiche Retrospektive. „Montags Realität herstellen“ hieß sie – sehr passend. Im Katalogvorwort schrieb Uwe M. Schneede: „Das Experiment zwischen dem Wort und dem Bild, mit dem Bild und dem Wort, dem Buch und dem Zeichenpapier war ihre Welt. “ 1998 hatten bereits ihre Hamburger Freunde in einem dicken Bildband mit dem ebenfalls passenden Titel „dagegen-dabei“ Hilka Nordhausens riesiges Künstlernetz nachgezeichnet, das sie zwischen 1969 und 1989 knüpfte – vor allem mit ihrer „Buch Handlung Welt“ im Hamburger Karolinenviertel und seinem Förderverein „weltbekannt e.V.“
Es waren zumeist die von der Punkbewegung noch einmal flankierten Künstler – von der Tödlichen Doris und Heinz Emigholz über Dieter Roth und Allen Ginsberg bis zu Helmut Salzinger und Pola Reuth, die in ihrem Laden Filme und Performances zeigten, Vorträge hielten, Gedichte lallten oder eine Wand bemalten, die nach einigen Wochen vom nächsten übermalt wurde. Etliche solcher „Knoten“ waren damals untereinander vernetzt: In Berlin die Galerie von Wolfgang Müller und Ueli Etter sowie das Tonstudio von Frieder Butzmann und der Merve-Verlag, in Frankfurt die Zeitungen von Indulis Bilzenz, Johannes Beck und Walther Baumann, in Heidelberg die Turmgalerie von Sharon Levinson und die Buchhandlung von Jörg Burghardt… Dazwischen turnten sich die eher nomadischen Künstler frei. Anfang der Achtzigerjahre fing ich an, einen nach dem anderen für die taz zu interviewen. Hilka erzählte mir u.a., wie man ihr einmal zum Weiterverkauf einen Stapel Raubdrucke von Michael Endes Buch „Momo“ aufgeschwatzt hatte – und daraufhin laufend irgendwelche alternativen Lehrer in ihrem Laden antanzten. Die wollte sie aber gar nicht da haben und bedienen, deswegen gab sie diesen ersten und einzigen Bestseller der „Buch Handlung“ schnell wieder zurück.
Nun sind auch schon etliche der ihr lieb und wichtig gewesenen Kunden und Künstlerkollegen tot (Martin Kippenberger) oder liegen im Koma (wie Walther Baumann), noch mehr sind verschollen (was machen z.B. Mike Hentz und Minus Delta T oder Boris Nieslony?), andere sind in der Tat nicht mehr dagegen, sondern dabei, weltbekannt zu werden (wie der Bremer Maler Norbert Schwontkowski und der Neuköllner Kunstprofessor Thomas Kapielski). Während zugleich das Wiener „Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig“ frühe Arbeiten von Hilka und neun anderen Künstlern zeigte, „die nach kurzen bedeutenden Werkphasen aus dem System Kunst ausgeschieden sind“. Wieder andere sind bloß aus unserem kollektiven Gedächtnis geschieden, u.a. weil die Kunstgeschichte gerne die weiblichen Protagonisten ignoriert, wie das in dem o.e. Bildband bereits Dietrich Diederichsen vorgeworfen wurde. Daneben sind aber auch neue „Knoten“ entstanden: Hilkas einstiger Mitarbeiter Michael Kellner hat sich z.B. mit ihrem einstigen Verleger Peter Engstler (der ihr Buch „Melonen für Bagdad“ herausbrachte) zusammen getan, um bei ihm in der Rhön regelmäßig Lesungen auf einer nahen Jungviehweide mit zu organisieren, wo sich die Überlebenden und Mobilen treffen. An Buchläden und Verlagen sind „b-books“ und der Basisdruck-Verlag in Berlin dazu gekommen und an Galerien gleich mehrere – bis weit in den Osten.
Hilka Nordhausen ist darüber jedoch nicht vergessen worden: Ihre alten Freunde, die Hamburger Galeriebetreiber Ulrich Dörrie und Holger Priess, die den Nachlass von Hilka vertreten und bereits parallel zur Ausstellung in der Hamburger Kunsthalle 2001 die frühen Arbeiten sowie 2004 späte „Malereien“ von ihr zeigten, eröffneten im September 2005 eine Berliner Niederlassung in einer gründerzeitlichen Etage in Kreuzberg, Yorkstraße 89a. Dort stellen sie jetzt Bleistiftstrich-Zeichnungen von Hilka Nordhausen aus, wobei sie mit Hilkas Archivverwalterin Bettina Sefkow zusammenarbeiten, die auch schon bei „dagegen-dabei“ mit dabei war. Die Strichübungen dienten der Aus- und Abschweifungen nicht abgeneigten Hilka zur künstlerischen Selbstdisziplinierung. Sie bilden somit eine Art Kontratsprogramm zu ihren sonstigen Lebensäußerungen – wie Perry Rhodanhefte studieren, Tageszeitungsseiten übermalen und Dias sammeln (in Berlin war sie in dieser Hinsicht meine einzige Konkurrentin bei den Trödlern, bis wir uns zusammentaten und die brauchbarsten Dias untereinander austauschten).
Bei den „Untersuchungen zum Zeichenvorgang“, so der Ausstellungstitel jetzt, ging es ihr u.a. darum: Wieviel kleine Striche kann man in zehn, zwanzig, dreißig usw. Minuten auf einem A3-Blatt schaffen? Oder umgekehrt – mit einem Metronom: Wie lange hält man das Strichemachen durch? Wie sehen die Strichfiguren aus, die man bei unveränderter Körperposition stehend mit der Hand auf einem riesigen Blatt ausführt? Und wie sieht z.B. ein ganzer Bogen aus, wenn man ihn mit verbundenen Augen zustrichelt? „Schließlich wurde aber ihr Körper zum eigentlichen künstlerischen Gerät, wenn sie sich an einer Gartenwand streckte oder auf einem Dach rotierte, stets mit dem Stift in der Hand, eine Spur ihrer Aktivität hinterlassend“, schreibt die Wiener Kulturzeitschrift „Springerin“. Die Ergebnisse wurden anschließend abphotographiert, ihre dabei zugrundeliegende Versuchsanordnung protokolliert – und das ganze dann abgeheftet. So pedantisch kannte ich Hilka noch gar nicht. Auf mich wirkte sie eher lebensfroh verwuselt, zuletzt war sie jedoch an Krebs erkrankt und hatte dafür eine Art Wunderheiler gefunden, über dessen Therapietheorie wir mehrmals diskutierten. Kurz vor ihrem Tod erschien noch im Verlag von Michael Kellner ihr Buch: „Glücklichsein für Doofe“ und vor zwei Jahren ein Beitrag über sie in dem vom Kölner Verlag Walther König herausgegebenen Band: „Kurze Karrieren“. Speziell zu ihren Bleistiftstrich-Experimenten gibt es außerdem noch einen Beitrag von Anette Südbeck in der Kulturwissenschaftlichen Zeitschrift „Kritische Berichte“ (3/2004) mit dem Titel „Tatort Wand – Zur Geste der Wandzeichnung“, er bezieht sich auf den Ausstellungsraum der Bremer „Gruppe Grün“, wo Hilka einmal eine ganze Wand mit Bleistiftstrichen füllte. Diese große „Geste“ wurde inzwischen ebenfalls übermalt.
P.S.: Eben erhielt ich noch eine kurze Mail über das taz-intranet:
——– Original-Nachricht ——–
Betreff: Walter E. Baumann Datum: Thu, 27 Mar 2008 14:22:23 +0100 Von: Johannes beck An: chefred@taz.de, pauli@taz.de Liebe Petra Dorn, würdest Du bitte diese mail an Helmut Höge weiterleiten?! Danke und Gruß, Johannes Beck --------------------------------------------- Lieber Helmut, gestern ist Walter Baumann gestorben. herzliche Grüße, Johannes
3.Ausstellungsbesprechung taz v. 28.11.87:
Sie zählt zu den besten Perry-Rho-
dan-Kennern Norddeutschlands.
Sie malt meistens mit Buntstiften,
träumt aber in Öl. Hilka Nordhau-
sen, Begründerin der Buch Hand-
lung Welt und der Künstlerförde-
rung Weltbekannte. V., Hamburg,
lebt eigenen Aussagen zufolge nie
länger als drei Monate, höchstens
ein Jahr am selben Ort. Bei jedem
Umzug kommt der Ballast ins De-
pot — aufden Dachboden der Mut-
ter in Harburg. Hilka Nordhausen
stellt keine obszönen Bilder aus:
»Das kann ich meiner Mutter nicht
zumuten, die lebt noch.« Nur für
vier Tage bezieht sie jetzt drei
Zimmer in der weit über die Gren-
zen Wilmersdorfs hinaus bekann-
ten und von einschlägigen Ken-
nern geschätzten Kunstpension
»Nürnberger Eck«. In drei trau-
matischen Variationen wird das
existentielle Hinundhergewor-
fensein thematisiert: »Gehn wir zu
dir oder gehn wir zu mir?« (DAF)
Konkret — wird der Frühstücks-
raum flächendeckend, farbfroh
»vollgeballert: Mexiko, Tanger,
damit man nicht mehr weiß, wo
man ist«.
»Finnland, Friesland Ade«, wie
sie 1984 ein Fragment ihres Fort-
setzungsromans vertitelte. »Ich
wollte mich nicht vertüddeln«,
sagt sie heute. Ganz andere Töne
hingegen schlägt sie in folgender
Stelle–von 1983–an: »Wir sit-
zen auf einer Bank und kucken uns
die Bescherung an. Überall tote
rote zerquetschte Igel. »Das war
der aus Hamburg?« »Ja, denk ich
auch.«
In Hamburg müssen auch die
Ursprünge ihrer latenten Buddel-
schiff-Liebe liegen. Kontrastie-
rend zum self-fullfilling Femweh
des Frühstückssalons ist das Ein-
bett- und ein Doppelzimmer her-
gerichtet worden: vierfarbige, auf
Zetteln zergrübelte Zeichen eines
»düsteren Dichters« in Zimmer 4
und zierliche Zitate eines rhizo-
matischen Renaissanceforschers
— mit einer gewissen Neigung
zum periodischen Blau in Num-
mer 6. Wie heißt es so schön beim
frühen Perry Rhodan (Heft 47):
»Die Beschleunigungsformel des
Systems genialer Deliranz (gD)
verhält sich zur Echtzeit der Rei-
segeschwindigkeit quasi kon-
traproduktiv.« Vogel/Höge
4. Und noch mal eine Ausstellung von Hilka Nordhausen besprochen in der taz v. 13.4. 2006 – nach ihrem Tod:
In der neu eröffneten Galerie Dörrie & Priess in der Yorckstraße 89a werden gerade die Bleistift-Strichzeichnungen von Hilka Nordhausen ausgestellt. „Die Künstlerin (geb. 1949) war eine der wichtigen Persönlichkeiten des Hamburger Kunst- und Kulturbetriebs der 70er- und 80er-Jahre“, heißt es über sie im Internet, wobei sie sich damals selbst eher als „daneben“ begriffen hätte. Die Strichübungen dienten der Aus- und Abschweifungen nicht abgeneigten Hilka Nordhausen eine Zeit lang zur künstlerischen Selbstdisziplinierung. Sie bilden somit eine Art Kontrastprogramm zu ihren sonstigen Lebensäußerungen, etwa dem Perry-Rhodan-Hefte studieren, Tageszeitungsseiten übermalen und Dias sammeln. In Berlin war sie in dieser Hinsicht meine einzige Konkurrentin bei den Trödlern – bis wir uns zusammentaten und die brauchbarsten Dias untereinander austauschten.
Bei den „Untersuchungen zum Zeichenvorgang“, so der Ausstellungstitel, ging es ihr unter anderem darum: Wie viel kleine Striche kann man in zehn, zwanzig, dreißig usw. Minuten auf einem A3-Blatt schaffen? Oder umgekehrt, mit einem Metronom – wie lange hält man das Strichemachen durch? Wie sehen die Strichfiguren aus, die man bei unveränderter Körperposition stehend mit der Hand auf einem riesigen Blatt ausführt? Und wie sieht ein ganzer Bogen aus, wenn man ihn mit verbundenen Augen zustrichelt?
Die Ergebnisse wurden anschließend abfotografiert, ihre dabei zugrunde liegende Versuchsanordnung protokolliert – und das Ganze dann abgeheftet. So pedantisch konnte Nordhausen sein, auch wenn sie sonst eher lebensfroh verwuselt wirkte. Kurz vor ihrem Tod 1993 erschien noch im Verlag von Michael Kellner ihr Buch: „Glücklichsein für Doofe“.Vor zwei Jahren erinnerte ein Beitrag an sie in dem vom Kölner Verlag Walther König herausgegebenen Band: „Kurze Karrieren“.
Die letzten Jahre wohnte die an Krebs erkrankte Nordhausen am Kottbusser Tor in Kreuzberg. Acht Jahre nach ihrem Tod widmete die Hamburger Kunsthalle der Künstlerin, Galeristin, Schauspielerin und Buchautorin 2001 eine umfangreiche Retrospektive. „Montags Realität herstellen“ hieß sie – sehr passend. Schon 1998 hatten ihre Hamburger Freunde in einem dicken Bildband mit dem ebenfalls passenden Titel „dagegen-dabei“ das riesige Künstlernetz nachgezeichnet, das Nordhausen zwischen 1969 und 1989 knüpfte – vor allem mit ihrer „Buch Handlung Welt“ im Hamburger Karolinenviertel und seinem Förderverein „weltbekannt e.V.“
Es waren zumeist die von der Punkbewegung noch einmal flankierten Künstler – von der Tödlichen Doris und Heinz Emigholz über Dieter Roth und Allen Ginsberg bis zu Helmut Salzinger und Pola Reuth -, die in ihrem Laden Filme und Performances zeigten, Vorträge hielten, Gedichte lallten oder eine Wand bemalten, die nach einigen Wochen vom nächsten übermalt wurde.
Etliche solcher „Knoten“ standen damals miteinander in Kontakt, weil sie an ähnlicher Kunst interessiert waren. In Berlin die Galerie Zwinger, wo Wolfgang Müller und Ueli Etter ausstellten, sowie das Tonstudio von Frieder Butzmann und der Merve-Verlag, in Frankfurt die Zeitungen von Indulis Bilzenz und Walther Baumann, in Heidelberg die Turmgalerie von Sharon Levinson und die Buchhandlung von Jörg Burkhard. Dazwischen turnten sich die eher nomadischen Künstler frei.
Nun sind auch schon eine ganze Reihe der ihr lieb und wichtig gewesenen Kunden und Künstlerkollegen tot (Martin Kippenberger) oder liegen im Koma (wie Walther Baumann), noch mehr sind verschollen (was machen zum Beispiel Mike Hentz und Minus Delta T oder Boris Nieslony?). Andere sind in der Tat nicht mehr dagegen, sondern dabei, weltbekannt zu werden – wie der Bremer Maler Norbert Schwontkowski und der Neuköllner Kunstprofessor Thomas Kapielski.
Daneben sind aber auch neue Verbindungen entstanden: Hilka Nordhausens früherer Mitarbeiter Michael Kellner hat sich mit ihrem einstigen Verleger Peter Engstler, der ihr Buch „Melonen für Bagdad“ herausbrachte, zusammengetan, um bei ihm in der Rhön Lesungen auf einer nahen Jungviehweide mit zu organisieren, wo sich die Überlebenden und Mobilen alle zwei Jahre treffen. An Buchläden und Verlagen sind b-books und der Basisdruck-Verlag in Berlin dazu gekommen und an Galerien gleich mehrere – bis weit in den Osten. Dazu gehört jetzt auch die von Dörrie & Priess. Die beiden haben bereits eine Galerie in Hamburg, und sie vertreten den Nachlass von Hilka Nordhausen schon lange – zusammen mit ihrer Archivverwalterin Bettina Sefkow, die den Bildband „dagegen-dabei“ mit herausgab. So kommen nach und nach nun alle Ansätze der schon früh als Netzwerkerin in Erscheinung getretenen Hilka Nordhausen noch einmal vors Publikum.