vonHelmut Höge 28.03.2008

Hier spricht der Aushilfshausmeister!

Helmut Höge, taz-Kolumnist und Aushilfshausmeister, bloggt aus dem Biotop, dem die tägliche taz entspringt. Gonzo-Journalismus der feinen Art.

Mehr über diesen Blog

 „Das Einzige was zählt, ist der Augenblick, aber auch das Jahrhundert!“

Auch wenn sich die Jugendbewegung mit ewigen Wahrheiten garniert, folgt sie doch streng den jeweils neuesten Konjunkturen und Moden – das reicht von Sartre bis Piercing, von Bio bis Techno und von Ernst Jünger bis Punk. So wie letzteres die Hippies negierte, wird derzeit „68“ von den „Bobos“ und „Dibos“ erledigt.  Wobei allerdings schon die französischen 68er-Marxisten Gilles Deleuze und Félix Guattari zu bedenken gaben, dass das „Revolutionär-Werden“ etwas ganz anderes ist als „die Revolution – rückblickend“! Bereits die englischen Romantiker wurden nicht müde, Cromwell zu verdammen, „und ihre Argumente ähnelten  verblüffend den heutigen – z.B. über Stalin“. Zuvor hatt bereits Michel Foucault, der selbst Teil einer „Franzmänner-Mode“ wurde,  zu bedenken gegeben: „“Was gibt es überhaupt in der Geschichte, was nicht Ruf nach oder Angst vor der Revolution wäre?“

Hier einige Details über Helmut Salzinger, der uns diesbezüglich ab „67“ immer mal wieder was zu sagen hatte:

1.  Von Helmut Salzinger hatte ich in den Sechzigerjahren nur gelegentlich mal einen Text – in der Zeit und dann in der Sounds – gelesen. Aber dann gaben wir 1970 in Westberlin eine Zeitung namens „Hundert Blumen“ heraus, die sich u.a. auch mit der Rock-Szene in Berlin befaßte. In diesem Zusammenhang kam uns Helmut Salzingers Buch „Rock Power“ wie eine Generallinie vor. Ähnlich war es dann mit seinem Buch „Swinging Benjamin“, das der Verödung Benjamins durch universitäre Vereinnahmung und Zurichtung entgegenwirkte (wir entfernten uns damals immer mehr von der Uni). Als ich 1976 nach der portugiesischen Nelkenrevolution aufs Land zog, hörte ich irgendwann, dass Helmut Salzinger nicht weit von uns in Norddeutschland ebenfalls aufs Land gezogen sei. Er hätte ein oder mehrere Häuser in Hamburg geerbt und lebe nun zusammen mit seiner Freundin Mo von den Mieteinahmen. Es gab bald mehrere Stadt-Land-Kreise, die sich gelegentlich berührten: Hilka Nordhausens Hamburger „Buch Laden Welt“, die Künstler, mit denen sie dort zu tun hatte, ihr Mitarbeiter Michael Kellner, der weiter Texte von Helmut Salzinger verlegte, die taz, Werner Pieper und seine „Grüne Kraft“ im Odenwald, das Frankfurter Bräunungsstudio „Malaria“…um nur einige zu nennen.

Einmal besuchte ich Mo und Helmut Salzinger in Odisheim. Wir saßen in der Küche und tranken Tee. Danach bekam ich fast regelmäßig sein selbstkopiertes Fanzine „Falk“ zugeschickt. Einige Male fungierte ich als Zwischenträger für einen taz-Artikel von ihm. Er kam auch einmal in die Redaktion, um den Kulturredakteur Mathias Broeckers näher kennen zu lernen. Irgendwann beschlossen wir, Salzinger und ich, ein und das selbe Buch zu rezensieren – von E.M. Cioran. Er negativ, ich positiv. Der in Paris lebende Philosoph des Pessimismus fragte mich anschließend über eine junge deutsche Freundin von ihm, ob ich nicht mit ihr zusammen seine Biographie schreiben wolle, über Salzingers wütenden Verriß kein Wort.

Dann fingen Broeckers und ich ausgehend von Thomas Pynchons Roman „Die Enden der Parabel“ an, uns mit der Glühbirne – als Metapher für Aufklärung, Fortschritt, Sozialismus etc. – zu beschäftigen. Nach einiger Zeit kam eine Anfrage von Helmut Salzinger, ob wir nicht Lust hätten, darüber eine Falk-Nummer zu machen. Schließlich kam es so, dass der damalige Heidelberger taz-Korrespondent Michael Braun die Falk-Ausgabe Nr. 33 zusammenstellte – mit Glühbirnenmaterial, das wir ihm dafür schickten. Das Heft hieß dann „Neues aus dem Beleuchtungswesen“. Ich war unterdes im Vogelsberg gelandet, wo wir uns als „Agentur Standardtext“ vorwiegend mit „Kammlagenkritik“ befaßten, auch hierüber gab es einen Austausch mit Helmut Salzinger bzw. mit seiner Falk-Heftreihe. So gelangte da hinein über den Umweg der Agentur z.B. ein Zitat von Herbert Achternbusch: „Da wo früher Pasing und Weilheim waren, ist nun Welt. Die Welt hat uns vernichtet, das kann man sagen!“

Umgekehrt verfaßte Mathias Broeckers eine enthusiastische Besprechung des Buches „Der Gärtner im Dschungel“ von Helmut Salzinger. Da ich mich zu der Zeit schon wieder aus der Landwirtschaft so gut wie ausgeklinkt hatte, obwohl ich noch im Vogelsberg lebte, hat mich dieses Buch erst sehr viel später interessiert – da lebten Helmut und Mo schon nicht mehr. Ihr gemeinsames Projekt auf dem Land hieß „Head Farm Odisheim“. Das ist „Überohrs Factory, sein letzter verzweifelter Griff nach der Weltmacht,“ wie Helmut Salzinger selbst einmal erklärte. Dazu durchstöberte er die Zeitung nach Spuren des alltäglichen urbanen Wahnsinns, verfolgte den Vogelflug vom Garten aus, rauchte Haschisch, las Thoreau, Castaneda, Pirsig, und dachte sich das handelnde Subjekt weg – in drei Büchern, die „Ohne Menschen“, „Gärtner im Dschungel“ und „Moor“ hießen. Diese ganzen Unternehmungen waren noch Teil einer ebenso kollektiven wie internationalen Anstrengung, die damals unter dem Namen „Landkommune-Bewegung“ firmierte und in den USA zum Beispiel Bücher mit Titeln wie „Was die Bäume sagen“ hervorbrachte.

Helmut Salzinger blieb dabei – und versuchte, diese Bewegung praktisch und literarisch bis zu seinem Tod zu vertiefen. Aus dieser heute vor allem zeitlichen Tiefe kommen  jetzt einige seiner damaligen Lesungen auf CD über uns (herausgegeben vom Verlag Peter Engstler). Es geht darin um „Die Allgegenwart des Holunders“, um Wolken, Wind, Mitte Februar, drei Raben, eine Lerche, Bruder Bussard, immer wieder Falken und eine neugierige Fledermaus. Die „Poesie des Landes“ äußert sich ihm in „grauen Regengüssen, Weiden, Birken, diesigen Wäldern, einer Herde Kühe“. Es ist eine Poesie oder „Kultur des Landes“, die ihre Kraft aus der Erde erhält: „Die neue Gesellschaft wird biologisch sein“, zitiert er dazu einen US-Ökologen – und keinen Blubo-Dichter, denn Helmut Salzinger versuchte sich gegen die Vernutzung der Landschaft und auf die Seite der letzten Biotope zu stellen und entdeckte dort sogar mitunter noch oder schon wieder einen Silberstreifen am Horizont.

Heute, da die industrielle Landwirtschaft ebenso wie die Landflucht und die Konsumgesellschaft an ihre Grenzen stoßen und wieder Subsistenzwirtschaften in die Perspektive geraten, kann man seinen zwei ebenso avantgardistischen wie unverdrossenen Kleinverlegern (Kellner und Engstler) danken, dass sie diesem „Anfänger“ treu blieben. Ich zog dagegen irgendwann wieder nach Berlin. Aber dort arbeitete ich u.a. an einer Land-Kolumne, die ich „Agronauten“ nannte. In diesem Zusammenhang rief ich einmal Peter Engstler in der Rhön an und fragte ihn, da er doch das Gärnterbuch verlegt habe, ob er mir nicht ein Rezensionsexemplar schicken könne. „Klar,“ sagte er, „ich habe aber noch viel mehr Bücher von Helmut Salzinger verlegt,“ woraufhin ich etwas naßforsch erwiderte: Ja, ich weiß, aber mich würde erst mal nur dieses eine interessieren. Am Schluß meinte Peter: „Ach, ich schick dir alle Bücher von ihm, das ist doch besser, als wenn sie unter meinem Bett verschimmeln.“ Und so geschah es dann auch.

Darüberhinaus geschah aber noch etwas: Peter Engstler bot mir wenig später an, in seinem Verlag ein Buch zu veröffentlichen  (es hieß dann „Neurosibirsk“), außerdem lud er mich zwei mal auf die Jungviehweide nahe seines Dorfes ein, wo er regelmäßig Lesungen organisiert, zu der im wesentlichen Leute aus den o.e. Kreisen hinkommen. Bei dieser Gelegenheit lernte ich auch gleich Peter Engstlers  Buchladen und sein Helmut-Salzinger-Archiv kennen, das in dem Haus untergebracht ist, wo Mo zuletzt lebte. Statt des Gärtnerbuches nahm ich mir dann sein Moorbuch vor, das mir inzwischen fast das liebste von allen ist – und machte daraus einen Agronauten-Text, der eine Art Nachruf auf Helmut Salzinger sein sollte, insofern er das beinhaltete, was der Autor gerne tat (mit seinem Hund rumlaufen) und was er dabei dachte (Fortschrittskritik üben):

Helmut Salzinger geht im Frühherbst in der Nähe seines Dorfes Odisheim mit dem Hund spazieren, „auf einem Weg zum Raterbusch hinüber“.  – ins „Lange Moor, das zu einem System von Hoch- und Niedermooren gehört, welches sich vom Ahlenmoor im Norden bis Ebersdorf im Süden erstreckt“.

Dabei kommt er an einem  Schild vorbei: „Achtung! Floratorf Produkt. Aus dem vor Ihnen liegenden Hochmoor – werden die reinen Rohtorfe für die Herstellung der natürlichen Floratorf-Produkte gewonnen. Floratorf-Produkte helfen, alles besser wachsen und blühen zu lassen. Gärten werden schöner und Städte grüner. Helfen Sie mit, daß unsere Flächen und Gräben sauber bleiben und eine Zerstörung durch Feuer und Abfälle unterbleibt. Köhlener Torfwerk WK. Strenge GmbH“.

Helmut Salzinger bemerkt dazu: „Das Hochmoor als Betriebsgelände des Torfwerks. Und die Floratorf-Produkte, die mit der Vollkraft der Natur das Geschäft der Stadtbegrünung betreiben. Man stellt sich ein gutes Zeugnis aus und nutzt die Gelegenheit zur Werbung. Inzwischen wird das Hochmoor hier in Torf verwandelt und in den Städten auf Blumenbeete und -töpfe gekrümelt. Wenn man die Flächen, wo der Torf abgeräumt worden ist, sich selbst überläßt, ziehen sie das Wasser an und haben sich in wenigen Jahren neu begrünt. Das renaturierte Moor erstreckt sich bereits kilometerweit. Ob nun auch das Hochmoor anfangen wird zu wachsen, das wird sich erst noch zeigen. Vorerst erstreckt sich vom Firmenschild aus ein unabsehbares, weiß schäumendes Meer von nickendem Wollgras“.

Helmut Salzinger und sein Hund gehen einen verbotenen Grenzweg am Moorrand entlang, dabei entdecken sie: „Nach Nordosten erstrecken sich jetzt die Torfstiche mit ihrem ausgedehnten System von Gräben, Wällen, Wegen und zum Trocknen gestapelten Torfsoden, alles Braun in Braun. Inselartig haben sich bereits Gräser auf dem Torf angesiedelt. Es folgen Sauerampfer und Brombeere, Glockenheide…Dahinter ist der Abbau in vollem Gange. Vor meinem Auge walzt ein Gefährt, irgendetwas zwischen Raupe, Wanze oder Käfer mit Pflug, es schält im Vorbeifahren den Torf als ununterbrochenen Streifen vom Boden, der dann wohl in handliche Soden geteilt und geschichtet wird. Ob es das ist, was sie ‚ringeln‘ nennen? An einem halb verfallenenen aber noch benutzten Schuppen habe ich ein Papier angeheftet gefunden, mit dem die Firma bekannt gab: ‚Am 13.9. wird wieder geringelt‘.“

Helmut Salzinger kommt über diese Nachricht ins Grübeln: „Nun, heute ist erst der 9.9.. Für wen die Nachricht wohl ist? Der 13. ist doch erst nächste Woche, und es sieht nicht so aus, als würde bis dahin jemand hier vorbeikommen, um sie zu lesen. Doch wer weiß? Ich bin ja auch vorbeigekommen. Und damit konnte keiner rechnen“. Am Ende des Randweges stoßen Helmut Salzinger und sein Hund  auf einen „knallrot aufgemotzten BWM, der dort abgestellt ist“. Ein paar hundert Meter weiter stehen  Hütten und schweres Räumgerät.

Helmut Salzinger kommt dabei der Gedanke:  „Für mich wäre die Vorstellung, dass das Moor abgetorft wird, leichter erträglich, wenn ich dabei Menschen sähe, die mit dem Torfspaten persönlich dem Moor zuleibe gehen…Aber was hier geschieht, ist mechanisierter, industrieller Abbau, professionelle Ausbeutung des Moors“.

Wieder zurück in seinem  Haus wird Helmut Salzinger diese und andere Gedanken/Eindrücke als „Versuch, nichts zu erzählen“ niederschreiben. Die ersten Zugvögel haben die Gegend bereits verlassen, aus dem Norden kommend überfliegt eine Schar Wildgänse keilförmig das Moor. Auch die ersten Kraniche aus Schweden sind hier schon gesehen worden.“

2.  „Ja das wars“ heißt eine CD mit Natur-Gedichten und Gelegenheitstexten von Helmut Salzinger aus Odisheim, die der Verlag Peter Engstler aus Ostheim gerade veröffentlicht hat. Der Autor und Vortragende Helmut Salzinger starb 1993. In den Sechzigerjahren gehörte er zu den wenigen undogmatischen Linken, die auch in bürgerlichen Zeitungen publizierten. Berühmt machten ihn dann seine Bücher über Walter Benjamin und über Rockmusik. Nachdem er sich aufs Land – zwischen Hamburg und Bremen – zurückgezogen hatte, schrieb er noch einige Jahre lang unter dem Pseudonym Jonas Überohr Kolumnen für die Musikzeitschrift „Sounds“. Danach widmete er sich nur noch der Natur, erkundete die Hochmoore in seiner Umgebung und gab darüber gelegentlich eine kleine hektographierte Zeitschrift namens „Falk“ heraus. Die in dieser Zeit entstandenen Texte und Gedichte verlegte erst sein Hamburger Freund Michael Kellner und dann Peter Engstler in der Rhön, der nun auch Helmut Salzingers Nachlaß verwaltet, nachdem dessen Freundin Mo ebenfalls starb. Ihr gemeinsames Projekt auf dem Land hieß „Head Farm Odisheim“.

Das ist „Überohrs Factory, sein letzter verzweifelter Griff nach der Weltmacht,“ wie Helmut Salzinger selbst einmal erklärte. Dazu durchstöberte er die Zeitung nach Spuren des alltäglichen urbanen Wahnsinns, verfolgte den Vogelflug vom Garten aus, rauchte Haschisch, las Thoreau, Castaneda, Pirsig, und dachte sich das handelnde Subjekt weg – in drei Büchern, die „Ohne Menschen“, „Gärtner im Dschungel“ und „Moor“ hießen. Diese ganzen Unternehmungen waren noch Teil einer ebenso kollektiven wie internationalen Anstrengung, die damals unter dem Namen „Landkommune-Bewegung“ firmierte und in den USA zum Beispiel Bücher mit Titeln wie „Was die Bäume sagen“ hervorbrachte. Helmut Salzinger blieb dabei – und versuchte, diese Bewegung praktisch und literarisch bis zu seinem Tod zu vertiefen. Aus dieser heute vor allem zeitlichen Tiefe kommen jetzt einige seiner damaligen Lesungen auf CD über uns.

Es geht darin um „Die Allgegenwart des Holunders“, um Wolken, Wind, Mitte Februar, drei Raben, eine Lerche, Bruder Bussard, immer wieder Falken und eine neugierige Fledermaus. Die „Poesie des Landes“ äußert sich ihm in „grauen Regengüssen, Weiden, Birken, diesigen Wäldern, einer Herde Kühe“. Es ist eine Poesie oder „Kultur des Landes“, die ihre Kraft aus der Erde erhält: „Die neue Gesellschaft wird biologisch sein“, zitiert er dazu einen US-Ökologen – und keinen Blubo-Dichter, denn Helmut Salzinger versuchte sich gegen die Vernutzung der Landschaft und auf die Seite der letzten Biotope zu stellen und entdeckte dort sogar mitunter noch oder schon wieder einen Silberstreifen am Horizont. Heute, da die industrielle Landwirtschaft ebenso wie die Landflucht und die Konsumgesellschaft an ihre Grenzen stoßen und wieder Subsistenzwirtschaften sowie experimentelle Agronautiken in die Perspektive geraten, kann man seinen zwei ebenso avantgardistischen wie unverdrossenen Kleinverlegern danken, dass sie diesem „Anfänger“ treu blieben.

3.  Man kann die ganzen 68er-Abrechnungen bald nicht mehr lesen, vor allem nicht die selbstkritisch gemeinten der einstigen Rädelsführer, die, um mit ihren gefälligen Schuldbekenntnisse noch Aufmerksamkeit zu erregen, nicht einmal mehr davor zurückschrecken, die damalige „Antiautoritäre Bewegung“ als quasi-faschistisch zu charakterisieren. Ein Ex-Maoist und nunmehriger taz-redakteur sprach neulich rückblickend von einer wahren „Solidaritätshölle“. All diese 68er-Bücher erscheinen in bürgerlichen Verlagen und ihre Autoren gehörten zur sogenannten „Politfraktion“, die um Einfluß rang. Daneben gab es noch die eher in Ruhe gelassen werden wollenden  Hippies – von den „Beatniks“ herkommend und dann von Drogen und Musik befeuert.  Sie schufen sich einen eigenen „Underground“ – inklusive Verlage, Medien usw.. Diese sich bald über London und Amsterdam auch auf dem Kontinent ausbreitende Bewegung hat den Sartreschen „Existentialismus“ modernisiert – in der doppelten Bedeutung von weiterentwickelt und zur Mode gemacht.

Der Wiener Auschwitz-Häftling und Schriftsteller Jean Améry hörte 1946 einen Vortrag von Jean-Paul Sartre in Paris, bei dem einige Leute vor hysterischer Ergriffenheit in Ohnmacht fielen. Es waren erwachsene junge Leute, keine Teenager, „und noch ihre Hysterie hatte eine gewisse geistige Würde“. Deutete sich da bereits die Popkultur an? Einer der ersten Musikkritiker dieses immer wieder unter anderem „Label“ fortdauernden  Nachkriegsjugend-Phänomens war Helmut Salzinger, dem jetzt eine Aufsatzsammlung mit dem Titel „Querfalk“ gewidmet ist. Er starb 1993 im niedersächsischen Odisheim und „Falk“ hieß seine dort von ihm am Kopierer vervielfältigte Zeitschrift, die vom ganzen Leben handelte.

Beides verkörperte einen  Pol, zu dem sich die Hippiebewegung bis zur Wende entwickelte.  Wobei sie von Anti-AKW-Protesten über schamanistische Praktiken bis zu „New Age“ und Punk alles integrierte und überhaupt eine große Experimentierfreude zeigte. Die Herausgeber des „Querfalk“ schreiben: „Falk war der Knotenpunkt jenes Netzwerkes, das Helmut Salzinger seit den Siebzigern zu weben versucht hatte, und – neben ein paar vereinzelten weiteren Projekten – der Kulminationspunkt der Headfarm-Idee.“ Headfarm – so hatte er nach seinem „Ausstieg“ aus den Kreisen der Hamburger Kulturschaffenden seine „Landkommune“ in Odisheim genannt.

Es gibt noch eine weitere „Headfarm“ – im Odenwald: die Alte Schmiede in Löhrbach von Werner Pieper, der dort seit Hippiegedenken die „Grüne Kraft“ (in Form von Büchern, Zeitschriften und Non-Books) herausgibt. Von ihm haben „Die Grünen“ ihren Namen. So hießen aber auch schon die bäuerlichen Partisanengruppen im russischen Bürgerkrieg, zu denen u.a. die anarchistische „Machno-Bewegung“ zählte. Pieper zahlt kein oder nur wenig Honorar, stattdessen lädt der gelernte Koch alle seine Autoren einmal monatlich zum Essen ein. Es ist daraus ein ähnliches „Netzwerk“ wie das von Helmut Salzinger in Odisheim entstanden, und ähnlich wie im „Querfalk“ klingen nun auch die Erinnerungen von 60 Althippies über ihre frühen Bewußtseinserweiterungs-Experimente und Kontakte zu Pieper – in seinem Buch: „Alles schien möglich“. Einer der Autoren, Eugen Pletsch, ist mit Beiträgen in beiden Bänden vertreten. Der ehemalige „Sänger vom Frankenschlag“, Handelsvertreter des Modemachers Gerriet Hellwig und Autor des Golfbuches „Der Fluch der weißen Kugel“ lernte einst Werner Pieper auf einem „Steppenwolf-Konzert“ in Frankfurt kennen. Zusammen besuchten sie dann Helmut Salzinger in Odisheim. Später wanderte der verplauderte Eugen Pletsch mit dem eher schweigsamen Helmut Salzinger durch die Rhön. Im „Querfalk“ schreibt er: „Einmal kamen wir auf einen hohen Berg. Darauf war ein Turm, und von dort aus, höher als die Falken fliegen, schauten wir über das weite Land. Selbst ich schwieg für einen Moment und Helmut lächelte dankbar.“

Es existiert eine ganze Sozialgeographie aus solchen in Europa verstreuten „Anlaufpunkten“ wie die „Headfarm“, die es nicht mehr gibt, dafür jedoch andere. Nach Helmut Salzinger Tod zog seine Freundin Mo 1999 von Odisheim nach Ostheim in die Rhön – und mit ihr das Archiv von Helmut Salzinger, das nun von dem dort lebenden Cut-Up-Texter und Verleger Peter Engstler verwaltet wird. Er veröffentlichte jetzt auch den „Querfalk“. Seit 1984 betreibt er in Ostheim einen Buchladen, in dem  regelmäßig „Provinzlesungen“ stattfinden, außerdem lädt er seine Autoren alle zwei Jahre zu einer dreitägigen Lesung auf die Jungviehweide „Kalte Buche“ bei Ginolfs ein. Es ist daraus mit der Zeit ein eigenes „Netzwerk“ entstanden. Seit einigen Jahren gehören dazu auch einige Ostberliner, die dort auftreten: Sie kommen aus einem ostdeutschen „Netzwerk“, an dem der Anarchodichter Bert Papenfuß seit Jahren strickt, und geben u.a. die Zeitschrift „Gegner“ und „Floppy Myriapoda“ heraus. Aus vielen „Experimenten“ hüben wie drüben ist inzwischen „Kunst“ geworden. Darin endeten sie sozusagen. Dabei sollte es eigentlich, einem postsituationistischen Credo folgend, darum gehen, „neue Existenzweisen zu erfinden, die geeignet sind, der Macht zu widerstehen und sich ihrem Wissen zu entziehen“. Auch diese gibt es weiterhin.

Jean Améry faßte den „Existentialismus“ 1961 einmal wie folgt zusammen: “ 1. Der Mensch ist nur das, was er aus sich macht. 2. Der Mensch ist frei. 3. Der Mensch ist sozial engagiert.“ Er ist also nur das, was er tut. Im Grunde ist er überhaupt nichts, „sondern besteht nur im permanenten Prozeß der Selbst-Realisierung. Das ‚Sein‘ ist nicht dem Menschen eigen, sondern nur den Dingen, der Mensch besteht aus der Summe seiner getanen Handlungen und aus seinen künftigen Möglichkeiten, seinem ‚Projekt‘.“ Nahezu unter den Tisch gefallen ist inzwischen die dazugehörige Résistance-Erkenntnis, dass wir kein Projekt haben, sondern eins sind und es demnach darauf ankommt „über sich selbst hinauszugehen – das ist der wichtigste dialektische Vorgang der menschlichen Existenz.“ Für Sartre definiert sich vor allem der „Revolutionär“ durch das Überschreiten (dépassement) der Situation, in der er sich befindet. Seine Freiheit ist dabei jedoch nicht vage und unbeschränkt, „sondern stets auf eine gegebene Wirklichkeit bezogen“.

„querFALK“, herausgegeben von Caroline Hartge und Ralf Zühlke, im Verlag Peter Engstler Ostheim/Rhön 2007,138 Seiten 14 Euro

4. Ganz Deutschland ist von der Ich-Armee überrollt! Nein, nicht ganz: ein kleines Häuflein aufrechter Wir-Vorkämpfer („Das Ich ist nicht nur hassenswert, es hat nicht einmal Platz zwischen uns und dem Nichts!“) hält sich noch – und hat sich in der Rhön auf einer Jungviehweide verschanzt. Wenn es regnet, suchen sie Schutz in einem alten Nazi-Hütehaus. Bei Sonnenschein baden sie im nahen Basaltsee oder mimen träge Erholungssucher, erst nachts werden sie munter, um am Lagerfeuer oder im Licht von Taschenlampen Geschichten zu erzählen: Es geht dabei um Aufstandserfolge und -niederlagen, um – verstorbene Vorbilder wie Jack Kerouac und Helmut Salzinger, um Seemänner im Auftrag der Komintern wie Knüffgen, um chinesische Rotgardisten in Umerziehungsdörfern, um prähistorische Lokalbolschewisten an der Ostsee und natürlich um das Ganze – in Prosa und Poetry.

Drumherum stehen genügend Kleinverleger bereit, den Erzählern Selbstgebrannten oder Most  zu reichen sowie auch, um ihre Manuskripte sofort wohlwollend zu prüfen. Zu ihren Füßen sitzen dazu noch diverse Zeitschriftenmitherausgeber – wie die des Ostberliner „Gegner“  und der „Floppy Myriapoda“ etwa, um ebenfalls ihr Programm vor Ort zu komplettieren. Der Organisator Peter Engstler betreibt an einem Tag in der Woche eine Buchhandlung im Rhöntouristendorf Ostheim und der akustisch begabte Heidelberger Ex-Buchhändler Jörg Burkhart trägt neben eigenen Texten auch einen von der Mainzer Gewaltfilmerin Pola Reuth mit vor. Dazwischen läuft Jonny Cash. Der Greifswalder Piratenforscher Bert Papenfuß erzählt einen Witz aus Polen: Stehen zwei Penner vor einem Supermarkt und trinken Schnaps. Plötzlich kommen zwei Yuppies raus und nehmen einen tiefen Schluck aus ihren Plastikwasserflaschen. Sagt der eine Penner zum anderen: „Kuck mal! Ist das nicht ekelhaft? Wie die Tiere!“ Papenfuß trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift „Too old to die young!“

Tatsächlich handelt es sich bei dieser fünfzigköpfigen Erwachsenengruppe mit vielen Kindern (das älteste ist dreißig) um den harten Kern jener deutschen Hippies, die einst noch die Kurve zum Punk kriegten, dann in Paris VIII. ein Seminaire sur les mots „too much“ et „good vibrations“ absolvierten und nun den ganzen Bestand zu sichern trachten – wohlmöglich gar wieder auszuweiten, ohne erneut eine Generationenmode daraus erwachsen zu lassen. Dafür nehmen sie auch in Kauf, dass ihren Kindern die ganzen Geschichten am Arsch vorbeigehen, während die mitgebrachten Hunde sich äußerst fröhlich ins Performative einfügen. Und wenn ein Traktor vorbeifährt, der den Leseschwall kurzzeitig übertönt, dann ist das auch gut und nicht schlecht!
Gelegentlich wird der Toten mitgedacht, die natürlicherweise immer mehr werden – und manchmal schon wie ein Alp auf den Köpfen der Lebenden lasten. Andererseits gibt es so viele, die sich heuer nicht auf der Jungviehweide einfanden, weil sie anderes zu tun hatten – und ihrer werden immer mehr. Die „Connections“  dieser Rhön-Verschwörung reichen inzwischen bis nach Nordthailand, in den Südsudan und über den Odenwald auf der einen Seite hinaus – auf der anderen bis nach Bremerhaven und Reinbek bei Hamburg. Wir haben es hier mit einem Rev-Rhizom zu tun, das zur Bandenbildung neigt, jedoch auch die Einsamkeit zu schätzen weiß, sowie die Annehmlichkeiten einer umsichtigen Gastfreundschaft. Den Aktivisten dieses jährlich wiederkehrenden Zusammenkommens steht sogar eine Aufwandsentschädigung aus der Kriegskasse zu.

Und anschließend geht es wieder zurück – in die Archive, Redaktionen, Bibliotheken, Antiquariate und sonstigen Hide-Aways: prallgefüllt mit rustikaler Rhön-Reizüberflutung, neuen Literaturtips, Emailadressen und Nebenbeigeschichten, wie die von der wahljeminitischen Dichterin, die gerade mit einem märkischen Bioschweinemastbetrieb Schiffbruch erlitt. Überhaupt sind die Schiffs-Metaphern auf dem Rhöngipfel ständig präsent (auch wenn der Große Steuermann längst tot ist, aber das Schiff ist laut Foucault „die Heterotopie schlechthin“). Doch während die weiblichen Erzähler  dabei eher das vermaledeite Ruder in die Hand kriegen wollen, beklagen die männiglichen munter den eingeschlagenen Kurs. Zwischendurch gehen alle zum Aussichtspunkt – und werfen von da oben einen weiten Blick über das Bewußtseinsmeer. Allen ist klar: „Es gibt also nicht im Verhältnis zur Macht den einen Punkt der großen VERWEIGERUNG – die Seele der Revolte, den Brennpunkt aller Rebellionen, das reine Gesetz des Revolutionärs. Aber es gibt Widerstände, von denen jeder ein Sonderfall ist: sie sind möglich, notwendig, unwahrscheinlich, spontan, wild, einzelgängerisch, konzertiert, kriechend, gewalttätig, unversöhnlich, bereit zu Verhandlungen, eigennützig oder bereit zum Opfer…“ Wolf Kittler nennt dieses  Foucaultsche Resümee einen „Aufruf zum Guerillakrieg“.

5. Helmut Salzingers Bücher und Zeitschriften verkaufte u.a. die Hamburger Buchhändlerin Hilka Nordhausen. Sie ist inzwischen ebenfalls gestorben. Eines ihrer Bücher „Melonen für Bagdad“ veröffentlichte und verkaufte umgekehrt Peter Engstler in seinem Verlag bzw. in seiner Rhönbuchhandlung. Vor einiger Zeit fand in Berlin eine Ausstellung mit einigen ihrer künstlerischen Arbeiten statt. Dazu hier das Folgende:
„Hilka Nordhausen (geb 1949) war eine der wichtigen Persönlichkeiten des  Hamburger Kunst- und Kulturbetriebs der 70er- und 80er-Jahre,“ heißt es im Internet, wo nun gleichzeitig auch für den in Nordhausen hergestellten Doppelkorn geworben wird. Die letzten Jahre wohnte Hilka am Kottbusser Tor in Kreuzberg, wo sie 1993 starb. Acht Jahre später widmete die Hamburger Kunsthalle der Künstlerin,  Galeristin, Schauspielerin und Buchautorin eine umfangreiche Retrospektive. „Montags Realität herstellen“ hieß sie – sehr passend. Im Katalogvorwort schrieb Uwe M. Schneede: „Das Experiment zwischen dem Wort und dem Bild, mit dem Bild und dem Wort, dem Buch und dem Zeichenpapier war ihre Welt. “ 1998 hatten bereits ihre Hamburger Freunde in einem dicken Bildband mit dem ebenfalls passenden Titel „dagegen-dabei“ Hilka Nordhausens  riesiges Künstlernetz nachgezeichnet, das sie zwischen 1969 und 1989  knüpfte – vor allem mit ihrer „Buch Handlung  Welt“ im Hamburger Karolinenviertel und seinem Förderverein „weltbekannt e.V.“

Es waren zumeist die von der Punkbewegung noch einmal flankierten  Künstler – von der Tödlichen Doris und Heinz Emigholz über Dieter Roth und Allen Ginsberg bis zu Helmut Salzinger und Pola Reuth, die in ihrem Laden Filme und Performances zeigten, Vorträge hielten, Gedichte lallten oder eine Wand bemalten, die nach einigen Wochen vom nächsten übermalt wurde. Etliche solcher „Knoten“ waren damals untereinander vernetzt: In Berlin die Galerie von Wolfgang Müller und Ueli Etter sowie das Tonstudio von Frieder Butzmann und der Merve-Verlag, in Frankfurt die Zeitungen von Indulis Bilzenz, Johannes Beck und Walther Baumann, in Heidelberg die Turmgalerie von Sharon Levinson und die Buchhandlung von Jörg Burghardt… Dazwischen turnten sich die eher nomadischen Künstler frei. Anfang der Achtzigerjahre fing ich an, einen nach dem anderen für die taz zu interviewen. Hilka erzählte mir u.a., wie man ihr einmal zum Weiterverkauf einen Stapel  Raubdrucke von Michael Endes Buch „Momo“  aufgeschwatzt hatte – und daraufhin laufend irgendwelche alternativen Lehrer in ihrem Laden antanzten. Die wollte sie aber gar nicht da haben und bedienen, deswegen gab sie diesen ersten und einzigen Bestseller der „Buch Handlung“  schnell wieder zurück.

Nun sind auch schon etliche der ihr lieb und wichtig gewesenen Kunden und Künstlerkollegen tot (Martin Kippenberger) oder liegen im Koma (wie Walther Baumann), noch mehr sind verschollen (was machen z.B. Mike Hentz und Minus Delta T oder Boris Nieslony?), andere sind in der Tat nicht mehr dagegen,  sondern dabei, weltbekannt  zu werden (wie der Bremer Maler Norbert Schwontkowski und der Neuköllner Kunstprofessor Thomas Kapielski). Während zugleich das Wiener „Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig“ frühe Arbeiten von Hilka und neun anderen Künstlern zeigte, „die nach kurzen bedeutenden Werkphasen aus dem System Kunst ausgeschieden sind“. Wieder andere sind bloß aus unserem kollektiven Gedächtnis geschieden, u.a. weil die Kunstgeschichte gerne die weiblichen Protagonisten ignoriert, wie das in dem o.e. Bildband bereits Dietrich Diederichsen vorgeworfen wurde. Daneben sind aber auch neue „Knoten“ entstanden: Hilkas einstiger Mitarbeiter Michael Kellner hat sich z.B. mit ihrem einstigen Verleger Peter Engstler (der ihr Buch „Melonen für Bagdad“ herausbrachte) zusammen getan, um bei ihm in der Rhön regelmäßig Lesungen auf einer nahen Jungviehweide mit zu organisieren, wo sich die Überlebenden und Mobilen treffen. An Buchläden und Verlagen sind  „b-books“ und der Basisdruck-Verlag in Berlin dazu gekommen und an Galerien gleich mehrere – bis weit in den Osten.

Hilka Nordhausen ist darüber jedoch nicht vergessen worden: Ihre alten Freunde, die Hamburger Galeriebetreiber Ulrich Dörrie und Holger Priess, die den Nachlass von Hilka vertreten und bereits parallel zur Ausstellung in der Hamburger Kunsthalle 2001 die frühen Arbeiten sowie 2004 späte „Malereien“ von ihr zeigten, eröffneten im September 2005 eine Berliner Niederlassung in einer gründerzeitlichen Etage in Kreuzberg, Yorkstraße 89a. Dort stellen sie jetzt Bleistiftstrich-Zeichnungen von Hilka Nordhausen aus, wobei sie mit Hilkas Archivverwalterin Bettina Sefkow zusammenarbeiten, die auch schon bei „dagegen-dabei“ mit dabei war. Die Strichübungen dienten der Aus- und Abschweifungen nicht abgeneigten Hilka zur künstlerischen Selbstdisziplinierung. Sie bilden somit eine Art Kontratsprogramm zu ihren sonstigen Lebensäußerungen – wie Perry Rhodanhefte studieren, Tageszeitungsseiten übermalen  und Dias sammeln (in Berlin war sie in dieser Hinsicht meine einzige Konkurrentin bei den Trödlern, bis wir uns zusammentaten und die brauchbarsten Dias untereinander austauschten).

Bei den „Untersuchungen zum Zeichenvorgang“, so der  Ausstellungstitel jetzt, ging es ihr u.a. darum: Wieviel kleine Striche kann man in zehn, zwanzig, dreißig usw. Minuten  auf einem A3-Blatt schaffen? Oder umgekehrt – mit einem Metronom: Wie lange hält man das Strichemachen durch? Wie sehen die Strichfiguren aus, die man bei unveränderter Körperposition stehend mit der Hand auf einem riesigen Blatt ausführt? Und wie sieht z.B. ein ganzer Bogen aus, wenn man ihn mit verbundenen Augen zustrichelt? „Schließlich wurde aber ihr Körper zum eigentlichen künstlerischen Gerät, wenn sie sich an einer Gartenwand streckte oder auf einem Dach rotierte, stets mit dem Stift in der Hand, eine Spur ihrer Aktivität hinterlassend“, schreibt die Wiener Kulturzeitschrift „Springerin“. Die Ergebnisse wurden anschließend abphotographiert, ihre dabei zugrundeliegende Versuchsanordnung protokolliert – und das ganze dann abgeheftet. So pedantisch kannte ich Hilka noch gar nicht. Auf mich wirkte sie eher lebensfroh verwuselt, zuletzt war sie jedoch an Krebs erkrankt und hatte dafür eine Art Wunderheiler gefunden, über dessen Therapietheorie wir mehrmals diskutierten. Kurz vor ihrem Tod erschien noch im Verlag von Michael Kellner ihr Buch: „Glücklichsein für Doofe“ und vor zwei Jahren ein Beitrag über sie in dem vom Kölner Verlag Walther König herausgegebenen Band: „Kurze Karrieren“. Speziell zu ihren Bleistiftstrich-Experimenten gibt es außerdem noch einen Beitrag von Anette Südbeck in der Kulturwissenschaftlichen Zeitschrift „Kritische Berichte“ (3/2004) mit dem Titel „Tatort Wand – Zur Geste der Wandzeichnung“, er bezieht sich auf den Ausstellungsraum der Bremer „Gruppe Grün“, wo Hilka einmal eine ganze Wand mit Bleistiftstrichen füllte. Diese große „Geste“ wurde inzwischen ebenfalls übermalt.

P.S.: Eben erhielt ich noch eine kurze Mail über das taz-intranet:
——– Original-Nachricht ——–

Betreff: Walter E. Baumann
Datum: Thu, 27 Mar 2008 14:22:23 +0100
Von: Johannes beck 
An: chefred@taz.de, pauli@taz.de

Liebe Petra Dorn,

würdest Du bitte diese mail an
Helmut Höge weiterleiten?!
Danke und Gruß,
Johannes Beck

---------------------------------------------

Lieber Helmut,

gestern ist Walter Baumann gestorben.

herzliche Grüße,

Johannes

Anzeige

Wenn dir der Artikel gefallen hat, dann teile ihn über Facebook oder Twitter. Falls du was zu sagen hast, freuen wir uns über Kommentare

https://blogs.taz.de/hausmeisterblog/2008/03/28/auslaufende-konjunkturen/

aktuell auf taz.de

kommentare

  • 3.Ausstellungsbesprechung taz v. 28.11.87:

    Sie zählt zu den besten Perry-Rho-
    dan-Kennern Norddeutschlands.
    Sie malt meistens mit Buntstiften,
    träumt aber in Öl. Hilka Nordhau-
    sen, Begründerin der Buch Hand-
    lung Welt und der Künstlerförde-
    rung Weltbekannte. V., Hamburg,
    lebt eigenen Aussagen zufolge nie
    länger als drei Monate, höchstens
    ein Jahr am selben Ort. Bei jedem
    Umzug kommt der Ballast ins De-
    pot — aufden Dachboden der Mut-
    ter in Harburg. Hilka Nordhausen
    stellt keine obszönen Bilder aus:
    »Das kann ich meiner Mutter nicht
    zumuten, die lebt noch.« Nur für
    vier Tage bezieht sie jetzt drei
    Zimmer in der weit über die Gren-
    zen Wilmersdorfs hinaus bekann-
    ten und von einschlägigen Ken-
    nern geschätzten Kunstpension
    »Nürnberger Eck«. In drei trau-
    matischen Variationen wird das
    existentielle Hinundhergewor-
    fensein thematisiert: »Gehn wir zu
    dir oder gehn wir zu mir?« (DAF)
    Konkret — wird der Frühstücks-
    raum flächendeckend, farbfroh
    »vollgeballert: Mexiko, Tanger,
    damit man nicht mehr weiß, wo
    man ist«.
    »Finnland, Friesland Ade«, wie
    sie 1984 ein Fragment ihres Fort-
    setzungsromans vertitelte. »Ich
    wollte mich nicht vertüddeln«,
    sagt sie heute. Ganz andere Töne
    hingegen schlägt sie in folgender
    Stelle–von 1983–an: »Wir sit-
    zen auf einer Bank und kucken uns
    die Bescherung an. Überall tote
    rote zerquetschte Igel. »Das war
    der aus Hamburg?« »Ja, denk ich
    auch.«
    In Hamburg müssen auch die
    Ursprünge ihrer latenten Buddel-
    schiff-Liebe liegen. Kontrastie-
    rend zum self-fullfilling Femweh
    des Frühstückssalons ist das Ein-
    bett- und ein Doppelzimmer her-
    gerichtet worden: vierfarbige, auf
    Zetteln zergrübelte Zeichen eines
    »düsteren Dichters« in Zimmer 4
    und zierliche Zitate eines rhizo-
    matischen Renaissanceforschers
    — mit einer gewissen Neigung
    zum periodischen Blau in Num-
    mer 6. Wie heißt es so schön beim
    frühen Perry Rhodan (Heft 47):
    »Die Beschleunigungsformel des
    Systems genialer Deliranz (gD)
    verhält sich zur Echtzeit der Rei-
    segeschwindigkeit quasi kon-
    traproduktiv.« Vogel/Höge

    4. Und noch mal eine Ausstellung von Hilka Nordhausen besprochen in der taz v. 13.4. 2006 – nach ihrem Tod:

    In der neu eröffneten Galerie Dörrie & Priess in der Yorckstraße 89a werden gerade die Bleistift-Strichzeichnungen von Hilka Nordhausen ausgestellt. „Die Künstlerin (geb. 1949) war eine der wichtigen Persönlichkeiten des Hamburger Kunst- und Kulturbetriebs der 70er- und 80er-Jahre“, heißt es über sie im Internet, wobei sie sich damals selbst eher als „daneben“ begriffen hätte. Die Strichübungen dienten der Aus- und Abschweifungen nicht abgeneigten Hilka Nordhausen eine Zeit lang zur künstlerischen Selbstdisziplinierung. Sie bilden somit eine Art Kontrastprogramm zu ihren sonstigen Lebensäußerungen, etwa dem Perry-Rhodan-Hefte studieren, Tageszeitungsseiten übermalen und Dias sammeln. In Berlin war sie in dieser Hinsicht meine einzige Konkurrentin bei den Trödlern – bis wir uns zusammentaten und die brauchbarsten Dias untereinander austauschten.

    Bei den „Untersuchungen zum Zeichenvorgang“, so der Ausstellungstitel, ging es ihr unter anderem darum: Wie viel kleine Striche kann man in zehn, zwanzig, dreißig usw. Minuten auf einem A3-Blatt schaffen? Oder umgekehrt, mit einem Metronom – wie lange hält man das Strichemachen durch? Wie sehen die Strichfiguren aus, die man bei unveränderter Körperposition stehend mit der Hand auf einem riesigen Blatt ausführt? Und wie sieht ein ganzer Bogen aus, wenn man ihn mit verbundenen Augen zustrichelt?

    Die Ergebnisse wurden anschließend abfotografiert, ihre dabei zugrunde liegende Versuchsanordnung protokolliert – und das Ganze dann abgeheftet. So pedantisch konnte Nordhausen sein, auch wenn sie sonst eher lebensfroh verwuselt wirkte. Kurz vor ihrem Tod 1993 erschien noch im Verlag von Michael Kellner ihr Buch: „Glücklichsein für Doofe“.Vor zwei Jahren erinnerte ein Beitrag an sie in dem vom Kölner Verlag Walther König herausgegebenen Band: „Kurze Karrieren“.

    Die letzten Jahre wohnte die an Krebs erkrankte Nordhausen am Kottbusser Tor in Kreuzberg. Acht Jahre nach ihrem Tod widmete die Hamburger Kunsthalle der Künstlerin, Galeristin, Schauspielerin und Buchautorin 2001 eine umfangreiche Retrospektive. „Montags Realität herstellen“ hieß sie – sehr passend. Schon 1998 hatten ihre Hamburger Freunde in einem dicken Bildband mit dem ebenfalls passenden Titel „dagegen-dabei“ das riesige Künstlernetz nachgezeichnet, das Nordhausen zwischen 1969 und 1989 knüpfte – vor allem mit ihrer „Buch Handlung Welt“ im Hamburger Karolinenviertel und seinem Förderverein „weltbekannt e.V.“

    Es waren zumeist die von der Punkbewegung noch einmal flankierten Künstler – von der Tödlichen Doris und Heinz Emigholz über Dieter Roth und Allen Ginsberg bis zu Helmut Salzinger und Pola Reuth -, die in ihrem Laden Filme und Performances zeigten, Vorträge hielten, Gedichte lallten oder eine Wand bemalten, die nach einigen Wochen vom nächsten übermalt wurde.

    Etliche solcher „Knoten“ standen damals miteinander in Kontakt, weil sie an ähnlicher Kunst interessiert waren. In Berlin die Galerie Zwinger, wo Wolfgang Müller und Ueli Etter ausstellten, sowie das Tonstudio von Frieder Butzmann und der Merve-Verlag, in Frankfurt die Zeitungen von Indulis Bilzenz und Walther Baumann, in Heidelberg die Turmgalerie von Sharon Levinson und die Buchhandlung von Jörg Burkhard. Dazwischen turnten sich die eher nomadischen Künstler frei.

    Nun sind auch schon eine ganze Reihe der ihr lieb und wichtig gewesenen Kunden und Künstlerkollegen tot (Martin Kippenberger) oder liegen im Koma (wie Walther Baumann), noch mehr sind verschollen (was machen zum Beispiel Mike Hentz und Minus Delta T oder Boris Nieslony?). Andere sind in der Tat nicht mehr dagegen, sondern dabei, weltbekannt zu werden – wie der Bremer Maler Norbert Schwontkowski und der Neuköllner Kunstprofessor Thomas Kapielski.

    Daneben sind aber auch neue Verbindungen entstanden: Hilka Nordhausens früherer Mitarbeiter Michael Kellner hat sich mit ihrem einstigen Verleger Peter Engstler, der ihr Buch „Melonen für Bagdad“ herausbrachte, zusammengetan, um bei ihm in der Rhön Lesungen auf einer nahen Jungviehweide mit zu organisieren, wo sich die Überlebenden und Mobilen alle zwei Jahre treffen. An Buchläden und Verlagen sind b-books und der Basisdruck-Verlag in Berlin dazu gekommen und an Galerien gleich mehrere – bis weit in den Osten. Dazu gehört jetzt auch die von Dörrie & Priess. Die beiden haben bereits eine Galerie in Hamburg, und sie vertreten den Nachlass von Hilka Nordhausen schon lange – zusammen mit ihrer Archivverwalterin Bettina Sefkow, die den Bildband „dagegen-dabei“ mit herausgab. So kommen nach und nach nun alle Ansätze der schon früh als Netzwerkerin in Erscheinung getretenen Hilka Nordhausen noch einmal vors Publikum.

  • Die folgenden Anmerkungen über Hilka Nordhause hätte man auch unter Beerdigungen in diesem blog abbuchen können…

    1. taz v. 12.2.88 – aus einem Interview mit Heinz Emigholz:

    Kreuzberg ist ja eine beliebte Ge-
    gend für Filmarbeiten…

    So? Und wenn schon. Ich weiß
    genau, daß SO 36 voll ist von Mil-
    liardärstöchtern, die ihre Vergan-
    genheit vergessen wollen und
    Bolle plündern. Ganz trotzig wi-
    schen sie ihre Küche mit Kasch-
    mirpullovern auf.Ich bin auf den
    Drehort verfallen, weil Ueli Etter
    mich eingeladen hatte,in der Ga-
    lerie Eisenbahnstraße in der Man-
    teuffelstraße eine Ausstellung zu
    machen. Galerien kannte ich bis
    dahin nur als Witz. Diese konnte
    ich immerhin nervlich ertragen.
    Wir sägten ein rechteckiges Loch
    in den Holzfußboden und die mär-
    kische Erde kam sofort zum Vor-
    schein. Dann gruben wir ein
    grundwassertiefes Grab. Nie-
    mand ist während der Eröffung
    hineingefallen, obwohl es sehr
    voll war. Reinhard Wilhelmi kam
    mit einem Lilienstrauß.

    Man hört, daß dujetzt zur Gale-
    rie Zwinger übergewechselt bist.

    Ja, das ist jetzt perfekt. Für den
    Film wurde das Grab übrigens
    noch einmal ausgehoben. Hilka
    Nqrdhausen mußte in ihrem knit-
    terfreien grauen Anzug dort hin-
    ein. Nach den Dreharbeiten wurde
    das Grab ein drittes Mal geöffnet,
    weil Etter keinen Trevira-Stoff
    unter dem Boden seiner Galerie
    dulden wollte. Ein ziemliches Hin
    und Her. Der Gebäudestatiker
    runzelte schon die Stirn. Käthe
    Kruse hat dann aber die Verant-
    wortung auf sich genommen.

    2. Ein Porträt von Hilka Nordhausen – taz.v. 22.9.83:

    Während eines Gewitters versuchte Hilka
    mir die in ihrem Laden „Buch
    Handlung Welt“ gemachte 7jährige
    Erfahrung so zu verklickern, daß daraus
    was für die taz entstehen könnte. Mittler-
    weile hatte sie allerdings diese ,,Geschich-
    te“ schon öfters erzählt — für ,,Brigitte“,
    ,,Stern“, ,,Medium“, Rowohlt“, ,,FAZ“
    und ,,TIP“ und jetzt eben ,,TAZ“. ,,Macht
    nichts. Die kann man dann nehmen und
    damit zur Kulturbehörde dackeln!“ Man
    kann also sagen, daß das Ding jetzt lang-
    sam ,,eingeführt“ ist. Und dies ist auch der
    Grund, warum Hilka Nordhausen wieder
    nach außen gegangen ist. Z. Zt. hält sie sich
    gerade in Köln auf, will dort malen, sich ein
    bißchen in der Scene in Köln und Düssel-
    dorf umtun.

    Taz: Wie war das eigentlich in den 7 Jahren
    mit der BUCHHANDLUNG WELT?

    Hilka: Es ging mir die ganze Zeit nicht gut.
    So ein Einzelhandelsding ist mir sowieso
    ein Greuel. Aber darum gings ja erst mal
    gar nicht, es ging um einen öffentlichen
    Raum für Spinner, risikobereite Dichter
    und Künstler, die sich nicht in einer Mode-
    richtung verheizen lassen wollten, sondern
    was in der Birne hatten, was mit Marktge-
    sichtspunkten nichts zu tun hatte. Aber
    eben auch solche Witze müssen finanziert
    weiden und die Einzelhandelsnummer ist
    mir von Kind auf an geläufig gewesen und
    ich habe mir zugetraut, das so zu verknüp-
    fen, daß sich der ,,Platz“ halten und ent-
    wickeln läßt.
    Dann aber jeden Morgen um 10 Uhr in der
    Handlung stehen, immer am Programm
    des Ladens rumdenken, und dabei immer
    noch die Kohle im Kopf haben müssen…
    Für mich ist es ein Hammer, daß das Ding
    erst akzeptiert wird, wenn ich aus dem
    letzten Loch pfeife, jetzt, wo ich grad noch
    ne Runde durchgehalten habe. Mittlerwei-
    le bin ich sehr skeptisch, so ein Projekt mit
    Haut und Haaren durchzusetzen–ob das
    ein guter Weg ist.

    1970 bis 75 habe ich in Hamburg Kunst
    studiert, mit großzügigen Unterbrechun-
    gen — in den Kneipen, Schachspielen ge-
    lernt (Duchamp/Halberstadt: ‚Opposi-
    tion und Schwesterfelder sind versöhnt‘–
    ein Schachbuch) Derweil haben die
    Macker Fußball gespielt — ‚Cosinus‘ ge-
    gen ‚Ganz‘, ‚Ganz‘ gegen ‚Külpi‘ etc. Auf
    solchen Feldern entstand dann die erste
    Nummer der ‚Boa Vista‘ 1973.
    Zu dem Zeitpunkt wußte ich eigentlich
    schon, daß ich keine Kunst machen wollte
    — zu korrupt, so etwas halte ich nicht
    durch auf die Dauer. Wir haben also die
    erste ‚Boa Vista‘ gemacht, 1000 Stück. Wie
    verkauft man die? Dann der Laden, der
    war dann Arbeitsraum der Zeitschriften-
    gruppe, nebenbei liefen da alle vier Wo-
    chen Multi-Media-Sessions. Jemand proji-
    zierte seine Dias in einen offenen Kühl-
    schrank der Marke ‚Bauknecht‘, ein ande-
    rer lief dabei auf Stelzen herum und dekla-
    mierte irgendein Zeugs, während der Dia-
    vorführer ein Telefongespräch zwischen
    New York und Hamburg simulierte. Beim
    nächsten Mal führte jemand seine Caset-
    ten-Recorder-Stücke vor oder zeigte seine
    neuesten noch ungeschnittenen Filme, Po-
    la Reuth kam mit ihrem Film ,,Credit 00″
    angereist, Kiev Stingl sang irgendwelche
    Lieder über seinen Arbeitsamts-Vater, Det-
    lev Heyer versuchte in einem Dia-Vortrag
    zu beweisen, daß die Römische Kurie das
    Attentat auf den polnischen Papst hatte
    verüben lassen.
    Ein anderes Mal sprach eine Negerin in
    kreolisch-kölschen Dialekt über die prote-
    stantischen Initiationsrituale im Rhein-
    land. Ein Tübinger Germanistik-Student
    kochte japanische Gerichte–beim Servie-
    ren erläuterte er, daß die japanische Speise
    kein Zentrum kennt, alles ist hier Verzie-
    rung einer weiteren Verzierung; speisen
    heißt nicht ein Menü, eine Speisefolge ein-
    zuhalten.sondern mit einer leichten Berüh-
    rung der Stäbchen bald hier bald dort eine
    Farbe aufnehmen, ganz so, als folgte man
    einer Eingebung, die in ihrer Langsamkeit
    wie eine abgehobene, indirekte Begleitung
    zur Konversation erscheint. Dann wieder
    veranstalteten einige Jungs einen Abend
    lang einen Höllenlärm, indem sie mit
    Schlagstocken und Griffeln auf zwei Dut-
    zend metallenen Industrieabfällen der ver-
    schiedensten Art herumhämmerten. Wie-
    derholt konnten wir den Wirt der ‚Mark-
    thalle‘ überreden, seine Fähigkeit, besser
    ‚Begabung‘,, im Laden unter Beweis zu
    stellen–nur mit einer Badehose aus Tiger-
    fellimitat bekleidet. Wyborni plädiert da-
    für, seine Begabung ‚Autochromatismus‘
    zu nennen. Er kann nämlich, d.h. wenn er
    besoffen ist, durch reine Willenskraft eine
    seiner Aminosäuren — das Tyrosin —
    chemisch umwandeln in seinem Körper.
    Dabei entsteht Melanin, das braunschwar-
    ze Pigment, das für die Hautfarbe beim
    Menschen verantwortlich ist. Er kann die-
    se Metabolisierung aber auch unter-
    drücken, indem er, so hat es den Anschein,
    den, Pheny-lalinspiegel in seinem Blut ver-
    ändert. Auf diese Weise verändert er seine‘
    Häuffarbe vom geisterhaften Albinoweiß
    (Andy Warhol) über eine stufenlose Palet-
    te von Zwischentönen bis hin zu einem
    äußerst intensiven, purpurnen Schwarz (ä
    la James Baldwin). Wenn er sich konzent-
    riert, vermag er jede dieser Farben bis zur
    vollständigen Ausnüchterung (meistens
    am nächsten Morgen) aufrechtzuerhalten.
    Für gewöhnlich aber laßt er sich ziemlich
    schnell ablenken oder vergißt es einfach
    und fällt dann stufenweise wieder in den
    Normalzustand eines blassen sommer-
    sprossigen älteren Seemanns aus Husum
    mit schütteren roten Haaren zurück. Im
    Anschluß an seine zweite ,,Vorführung?
    debattierten Hans Eppendorfer und der
    auf Dermatologie spezialisierte Gunter
    Schmidt über das ,,Phänomen“. Gunter
    Schmidt nimmt an, daß eine bislang unent-
    deckte Verbindung besteht, eine Art über-
    lebendes Zellgedächtnis, das noch als Ko-
    lonie fühlt und auf die Botschaften des
    Mutterlandes, des Gehirns, reagiert. Bot-
    schaften, die dem Wirt der ,,Markthalle“
    nicht einmal bewußt zu sein brauchen.
    Aber das führt hier vielleicht alles zu weit,
    oder?
    Auf jeden Fall, wichtig bei diesen ganzen
    Performances ist, daß die einzelnen Veran-
    staltungen nicht für sich Realisierung eines
    Programms bedeuteten, sondern wie Ab-
    schnitte oder Akte eines einzigen endlosen
    Stückes funktionierten und nur so funldo-
    nieren sollten.

    Thorwald Roussel und Raymond Proll
    führten im Duett irgendwelche Text-Col-
    lagen vor, ähnlich gaben Allen Ginsberg,
    Helmut Salzinger oder Dennis Timm sich
    gegenseitig das Stehpult mit dem Glas Mi-
    neralwasser frei. Einmal veranstaltete Ed
    Sanders eine Lyrik-Session. Obwohl hier-
    bei mehr und mehr die ’neue Eleganz‘ bzw.
    ‚Kaputtheit‘ gefragt .ist, haben doch die
    echten Beatpoeten nach wie vor den mei-
    sten Applaus –jemand, dem die Armut
    ins Gesicht geschrieben steht, sein Zenfa-
    natismus und die verheerenden Auswir-
    kungen von jahrelangen Tramptouren,
    von einem Sufi-Camp in Dalmatien zum
    Theaterfestival bei Rimini, vom Guru-
    Wettbewerb in Neu-Dehli zur Van-Gogh-
    Retrospektive in Arles, von den Salzburger
    Mozartfestspielen oder den Linzer Flug-
    objekttagen zum Meditationsmarathon in
    die Schweizer Alpen, von den Frankfurter
    Experimentalfilm-Tagen (wo Warhols
    Empire-State-Building-Film in voller Län-
    ge gezeigt wurde) zum Feuerwerk in Barce-
    lona oder zum Foucault in Paris. Und das
    alles im Oberlin-Sweatshirt, mit Schmet-
    terlings-Sonnenbrille, schwarzem Seiden-
    schal, der im Nacken zusammengeknotet
    wird und weißen Roots-Schuhen, und
    über die Schulter locker die Weltkrieg-
    Zwo-Meldertasche gehängt, die vollge-
    stopft ist mit leeren Tagebüchern, Penxac-
    ta-Stiften, Aquarellfarben, Tipp-Ex-Flüs-
    sig, schmutziger Unterwäsche und Land-
    karten. Nach einem bärtigen Keruoac-Pla-
    giator unter Amphetamin-Schock kamen
    mehrere, die unheimlich geil drauf waren,
    ihre eigene Version von der babylonischen
    Schöpfungsgeschichte in elegische Zwei-
    zeiler zu übertragen. Ein anderer, eigent-
    lich Mathematik-Lehrer in Harburg, trug
    seinen ,,Gesang über das letzte Hochwas-
    ser der Elbe“ vor, den er auf eigene Kosten
    in Reinbek hatte drucken lassen.und der in
    gedrechselten Alexandrinern seine Vision
    von der Sintflut mit einer Lobeshymne auf
    Thea Bock verschmolz. Seine Dichtung
    hatte kosmische Dimensionen, und seine
    Verse waren technisch erstaunlich. Er
    brachte das Kunststück fertig, das Sterben
    einer Region unter Verwendung von Idio-
    men und’geographischem Latein in ge-
    reimte Distichen zu pressen.

    In der nächsten Lesung trug eine Frau eine
    Serie von Haikus vor, die von ihren Erleb- ·
    nissen mit Mayonaise und dem 1973er
    Telefonbuch von Düsseldorf handelten.
    Nach ihr kam eine weitere Frau nach vorn.
    Sie begann: ,,Das Material, das ich heute
    abend vortragen möchte, ist ein Abschnitt
    aus meinem Lebenswerk–‚Die Reise der
    Mondgöttin nach Cuxhaven‘. Es ist ziem-
    lich lang, deshalb beschränke ich mich auf
    den Höhepunkt, also die letzton 600 Zei-
    len. Sie enthalten zahlreiche, in gälischer
    Sprache abgefaßte Sentenzen, die die 78
    Gebote der Mondgöttin an die Frauen von
    Cuxhaven repräsentieren. Diese 78 Gebo-
    te werde ich dann am Ende des Vortrags
    übersetzen.“
    Schon ihre Einleitung bewirkte, daß etwa
    zehn männliche Zuhörer die BUCH-
    HANDLUNG WELT verließen. Als auch
    noch einige Frauen sich zum Gehen an-
    schickten, eilte Michael Kellner durch den
    Hintereingang nach draußen und schloß
    schnell die Ladentür von außen ab. Vieles
    von dem Zeugs, was so vorgetragen wurde,
    befand sich auf der Schwelle, im Bruch
    zwischen alter Postbeatnik-Schwärmerei
    und neuem Zynismus, fröhlichem Leiden
    oder Runtermachen. Daneben gab es dann
    natürlich mehr und mehr Vortragende, die
    sich avantgardistisch, postavantgardi-
    stisch gar,- auszudrücken versuchten – so
    Zeugs, in dem periodisch immer wieder
    Rasierklingen, Kokain, Neonreklame,
    rimbaudsche Massaker, BMWs und Ka-
    mener Kreuze auftauchten. Ich selber habe
    einmal was über Perry Phodan vorzutra-
    gen versucht. Dazu muß ich erwähnen,
    daß es neben der BUCH HANDLUNG
    WELT einen Second Hand Shop gibt, in
    dem man Groschenhefte tauschen kann,
    20 Pfennig das Stück oder drei alte gegen
    ein neues. Ich begann Perry Rhodan zu
    sammeln – von Nr. 1 bis 780. Das da ca. 10
    Autoren in gleicher Sprache über das glei-
    che Personennetz schreiben und jede Wo-
    che ne neue Fortsetzung vorlag, faszinierte
    mich irgendwann mehr als der ewige
    Tratsch über verlagsinterne Geschichten,
    Autorenhickhack oder das Gekakel über
    wichtige Neuerscheinungen.
    Das Hechten nach Trends und der
    Wunsch, immer in der ‚aktuellen Diskus-
    sion‘ am Ball zu bleiben, es ist unglaublich
    ermüdend, dem täglich etwas entgegenzu-
    setzen, und irgendwann, nach tausendfa-
    chen gutwilligen Erläuterungen des Buch-
    programms, hieß es oft nur noch: ,,Sorry,,
    hab‘ ich nicht gelesen, ich lese gerade Perry
    Rhodan“. Also dieser Vortrag – konkret
    ging es darum, daß und wie auf einem
    anderen Planeten die Bewohner statt Sau-
    erstoff Methan bzw. Butan einatmen.

    Wie das funktioniert und wie sich das auf
    die Entwicklung ihrer Denksystemeausge-
    wirkt hat, langfristig. Nach einer kurzen
    Einleitung, in der es um den genauen Stand-
    ort dieses Planeten ging, in welchem Son-
    nensystem und so, kam ich zur Sache –
    Methan, Butan und was für Alveolarepi-
    thel und Kapilarendothel in der Lunge das
    voraussetzt. Weiter kam ich aber nicht,
    denn unter den Zuhörern befand sich auch
    der Besitzer des Second Hand Shops von
    nebenan, stinkbesoffen und der war 11
    Jahre-bis 1955-in russischer Kriegsgefan-
    genschaft gewesen, in einem Bergwerk in
    Sibirien, der verstand nurdas Wort,,Gas“,
    und zwar russisches Erdgas aus Sibirien
    irgendwie, das hierher in die Bundesrepu-
    blik geliefert werden sollte, und polterte
    gleich los, ließ sich überhaupt nicht mehr
    unterbrechen – Röhrenembargo, Bol-
    schwikenschweine, nur über seine Leiche
    würde man hier mit russischem Erdgas
    kochen können, usw.
    Naja. Das waren die Lesungen. Die finden
    jetzt auch noch im LADEN statt, monat-
    lich.
    Daneben täglich der reguläre Buchladen,
    d. h. so regulär war der natürlich nicht, ist
    er immer noch nicht – mit den Schwerpunk-
    ten ,,Surrealismus“, ,,Expressionismus“,
    neuere US-Lyrik, die ganzen Minipressen,
    fast alle Literatur-Zeitschriften, die sich
    natürlich zum großen Teil überhaupt nicht
    ,,bewegen“, das ist wie ein Museum schon
    bald, dann immer wieder die neuen Kon-
    junkturen, die da so durchgezogen sind:
    ,,Frauen“, ,,Öko“, ,,Windenergie“, ,,Astro-
    logie“, ,,Frieden“, ,,Anarchie“, der MER-
    VE-Verlag meint, ihre Bücher verkaufen
    sich in der BUCH HANDLUNG WELT
    noch am Besten.

    Dann waren wir Herausgeber verschiede-
    ner Kataloge.
    Und seit neuestem gibt es ein erweitertes
    Taschenbuchprogramm, die Regale sind
    vollgknallt mit Camus, Sartre, Dostojews-
    ki – es ist unglaublich, wie da auf einmal der
    Rubel rollt, mit dem ganzen abgesicherten
    Scheiß. Vor einigen Jahren hatten wir,
    ohne zu wissen was das war, mal ,,Momo“
    von Michael Ende bestellt, und plötzlich
    ging das los wie der Teufel, da kamen
    plötzlich diese komischen Momo-Leser zu
    Haufen angewackelt und wollten das Buch
    kaufen, da haben wir es schnell wieder
    remittiert. Es hat lange gedauert, bis wir
    uns mit diesem Kunst-Konzept durchsetz-
    ten, das sollte es nämlich sein, BUCH
    HANDLUNG WELT, ein Zentrum der
    Peripherie, die man auf französisch sehr
    schön ,,terrain vague“ nennt. Das sollte nie
    meine Erfindung sein, das sollte ein Arbeit-
    sprinzip werden, das funktioniert wie eine
    Beatgruppe meinetwegen, in der jeder sei-
    ne Arbeit macht. Aber zwei Kollektive hat
    diese Idee überlebt, verheizt dabei.
    Ich bin daran krank geworden, letztes Jahr
    besonders.
    Davon muß ich mich jetzt erst mal erholen.
    Ich will endlich, daß es mir gut geht Sybille
    Brüggemann und Ulrich Dörrie schmei-
    ßen die HANDLUNG, ich habe mich in
    den Außendienst versetzen lassen – unter
    dem Deckmantel einer Kunstmalerin un-
    terwegs. Und wieder lesen. Einfach für
    mich, und nicht im Hinblick auf ein Sorti-
    ment.
    Bis Anfang 1981 hat Michael Keller noch
    mitgearbeitet, der hatte mehr Geduld in
    den ganzen Literatur-Konjunkturen als
    ich. Oder jedenfalls hat er sich nicht die
    Lust an Büchern verderben lassen, son-
    dern Abstand vom ,,Einzelhandel“ genom-
    men und seinen Verlag energisch forciert.
    Dann war da noch Eckhard Rhode, 81er-
    Kollektiv. Er hat schnell gemerkt, daß ein
    Projekt durchziehen nicht seine Sache sein
    kann und ist seit diesen Bemühungen
    Dichter und Denker. Ein anderer wurde
    später Richter. Ein weiterer Henker. Das
    stimmt! Aber sowas kennt man ja aus
    jedem Kollektiv.
    Für mich war die Neuentdeckung der Ma-
    lerei eine zweischneidige Sache. Es ist un-
    möglich, hauptverantwortlich ein Projekt
    durchzuziehen und sich gleichzeitig mit
    den schönen Künsten aktiv auseinander-
    zusetzen, die Malerei ist für mich eher die
    Krücke geworden, mit der Hilfe ich das
    Konzept BUCH HANDLUNG WELT
    weiterhin machen konnte, und insofern
    abgelöst als mein privates Ding.
    Das gefällt mir daran nicht. Bis jetzt habe
    ich dafür keine Lösung gefunden und gehe
    nun mal etwas anders an diese Geschichte
    ran. Versuchsweise. Ich meine, die BUCH
    HANDLUNG WELT hat ja als Konzept
    seinen Anspruch erfüllt, hat als Platz funk-
    tioniert. Die wirtschftliche Seite der Ange-
    legenheit war und ist ein Fiasko/persönli-
    cher Raubbau gewesen, und da ist bisher
    kein Rauskommen und da wären die Gren-
    zen jetzt erreicht.
    Nun könnte man noch ein Postscheck-
    Konto angeben – ,,Weltbekannt e. V.“,
    Hamburg, 82782-202. Kennwort ‚Lein-
    wand für Hilka‘ und/oder ‚Förderverein‘.
    ,,Sowas steht in der taz unter jedem Artikel.
    Und dabei hat keiner, der das liest, Geld.
    Außerdem, um wirklich an Kohle ranzukom
    men, muß man immer so tun als schwimme
    man schon im Geld“.
    ,,Aber das ist doch auch weltbekannt“.

  • Die F.R. druckte kürzlich einen langen Nachruf auf ihren Layouter Walter E. Baumann ab, er gab nebenbei noch die Zeitschriften “Neger” und “rogue” heraus, deren Autor ich war, nicht zuletzt deswegen erlaube ich mir hier, den Nachruf auf Walter hier einzustellen:

    Seine Augen waren immer hellwach, neugierig, strahlend. Die Hände voller Ringe, manchmal der kleine Fingernagel schwarz lackiert. Die Füße steckten in schwarzen Stiefeln. Schwarz mochte er ohnehin, obwohl er alles andere als ein Schwarzseher war. Und wenn er mal nicht ganz und gar in Schwarz erschien, liebte er es schrill: Seine Auftritte im Leopardenmuster-Hemd sind legendär.

    Rauschte er in diesem Outfit morgens durch die Bürotür, konnte eigentlich nichts mehr schief gehen. Walter E. Baumann war ein Mensch, der alle um sich herum mitriss, voller Ideen und Lebenslust. Er war ein Wunder an Energie.

    Default Banner Werbung
    Vor allem aber war der Art-Director des vor acht Jahren neu gestalteten FR-Magazins ein Mann mit vielen Eigenschaften. Und es ist nicht ganz so leicht, all seine Facetten in “nur” 270 Zeilen zu beschreiben. “Ooookay”, hätte er uns jetzt herausfordernd zugerufen, “so viele Zeichen sind aber ein Haufen Text, wenn ihr mir noch mehr auf die Seite stellt, wird das ziemlich scheiße aussehen.”

    Nein, das wollen wir natürlich nicht. Deswegen haben wir, seine Freunde und Kollegen aus der FR-Redaktion, unsere Erinnerungen an ihn in einer Text-Collage verdichtet – ein bisschen wie die Cut-up-Technik (ooookay, Cut-up für Arme) des von ihm so geschätzten Beat-Schriftstellers William Burroughs.

    Wo anfangen? Am besten am Anfang. Walter wurde am 20. Januar 1950 in Bayreuth geboren, von 1977 bis 1982 studierte er an der Städelhochschule für Bildende Künste in Frankfurt, parallel dazu arbeitete er als Layouter, Grafiker und Kunstkritiker beim Szene-Magazin Pflasterstrand, später als leitender Grafiker bei der Frankfurter Ausgabe der taz.

    1979 organisierte er an der Städelhochschule das legendäre “Shvantz-Festival” – mit Punk-Pionieren wie Der Plan, den Troggs und seiner eigenen Performance-Gruppe Minus Delta T. Der Rezensent der Musikzeitschrift Sounds war erschüttert: “Mit zerfetztem Gesang, mit dem Hammer, Bohrer und Kreissäge zwingen sie das Publikum zur Reaktion.

    Einer von Minus Delta T setzt den Schlusspunkt: Mit bloßen Händen zertrümmert er mitten unter den wütenden Punks einen Tisch bis in die letzte Faser.” Ohne Walter, schwärmen Szenekenner noch heute, wäre der Punkrock, der 79 noch Avantgarde war, an Frankfurt vorbei gegangen.

    Anfang der 80er ging er dann mit Minus Delta T auf eine Art Welttournee – sie fuhren einen 5,5 Tonnen schweren Stein auf einem LKW von Wales aus, am Himalaya-Gebirge vorbei bis nach Bangkok. Walter hat uns manchmal davon erzählt, beim Chill Out nach Redaktionsschluss mit einem Glas Gin (ohne Eis!) in der Hand.

    1989 gründete er das Kulturmagazin “Rogue”, 1993 kam er als Redakteur im Grafischen Büro zur Frankfurter Rundschau. Aber er gestaltete nicht nur Seiten der Wochenendbeilage “Moderne Zeiten” oder der “Literatur-Rundschau”, er brachte sich auch auf die ihm eigene Weise als Autor ein. Als ein neuer Kollege der Feuilleton-Redaktion wissen wollte, wo in Frankfurt die Szene zu finden war, bat er Walter um ein paar Infos.

    Der schrieb ihm gleich eine Seite voll: Das war so witzig, originell und kenntnisreich, dass der Text spontan auf der regionalen Kulturseite gedruckt wurde: “Walters Wochenende” war geboren und blieb lange eine beliebte Kolumne. “He was a cat that could play any instrument”, sagte Mick Jagger einmal über Brian Jones. So war Walter.

    Capt. oder Captain Baumann, wie er sich oft in seiner Wochenend-Kolumne nannte, erschuf spontan seine ureigene Sprache. “Das, o my brothers and my sisters, war das heutige Wochenende.” So endete “Walters Wochenende” oft. Und wie er schrieb, so sprach er auch. Einmal kam eine Kollegin gesundheitlich angeschlagen in die Redaktion. Walter machte allerlei Scherze, weil er sie aufheitern wollte. Also sagte er: “Es gibt für alles Bubizin und Mädizin.” Am Ende hat die junge Frau gelacht.

    Walter rauschte auch mit fast 50 durch das Leben wie ein Kind über einen Jahrmarkt. Immer neugierig, immer begeisterungsfähig, immer staunend. Auf einer Party wurde er mal gefragt, ob er sich all diesen Kunstkram, all diese Performances, Ausstellungen, all diese Event-Partys tatsächlich selbst anschaut, ob er das alles wirklich ernst nehmen würde? Da lachte er und sagte sinngemäß: Natürlich nehme er das alles nicht ernst, nur deshalb mache es ihm ja so viel Spaß.

    Das neue Magazin der Frankfurter Rundschau, erstmals Ende April 2000 erschienen, wurde Walters ganz großer Wurf als Grafiker. Vorausgegangen waren monatelange Entwicklungsarbeit bis in die Nächte hinein. Dann war sie da: Die erste Ausgabe des von ihm neu gestalteten Supplements – mit Christus auf dem Cover: “Jesus!”, schrieb damals die Süddeutsche Zeitung, “welcher Blitz ist in die Frankfurter Rundschau gefahren?

    Das ist hedonistisch, relevant und verblüffend.” Der Blitz hieß Walter E. Baumann. Das FR-Magazin war für ihn die größtmögliche Spielwiese. Anything goes. Als er den AC/DC-Gitarristen Angus Young auf dem Magazintitel vor eine Feuerwand montierte, war der Manager der Band so begeistert, dass er das Copyright erwerben wollte.

    Walter hat das damals noch große Zeitungsformat für ein klares, plakatives Magazin-Layout genutzt, das durch Weißraum, klare Linien und Esprit bestach. Er liebte die kleinen Irritationen und setzte durch, dass die Überschriften konsequent klein geschrieben wurden. Für seine visionären und stilbildenden Magazin-Layouts ist er mehrfach mit dem “European Newspaper Award”, dem Oscar der Zeitungsbranche, ausgezeichnet worden.

    Aber auch der Job im Magazin füllte einen wie ihn nicht völlig aus. Nach Produktionsschluss war er unter anderem als Kurator der Galerie Station im Mousonturm in Frankfurt aktiv. Und bei allen Kunstausstellungen, die Walter auf die Beine stellte, gab es immer einen Moment, der besonders verblüffte und anrührte. Das war seine Begrüßungsrede als Kurator an die Gäste – im Mousonturm oder anderswo.

    Wochen- und monatelang hatte er für diesen Moment geschuftet. Hatte junge, spannende Künstler für sich entdeckt, ihn oder sie zum Kommen überredet, das Honorar ausgehandelt, einen Raum für die Schau besorgt, einen DJ mit kunstkompatiblem Musikgeschmack für die Vernissage gebucht, Einladungskarten gestaltet, viele Leute persönlich eingeladen. Und die Rede vorbereitet. Dann hob Walter zu reden an: leise, kurz, oft zaghaft, die eigene Schüchternheit vor dem Publikum mit selbstironisch-theatralischen Gesten überspielend. Ein großer Moment, der Künstler, Gäste und oft sogar den DJ zu einem sympathischen Lächeln brachte.

    Wenn wir jetzt an ihn denken, hören wir ihn oft reden. “Okay”, sagte er oft, die Steigerungsform war dann “ziemlich okay”. Ablehnung konnte er uns ebenso charmant wie unmissverständlich mit dem Satz: “Das ist doch Scheiße!” vermitteln. Das trug er gerne auch mal eruptiv in Redaktionskonferenz vor, die nach solchen Ausbrüchen schon mal zum Abkühlen unterbrochen werden mussten.

    Er war ein wilder Empfindsamer, ein Meister darin, aus solchen Clashs immer wieder neue Ideen zu entwickeln. Die meisten davon klebten, auf gelbe Post-It-Zettelchen notiert, an seinem türkisfarbenen Mac. In Stoßzeiten überlagerten sich dort schon mal an die 20 Zettel, die er in einem aberwitzigen Tempo abarbeitete und in kunstvolle Layouts übersetzte.

    Wir haben uns mehr als einmal gefragt, woher er zu jeder Tages- und Nachtzeit die Energie für all seine Kreativitätsschübe nahm. Wie er das hinbekam, jeden Tag aufs Neue mit einer derartigen Begeisterung und Leidenschaft ans Werk zu gehen. Und bei alledem fand er noch in der schlimmsten aller Heftproduktionen Zeit, für jeden irgendein Geschenk zu besorgen.

    Geschenke für alle, auch das war Walter – aus der Mitte seines großen Herzens schenken. Irgendetwas fiel ihm da immer ein. Er verschenkte kleine Sachen, Schokoküsse oder Kaugummi, den man in Pink oder Neon-Gelb meterweise aus einer Plastikhülle rollen konnte.

    Vor fünf, sechs Jahren, in schweren Zeiten, als es um die Zukunft des Magazins nicht gut bestellt war, verschenkte er unter Kollegen Zigaretten-Päckchen der Marke “Hope” und wie so oft regelmäßig feste Umarmungen, bei denen einem die Luft wegblieb, nach deren Lockerung man sich aber fragte, ob man sich je in seinem Leben so gut aufgehoben gefühlt hatte wie in jenem Moment.

    Vor fast genau fünf Jahren fasste sich Walter, vor seinem Mac sitzend, an die Brust. Wir brachten ihn zum Arzt. Ein Herzinfarkt. Seit er in der Tür zum Behandlungszimmer verschwand, war er auf tragische Weise dem richtigen Leben entrissen, lag fünf Jahre lang in einem Wachkoma. Vor wenigen Tagen ist unser Freund Walter E. Baumann gestorben. Wir werden ihn nicht vergessen.

  • Ich habe Hilka in der Tat nicht ignoriert, sondern mehrfach über sie geschrieben, auch im Zusammenmhang mit Salzinger übrigens, u.a. in der „Beute“ und in einer „Hommage a Helmut Salzinger“, die Klaus Modick herausgegeben hat. In „dagegen dabei“ habe ich nichts geschrieben, aber den Band in „Texte zur Kunst“ rezensiert

  • Diederichsen hat Frau Nordhausen nicht ignoriert, soweit mir bekannt ist, hat er damals eine großartige Einführung zu dem Buch “dagegen-dabei” geschrieben. Korrigiert mich bitte wenn das falsch ist. Danke Felix aus HH

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert