Die 1900 veröffentlichte Evolutionstheorie „Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt“ von Peter Kropotkin wird immer wieder neu aufgelegt. Sie war gegen Darwin gerichtet, der als Motor der Entwicklung der Arten die Konkurrenz und das „Überleben der Tüchtigsten“ ausgemacht hatte. Nachdem 1859 Darwins Hauptwerk „On the Origin of Species by means of Natural Selection“, erschienen war, hatten bereits Marx und Engels gewitzelt, der Autor habe dabei bloß das üble Verhalten der englischen Bourgeoisie auf die Tier- und Pflanzenwelt projiziert, wobei er sich auch noch von der Begrifflichkeit des unsäglichen Nationalökonomen Malthus leiten ließ. So etwa wie laut Marx umgekehrt „das Geheimnis des Adels die Zoologie“ ist. Kropotkin ging in seiner Darwin-Kritik noch einen russischen Schritt weiter: Dort war Darwin in sozialistischen Kreisen überaus populär, weil es nach ihm kein begründetes Hochwohlgeboren mehr geben konnte, auch dass der Mensch vom Affen abstammen sollte, gefiel den Russen, nichtsdestotrotz akzeptierten sie sein Konkurrenzprinzip nicht: Dies sei bloß englisches Insel- bzw. Händlerdenken, hieß es. Und in der Tat hatte Darwin sein Evolutionsmodell erstmalig auf den Galapagosinseln umrissen, wo die Arten auf kleinstem Raum leben mußten. Ganz anders dagegen in Sibirien, das Kropotkin erforschte, und wo er eher auf Tiere und Pflanzen gestoßen war, die sich in der unendlichen Weite suchten, um gemeinsam leichter zu überleben. „Bei Kropotkin finden wir geradezu paradigmatisch eine Art Umkehreffekt gegenüber dem damaligen Sozialdarwinismus,“ heißt es dazu in einem Beitrag von Reinhard Mocek in einem Buch über Symbiosen, um das es mir hier geht.
Wenn das Zusammenfinden von Individuen der gleichen oder unterschiedlichen Arten zu einer dauerhaften Kooperation führt, spricht man von einer Symbiose. Und die ersten Symbioseforscher waren Russen. Zwar gibt es auch eine Symbioseforschung in den USA – vor allem von der Mikrobiologin Lynn Margulis forciert, aber sie hat selbst vor einigen Jahren das Buch der russischen Wissenschaftshistorikerin Lija Khachina ins Amerikanische übersetzen lassen, das sich mit der (russischen) Geschichte der Theorie von der Symbiogenese beschäftigt, die um 1900 begann – vor allem unter Botanikern, und bis heute dort fortgeführt wird.
Inzwischen vergeht kein Tag, an dem nicht irgendwo auf der Welt Biologen eine neue Symbiose entdecken. Die russische Forschung richtete sich zunächst auf Flechten, die aus nichts anderem bestehen als aus einem Pilz und einer Alge – die sich zusammengetan haben, um auch noch in der Arktis gedeihen zu können. Andere Pflanzen und Tiere verbünden sich, um in der größten Wüstenhitze zu überleben. Und im nährstoffarmen tropischen Regenwald ist die z.B. Orchidee gleich mehrere Symbiosen mit verschiedenen Kleinstlebewesen und Insekten eingegangen – zur Nahrungsaufnahme sowie zur Fortpflanzung. Die französischen Philosophen Gilles Deleuze und Félix Guattari haben daraus ein ganzes postmodernes Beziehungs- und Organisationsmodell gemacht: „Werdet wie die Orchidee und die Wespe!“
Inzwischen ist es schon beinahe unumstritten, dass auch die „Kraftwerke“ in unseren Körperzellen – Mitochondrien genannt, sowie die in den pflanzlichen Zellen – Chloroplasten – einmal als Bakterien dorthin gelangt sind: Statt sie zu verdauen, wurden sie integriert, wobei sie nach und nach ihre genetische Individualität verloren und zu Symbionten wurden – d.h. zu Organellen (Orgänchen). Nicht in einem Wirts-Gast-Verhältnis, sondern als Geber und Nehmer. Die radikalsten Vertreter unter den Symbioseforschern gehen so weit, alle komplexen Organismen als das Werk von symbiosesuchenden Bakterien zu begreifen, die auf diese Weise immer genug Nahrung finden: z.B. die Kolibakterien in unserem Darm, ohne die wir nicht leben können – sie allerdings sehr wohl ohne uns. Einige dieser Symbioseforscher sind darüberhinaus heute Anhänger der „Gaja-Hypothese“ von James Lovelock, die besagt, dass die gesamte Erde einschließlich ihrer Atmosphäre ein einziger großenteils auf Symbiose beruhender Organismus ist.
„Als eigentliche Urheber der Theorie des symbiogenetischen Ursprungs kernhaltiger Zellen gelten heute die russischen Biologen Andrej S. Famincym (1835-1918) und Konstantin S. Mereschkowskij (1855-1921),“ schreiben die deutschen Autoren des 751 Seiten dicken Buches mit dem Titel „Evolution durch Kooperation und Integration“. Ihr Werk läßt diesbezüglich nichts zu wünschen übrig: Es beginnt mit den Originaltexten von Famincym und Mereschkowskij – aus dem „Biologischen Centralblatt“ Erlangen. „Im Verhältnis zur Selektionstheorie Darwins betrachtete Famincyn die Symbiogenesetheorie als eine wesentliche Ergänzung, während Mereschkowskij sie als Alternative verstanden wissen wollte.“ Dem folgen Biographien und Diskussionen einzelner Aspekte der Symbioseforschung – angefangen mit der Entdeckung dieses „biologischen Problems“ bis zur „Mereschkowskij-Rezeption nach 1945“ und einem selbstkritischen Ausblick am Ende: „Zu viel einer guten Idee?“ Auch die Zusammensetzung des Autorenkollektivs ist interessant: Sie kommen etwa zur Hälfte aus den biologischen Forschungsanstalten der DDR und der Sowjetunion sowie zur anderen Hälfte aus der BRD und den USA. Der Herausgeber Armin Geus lehrte in Erlangen und gründete das Biohistoricum in Neuburg sowie den Verlag Basiliskenpresse in Marburg, in dem dieses schöne Buch auch kürzlich erschien – als „Acta Biohistorica Nr. 11“, das selbst die dem Konkurrenzprinzip extrem verpflichtete FAZ über alle Maßen lobte („Erfolgreich leben durch Zusammenarbeit“). Der Mitherausgeber Ekkehard Höxtermann promovierte an der Humboldt-Universität im Bereich Botanik und kam dann über Köln und Jena an die Freie Universität Berlin, wo er Geschichte der Naturwissenschaften lehrt.
„Im Laufe der Evolution wurden Gene des Endosymbionten in das Kern-Genom übernommen,“ heißt es im „Geleitwort“ des Kölner Molekularbiologen Lothar Jaenicke. Durch diese Form einer „friedlichen Übernahme“ entsteht eine Abhängigkeit (z.B. des Mitochonten von der ihn umgebenden Körperzelle), nichtsdestotrotz „ergänzen die miteinander lebenden Wesen sich“, meint Jaenicke, so dass „aus beiden Partnern mehr als ihre Summe wird, wie in einer perfekten Ehe auf Dauer Eigenheiten ablegen und annehmen – bis das der Tod sie scheidet.“ Im klassischen Altertum soll „symbios“ bereits ein Wort für Ehegatte gewesen sein. Im längsten Text des Buches – über die Erforschung der Blaualgen – heißt es dazu ergänzend von Dieter Mollenhauer: „Irgendwie läßt sich immer feststellen, dass es den beiden prospektiven Symbiosepartnern nicht besonders gut gehen darf, wenn das Zusammenspiel erfolgreich etabliert werden soll.“ Außerdem versuchen sie, auch noch mit anderen Lebewesen zu kooperieren: So haben z.B. verschiedene Pilze und Amöben schon früher mit „Entocytobiosepartnern experimentiert und tun dies offenbar auch weiterhin“. Neben einer solchen „Untreue“ gibt es noch eine weitere Parallele zwischen diesen und menschlichen Symbiosen: „Die Grenzen zwischen Beute und Partner sind fließend.“ (Eberhard Schnepf) Die Ursprünge der Symbiose-Theorie – dieser neuen oder anderen Sicht auf das Leben, gehen auf eine kleine Gruppe „russischer ‚Querdenker'“ zurück, heißt es abschließend im „Geleitwort“.
Das Buch reiht sich damit ein in eine ganze Serie von veröffentlichten und noch-nicht-veröffentlichten deutschen Wissenschaftsgeschichten, die sich mit der einstigen russisch-sowjetischen Avantgarde in Kunst, Literatur, Architektur und Wissenschaft beschäftigen. Aber noch sind längst nicht alle „Schätze des Kreml“ gehoben: z.B. die der lamarckistischen Forschungsstation in „Borok“ an der künstlichen Wolgainsel „Darwin“ unter der Leitung von Boris Kusin. Der südfranzösische Zoosystemiker Luis Bec hat die Biologie einmal definiert als den Versuch, transversale Beziehungen zu anderen Arten aufzunehmen. Der sowjetische Psychoanalytiker, Polarforscher und Kosmologe Otto Julewitsch Schmidt ging im revolutionären Schwung so weit, dass er dazu eine Zeitlang auf der neueingerichteten Affenforschungsstation in Suchumi versuchte, Menschen mit Affen zu kreuzen. Auch das Wirken von Schmidt nachdem alle „Säuberungen“ an ihm vorbeigegangen waren, die er indes als Herausgeber der großen „Sowjetischen Enzyklopädie“ genauestens zu registrieren hatte, wäre eines solchen dickleibigen Werkes durchaus würdig.
„Evolution durch Kooperation und Integration“, hrsg. von A.Geus und E. Höxtermann, Marburg/Lahn 2007, 751 Seiten, 96 Euro.
Noch mal:
Kommen wir von den Amöben her oder von den alten Griechen? Zugespitzt formuliert: Es kann vielleicht gar keine Kulturgeschichte der Biologie geben, weil die Biologie aufräumt mit der Kultur. Es kann nur eine Kulturgeschichte gegen die Biologie geben, d.h. eine, die sich von der Natur abgrenzt, obwohl es auch dort jede Menge „Kultur“ zu entdecken gäbe. Ja, wahrscheinlich könnte man inzwischen sogar viel mehr „Gesellschaft“ (und auch „Individualität) in der Ersten Natur finden als in der Zweiten. Man hat dem Marxismus lange Zeit vorgeworfen, mit seinem Determinismus das Individuum in einem „Säurebad“ aufgelöst zu haben. Die Biologie bzw. Molekulargenetik macht sich nun anheischig, auch gleich noch die ganze Soziologie mit ihrem (angloamerikanischen) Dumpfmaterialismus zu schlucken.
Dagegen versuchten und versuchen wir eine Reihe von Texten zu stellen, die wir unter dem Titel „Anti-Darwin“ bündeln wollen. Was meint in diesem Kontext „Anti-Darwin“? Denn das ist ja sozusagen eine Art Parole. Wir wählten sie zunächst als Titel eines kulturwissenschaftlichen Seminars an der Humbolt-Universität im Streiksemester 2003/04. Damit wollten wir sagen: Es reicht! Fast täglich wird ein neues Neid-Gen, Erfolgs-Gen, Eifersuchts-Gen, Fettmach-Gen, Juden-Gen etc. isoliert. Dazu kommt noch, seit der unseligen Wende, dass nun wieder aus Klassen Rassen, Religionen und Nationen werden.
On the other hand ist die ganze Natur inzwischen zu einem einzigen Fitnesscenter geworden. Und das wird als Fortschritt begrüßt: Während es der antidarwinistische Insektenforscher Jean-Henri Fabre schon zu Anfang des 20. Jahrhunderts beklagt hatte, dasss „die Naturgeschichte, dieses wunderbare Studienfach für junge Menschen, infolge ihrer fortwährenden Vervollkommnung zu einer widerlichen abstoßenden Sache geworden“ sei, jubelte der Neodarwinist Neville Seymonds, ein Schüler des Physikers Erwin Schrödinger, nachdem dieser 1943 sein für die Molekulargenetik bahnbrechendes Buch „Was ist Leben?“ veröffentlicht hatte: Damit „hörte die Biologie auf, eine ‚unernste‘ Beschäftigung zu sein und wurde erwachsen.“ Und das heißt – auf gut amerikanisch: Sie wurde ein Geschäft! „Heutzutage sind Wissenschaftler Politiker, sie sind Aktienhändler, sie haben ihre eigenen Biotech-Unternehmen,“ die US-Biologiehistorikerin Lilly E.Kay behauptet, in ihrem Land „sind mindestens 80 Prozent der Molekularbiologen an eigenen kommerziellen Biotech-Unternehmen beteiligt“. Einer dieser Fitties – im Rang eines Beraters von Biotech-Unternehmen, Bains, meinte neulich – in der Zeitschrift „Nature Biotechnology“: „Die meisten Anstrengungen in der Forschung und in der biotechnologischen industriellen Entwicklung basieren auf der Idee, dass Gene die Grundlage des Lebens sind, dass die Doppelhelix die Ikone unseres Wissens ist und ein Gewinn für unser Zeitalter. Ein Gen, ein Enzym, ist zum Slogan der Industrie geworden…Kann das alles so falsch sein? Ich glaube schon, aber ich bin sicher, das macht nichts. Denn die Hauptsache ist, dass es funktioniert: Manchmal funktioniert es, aber aus den falschen Gründen, manchmal wird es mehr Schaden anrichten als Gutes tun…Aber die beobachtbare Wirkung ist unbestreitbar…Wir müssen nicht das Wesen der Erkenntnis verstehen, um die Werkzeuge zu erkennen…Inzwischen führen die Genom-Datenbanken, die geklonten Proteine und anderes Zubehör der funktionalen Genetik zu Werkzeugen, Produkten, Einsichten, Karrieren und Optionen an der Börse für uns alle.“ Inzwischen geben die Biologen selbst zu, dass lebendige Systeme zu komplex sind, als dass die Gentherapie funktionieren könne, obwohl sie mittlerweile fast 15 Jahre alt ist. Desungeachtet bombardiert uns der Wissenschaftjournalismus täglich mit neu ausgelesenen Genen, die für dieses und jenes gut oder schlecht sein sollen.
Die Bremer Genkritikerin Silja Samerski äußerte sich dazu in einem Interview 2004: Das “ ,GEN‘ ist nichts anderes als ein Konstrukt für die leichtere Organisation von Daten, es ist nicht mehr als ein X in einem Algorithmus, einem Kalkül. Aber außerhalb des Labors wird es dann zu einem Etwas, zu einem scheinbaren Ding mit einer wichtigen Bedeutung, mit Information für die Zukunft . . . über das sich anschaulich und umgangssprachlich reden lässt. Es ist doch sehr fraglich, ob man umgangssprachlich über Variablen von… oder Bestandteile eines Kalküls oder Algorithmus sprechen kann, ob sich also überhaupt außerhalb des Labors sinnvolle Sätze über ,GENE‘ bilden lassen, die von irgendeiner Bedeutung sind. Wenn aber solche Konstrukte in der Umgangssprache auftauchen und plötzlich zu Subjekten von Sätzen werden, mit Verben verknüpft werden, dann werden sie sozusagen in einer gewissen Weise wirklich.“
Der französische Genforscher und Nobelpreisträger Francois Jacob hatte bereits vor Jahrzehnten gemeint: In den Labors werde nicht mehr das Leben untersucht. „Die Biologie interessiert sich heute für die Algorithmen der lebenden Welt.“ Zuvor vertrat bereits der Genforscher Erwin Chargaff die Meinung, dass die Wissenschaft viel zu „mechanomorph“ geworden sei, und dass das Leben nicht einfach nur als ein „System raffinierter Stanzvorrichtungen“, als eine „Kette von Schablonen, Katalysatoren und Produkten betrachtet werden kann“.
Erst spät entdeckten wir, daß kein Geringerer als Friedrich Nietzsche von der Parole Anti-Darwin ausgiebig Gebrauch machte. In den späten Fragmenten, also ab 1888, gibt es fast ein Dutzend Aphorismen mit diesem Titel.
Andererseits, was die Losung Anti-Darwin angeht, so erinnert wenn nicht gemahnt sie auch an Friedrich Engels „Anti-Dühring. Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaften“, von 1878. Der Rausschmiß von Eugen Dühring als Lehrer in dem privaten Frauenlyzeum Berlin und Entzug der Lehrerlaubnis an der seinerzeitigen Friedrichs-Wilhelms-Universität, heute Humboldt-Uni, hatte eine Studentenbewegung zur Folge, eine Art Studentenstreik. Er hatte die Universitätsordnung kritisiert. Und dann das Vergehen aller Vergehen: er hat Hermann Helmholtz kritisiert. Helmholtz hätte in „Die Erhaltung der Kraft“ von 1847 Julius Rober Mayer nicht erwähnt. Dieser verrückte Heilbronner Arzt, immer wieder pendelnd zwischen Anstalt (Kaltwasserbehandlung) und Wissenschaft, hatte des Zweiten thermodynamischen Hauptsatz aufgestellt: Erhaltung der Energie. Und was Engels betrifft, so hatte dieser auch schon vor seinem „Anti-Dühring“ immer wieder versucht, die dialektisch-materialistische Geschichtsforschung auf die Natur auszudehnen, denn für ihn war die Menschheitsgeschichte Teil der Naturgeschichte. Und hier wie dort geht es um ein Verstehen der Stoffwechselprozesse.
Gleich nach der Lektüre von Darwins „Entstehung der Arten“ schrieb Marx an Engels, dass dieses Buch „die naturhistorische Grundlage unserer Ansicht enthält“. So wie es in der kapitalistischen Gesellschaft einen Grundwiderspruch zwischen der (gesellschaftlichen) Produktion und der (privaten) kapitalistischen Aneignung gibt, existiert auch in der Natur, d.h. im „Leben“, ein Grundwiderspruch: nämlich der zwischen Vererbung und Anpassung. Den einen wie den anderen Antagonismus kann man mit der Dialektik zu Leibe rücken. Aber so wie bereits Ludwig Feuerbach zu bedenken gab, unmittelbar aus der Natur sei noch nicht einmal ein Regierungsrat erklärbar (was Lenin als sehr „scharfsinnig“ bezeichnete), hat auch umgekehrt die Einführung des dialektischen und historischen Materialismus als Methode in die Naturwissenschaften bisher nur Ideologeme hervorgebracht. So erläuterte Stalin diese „Methode“ einmal am Beispiel des Werdens eines Weizenkorns, wobei er die verschiedenen Wachstumsphasen jeweils als Umschlag in eine neue Qualität begriff. Nicht der Versuch, ausgehend von Engels Schrift „Dialektik der Natur“ den dialektisch-historischen Materialismus als ewig gültige Erkenntnistheorie darzustellen, ist verwerflich, sondern dass diese idiotische Stalinsche Broschüre von den deutschen Kommunisten sogleich übersetzt und dann unter Lebensgefahr in die KZs geschmuggelt wurde, damit die Inhaftierten daran ihren analytischen Scharfsinn schärfen konnten.
Drittens aber hören wir in Anti-Darwin in letzter Zeit immer mehr: „Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie“. Auch darin werden Lebens- und Gesellschaftswissenschaften wild durcheinander geworfen. U.a. geht es um das Orchidee-Werden von Wespen und das Wespen-Werden von Orchideen, das sich eher mit einer leichtsinnig- organismischen Phantasie als mit tiefsinnig-begrifflichen Evolutionstheorien erklären läßt. Im zweiten Band „Tausend Plateaus“ greifen die Autoren Gilles und Félix Guattari diesen Gedanken – über den Gestaltwandel von „Look-Alikes“ verschiedener Arten – noch einmal auf – und radikalisieren ihn: „Das Werden ist schließlich keine Evolution, zumindest keine Evolution durch Herkunft und Abstammung. Das Werden produziert nichts durch Abstammung, jede Abstammung ist imaginär. Das Werden gehört immer zu einer anderen Ordnung als der der Abstammung. Es kommt durch Bündnisse zustande. Wenn die Evolution wirkliche Formen des Werdens umfaßt, so im weiten Bereich von Symbiosen, in dem Geschöpfe völlig unterschiedlicher Entwicklungsstufen und Tier- oder Pflanzenreiche zusammenkommen, ohne dass irgendeine Abstammung vorliegt. Es gibt einen Block des Werdens, der die Wespe und die Orchidee umfaßt, aus dem aber keine Wespen-Orchidee hervorgehen kann. Es gibt einen Block des Werdens, der die Katze und den Pavian erfaßt und bei dem ein Virus C des Bündnis herstellt. Es gibt einen Block des Werdens von jungen Wurzeln und bestimmten Mikro-Organismen, wobei die organischen Stoffe, die in den Blättern synthetisiert werden, das Bündnis herstellen (Rhizosphäre). Wenn der Neo-Evolutionismus seine Originalität unterstreichen konnte, so lag das zum Teil an solchen Phänomenen, bei denen die Evolution nicht vom weniger zum höher Differenzierten geht und nicht länger eine abstammungs- und erbschaftsmäßige Evolution ist, sondern vielmehr kommunikativ oder ansteckend wird. Wir würden diese Form der Evolution, die zwischen Heterogenen abläuft, lieber als ‚Involution‘ bezeichnen, vorausgesetzt, man verwechselt die Involution nicht mit einer Regression. Das Werden ist involutiv, die Involution ist schöpferisch.“
Auf den Begriff „Anti-Darwin“ bezogen könnte man dazu hier die Idee eines Kameruners erwähnen, der in Djang ein zweites Hotel eröffnen wollte – und zwar gegenüber dem „Hotel Windsor“. Nach kurzem Überlegen nannte er sein Hotel „Anti-Windsor“.
Die vierte Referenz schließlich würde sich nicht mehr auf die Losung selbst beziehen, sondern einen bestimmten Typ von Wissen bezeichnen: das von Foucault stammende Konzept der Gegen-Geschichte (anti-histoire, contre-histoire). Damit ist zugleich eine Frage gestellt, die unser Buch als Buch, sozusagen, fortzuschreiben versucht: Die Gegengeschichten sind nach Foucault ein Diskurs: Er postuliert die Erklärung durch das Niedere, das Untere – welches aber nicht unbedingt das Klarste und Einfachste ist. Diese Erklärung durch das Untere ist zugleich ein Erklärung durch „das Verworrenste, das Dunkelste, das Unordentlichste, das Zufälligste.“
Für Foucault steht die römisch-juridische Geschichte der Geschichtsschreibung (er nennt sie „philosophisch-juridisch“) gegen eine Geschichte und Geschichtsschreibung (er nennt sie „historisch-politisch“), die binär denkt, also Freunde und Feinde kennt, die auf die letzte große Schlacht hin denkt, auf Utopien am Ende der Zeiten und die nach Foucault letztlich im Umbau des Kampfes der Rassen in den Klassenkampf mündet.
An diesem Punkt stünde für uns auf Seiten der römischen Geschichte eben eine darwinistische Geschichte, die gegen eine andere steht. Sie läuft historisch auch oft als lamarckistische. Der Darwinismus als Diskurs ist laut Delage/Goldstein nicht weniger als die philosophisch-jurdidischen Systeme ein in sich geschlossenes Hypothesengebäude „über die Struktur der lebenden Substanz, die Ontogenese, die Vererbung, die Entwicklung der Arten“. Genauer gesagt herrscht dieses System, das absolut jeder biologischen Disziplin heutzutage zugrunde liegt, seit dem Zeitpunkt Anfang des letzten Jahrhunderts, als man Mendel wiederentdeckt und ihn mit Darwin zusammenführte. Wenn der Darwinismus dieses in sich geschlossene Hypothesen-Gebäude ist, so läßt sich der Lamarckismus viel schwerer definieren: „Die Arbeiten Lamarcks stehen uns schon allzu fern und umschließen nur die Grundzüge des heutigen Lamarckismus …“ (Delage/Goldstein). Aber was bedeutet die Nicht Geschlossenheit für den Diskurs, für ein Buch? Es heißt zunächst, daß das andere Wissen der Biologie nicht so offen in Lehrbüchern auf der Straße herumliegt….Es ist schon fast ein Geheimwissen.
3. Zwischenbemerkung:
Am Freitag den 3.März vermeldeten alle deutschen Intelligenzblätter unisono: „Schimpansen verhalten sich altruistisch!“ Was war da geschehen – oder Neues entdeckt worden?
Seit über 100 Jahren beweisen die Naturforscher nun schon, dass bei den Mikroorganismen ebenso wie bei den Pflanzen, Tieren und Pilzen die Kooperation und Assoziation, die Gemeinschafts- und Koloniebildung…eine überaus wichtige Rolle spielen. Zur selben Zeit wie der russische Anarchist Peter Kropotkin seine wunderbare Sibirienforschungen und zugleich Geschichtsbetrachtung über „Die gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt“ veröffentlichte (in dem er bereits vorhersagte, dass man das Prinzip der „Mutual Aid“ mit fortschreitender Mikrokopietechnik sogar unter den Bakterien finden werde), formulierten die russischen Botaniker – u.a. Mereschkowsky, Famintsyn und Kozo-Polansky – bereits eine erste „Symbiosetheorie“: Danach bestehen chlorophyllproduzierende Pflanzenzellen aus mehreren Einzellern, die sich zusammengetan haben, Flechten sind nichts anderes als eine Kooperation aus Algen und Pilzen usw.. Inzwischen gehört die daraus hervorgegangene „serielle Endosymbiontentheorie“ der US-Zellforscherin Lynn Margulis längst zum Lehrkanon – und fast täglich wird irgendwo eine weitere oder sogar ganz frische Symbiose irgendwo in der „freien Natur“ entdeckt. Selbst bei unseren männlichen Samenzellen haben sich wahrscheinlich einst zwei Organismen zusammengetan – um gemeinsam schneller ans Ziel zu kommen.
Bereits in den Siebziger- und Achtzigerjahren war das westdeutsche Wissenschaftsmagazin „Spektrum“ voll von solchen „Symbiose“-Entdeckungen. Und in der DDR war diese Theorie aufgrund ihrer Orientierung an der sowjetischen Forschung sowieso immer präsent gewesen. Diese (Be)funde überraschten höchstens die konventionell-darwinistische Molekularbiologie selbst (vor allem im Westen), denn Darwins „bittere Ironie“, wie Marx das nannte, hatte ja gerade darin bestanden, dass er die asozialen Verkehrsformen der englischen Geschäftswelt auf die gesamte Natur und ihre Geschichte projizierte (Jeder gegen jeden). Man könnte es das „Down“-Syndrom nennen – nach Darwins Domizil. Die davon ausgehende genetische Forschung bewies dann aber – quasi gegen ihren Willen – immer zwingender das Gegenteil: Ohne Sozialismus läuft schier gar nichts unter den Lebewesen – und das weit über die Artgrenzen hinaus; also keine evolutionäre Entwicklung ohne Solidarität und Kollektivität. Nicht wenige Forscher halten inzwischen auch die Körperorgane für Reste einer Symbiose zwischen einst freien Mikroorganismen – wobei der eine sich vom anderen „vereinnahmen“ oder „verstaatlichen“ bzw. „versklaven“ ließ und dabei seine Autonomie verlor – zugunsten einer größeren Nahrungssicherheit. Ja, die ganze Erde mitsamt ihrer Atmosphäre wird bereits als ein zusammenhängender Organismus begriffen: in der so genannten „Gaia-Hypothese“, die auf die ebenfalls über 100 Jahre alte Biosphärentheorie des russischen Wissenschaftlers Wernadsky zurückgeht. Die französischen Marxisten Gilles Deleuze und Félix Guattari machten daraus zuletzt in ihrer „Schizo-Analyse“ ein revolutionäres Werden „organloser Körper“, die sich nomadisierenderweise immer wieder anders zusammenraufen – das geht bis hin zur Mimikry auf Gegenseitigkeit.
Jetzt ist die Theorie (in den unterschiedlichsten Abschwächungen und Überspitzungen) fast schon der neueste Schrei der Molekularbiologen, wobei sie weiterhin in ihren „Labs“ nach den „Logarithmen des Lebendigen“ fahnden. Den altmodischen Erforschern des Lebens war es dagegen schon immer um „Das soziale Leben“ (in Heuschrecken- und Heringsschwärmen, Bienen- und Termitenstaaten, in Brut- und Jagdgemeinschaften, Herden und Meuten, Familien und Gruppen Gleichaltriger) gegangen. Der Kieler Meeresbiologe Adolf Remane begann sein 1960 veröffentlichtes Buch über den damaligen Stand dieser Biosoziologie mit dem Eingeständnis, dass „das soziale Zusammenleben den Menschen große Schwierigkeiten bereitet“. Die Tiere haben also anscheinend sogar weniger Probleme damit! Das war auch schon dem „ersten Naturwissenschaftler“ Aristoteles (vor 2300 Jahren) aufgefallen. Als Beweis hatte er u.a. die vielen „Reisegruppen“ erwähnt, in der man sich wegen jeder Kleinigkeit streitet. In Summa ergab dieser doppelte Zugriff der Biologen, Zell- wie Verhaltensforscher, auf den „Altruismus“ ein schönes Gegengewicht zur deduktionistischen Evolutionstheorie und zur neoliberalen Ideologie, in der eher die Asozialität betont wurde – und wird.
So berichtete z.B. gerade die Studentin Jana aus einem Betriebswirtschafts-Seminar an der Viadrina in Frankfurt/Oder: „Neulich sagte der Professor zu uns: ‚Wenn ich andern Gutes tue, tu ich mir selbst nichts Gutes…‘ Und das haben alle brav mitgeschrieben!“ Wollten die Intelligenzblätter da am letzten Freitag synchron (nicht koordiniert!) gegensteuern – mit ihrem Affen-Altruismus als schwachen Begriff. Fast in jedem Artikel wurde nämlich von der Schimpansenforschung des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie (EVA) im Leipziger Zoo auf ein, zwei, drei Beispiele brav-bürgerschaftlichen Engagements in unserem Alltag geschlossen – oder auch umgekehrt. Dem linksliberalen Feuilleton ist das langsame Fading-Away „Des sozialen Lebens der Menschen“ wohl auch unheimlich geworden, dachte ich zuerst. Bis ich einen der Artikel gründlich las: So selbstlos sind sie dann doch nicht! Die Schimpansen – ebenso wie Menschen – scheinen sogar eine natürliche Abneigung gegenüber dem Altruismus – als starken Begriff – zu haben, und rotten sich insofern auch wohl nicht so leicht gegen die da oben zusammen. Aber bei einfachen kleinen „Erste Hilfe“-Aktionen kooperieren sie schon mal gerne!
Diese allseits beruhigende „Meldung“ aus dem bereits seit Jahrzehnten mit Schimpansen forschenden Leipziger „Thinktank“ der Wissenschaftler und Tierpfleger wäre nie so in so viele, schier selbstgleichgeschaltete Feuilletons gelangt, wenn sie nicht zuvor das US-Magazin „Sciene“ veröffentlicht hätte. Die Leipziger hatten es damit geschafft: bis in das renommierteste Wissenschaftsorgan der Welt rein zu kommen! Das war die Botschaft, der Tenor vielleicht von ganz Leipzig, dessen naturwissenschaftliche Abteilung neuerdings als „Bio-City“ firmiert. Gleichzeitig drängt die Max-Planck-Gesellschaft in toto ihre Mitarbeiter, immer mehr auf Amerikanisch zu veröffentlichen.
Diesem angewandten Sozialdarwinismus gegenüber fiel es keinem einzigen Feuilletonisten (als Comrad in Crime) ein, den wiederentdeckten „Leipziger Altruismus“ beispielsweise mit dem berühmten Jerusalemer Ornithologen Amoz Zahavi als „Handicap“ abzutun. Dessen Überlegungen anhand von Beobachtungen wilder Vögeln (und nicht an zahmen, dazu noch verwaisten Schimpansen) veröffentlichte bereits die von der schrecklichen Neokontrulla Birgit Breuel geleitete „Expo 2000“ in Hannover – im Kontext eines Katalogs über „Hyperorganismen“. Zahavis Text fungierte darin als eine Art radikale Gegenposition zu einem Beitrag von Margulis, die ihr Forschungsmodell „Symbiose“ über fast alles Lebendige stülpt – wobei sie folgerichtig auch laufend neue Individuen unterschiedlicher Arten entdeckt, die sich zusammengetan haben. Zahavi, der sich insbesondere mit der „Hilfe beim Nestbau und beim Füttern von Lärmdrosseln“ beschäftigte, sowie auch mit dem „angeblichen Altruismus von Schleimpilzen“, hat dabei zwar nichts Neues entdeckt, aber er interpretiert diese fast klassischen Fälle von Kooperation nun einfach in „ein selbstsüchtiges Verhalten“ um, das er dann mit Darwinscher BWL-Logik durchdekliniert: „die Individuen wetteifern untereinander darum, in die Gruppeninteressen zu investieren…Ranghöhere halten rangniedere Tiere oft davon ab, der Gruppe zu helfen.“ Es ist von „Werbung“, „Qualität des Investors“ und „Motivationen“ die Rede. Zuletzt führt Zahavi das Helfenwollen quasi mikronietzscheanisch auf ein egoistisches Gen zurück, indem die „individuelle Selektion“ eben „Einmischung und Wettstreit um Gelegenheiten zum Helfen“ begünstige – der „Selektionsmechanismus“ aber ansonsten erhalten bleibe. Na, dann ist ja alles in Ordnung! Aber ob man damit den Neodarwinismus retten kann? Interessant fand ich jedoch die dabei von ihm erwähnte Beobachtung an Pinguinen, bei denen sich manchmal alleingelassene Jungvögel vor ihren vielen männlichen Helfern, die sie partout wärmen und beschützen wollen, geradezu fluchtartig in Sicherheit bringen müssen, um nicht von ihnen erdrückt zu werden…
Aber das wußten wir auch schon lange: dass unsere ganzen Helfer – Sozialarbeiter, NGOs und Hilfsvereine – sich zumeist von niedrigen Motiven leiten lassen. Wobei bisher kein vernünftiger Mensch daran gedacht hat, diese ausgerechnet bei „niedrigeren Arten“ dingfest zu machen – im Gegenteil: Je höher die Enwicklung der Natur, desto weniger Kultur! Auch dazu hat die neuere Zellforschung Erhellendes beigesteuert: Die Bakterien z.B. hatten 3,5 Milliarden Jahre mehr Zeit als wir, aus ihrer Biomasse erst einen Biofilm und schließlich ein stabiles Soziotop zu machen. Manche Biologen meinen sogar, dass wir – die Säugetiere – unsere ganze Existenz bloß ihnen zu verdanken haben: Damit sie – die Bakterien – immer ein ausreichendes Nährmedium zur Verfügung haben. – Und das kann man nun wirklich „Intelligent Design“ nennen.
4. Demgegenüber steht der „Unintelligent Design“:
In der Jungen Welt findet sich dazu heute ein Interview mit Alexander W. Busgalin über die Ursachen für den Zusammenbruch der Sowjetunion in Rußland nach 1990 und den Charakter der heutigen russischen Gesellschaft. Busgalin ist Professor für Politikwissenschaften an der Moskauer Staatlichen Universität und Chefredakteur des Internet-Jorunals „alternativy.ru“. In dem Interview führt er aus:
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde ein spezifischer Organismus geboren – der Stalinsche »Realsozialismus« oder, wie ich zeige, der »mutierte Sozialismus« –, der sich hinreichend gut an die Widersprüche Epoche anpaßte: die Spätzeit der Industrialisierung, der imperialistischen Konfrontationen und der Weltkriege. Er zeigte sich jedoch in der Form, die er ab Mitte der 1950er Jahre annahm – er blieb der Sache nach nach stalinistisch –, absolut unfähig, angemessen auf die Herausforderungen der Globalisierung und der Informationsrevolution zu reagieren.
Betrachten wir das einmal näher. Zu den Gründen für das Entstehen eines spezifischen ökonomisch-gesellschaftlichen Gebildes in unserem Land würde ich ein Phänomen zählen, das ich die »Falle des 20. Jahrhunderts« nenne. Worin besteht deren Wesen? Einerseits kollidierte die Welt zu Beginn des vorigen Jahrhunderts nach dem Ersten Weltkrieg mit der einsetzenden antikolonialen Bewegung im Osten und mit der Notwendigkeit der Schaffung einer neuen Ordnung angesichts der quälenden Widersprüche des Imperialismus im Westen. Hier sei nur an den Kampf um den Acht-Stunden-Arbeitstag, um die Gründung freier Gewerkschaften und um ein Minimum an sozialer Sicherheit erinnert, also an Dinge, die für uns heute ein Attribut des Kapitalismus sind.
In diesem Sinn hatte Lenin völlig recht, als er das Buch »Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus« schrieb und vom Vorabend der Revolution sprach. Zur Lösung der zu Beginn des 20.Jahrhunderts entstandenen harten Widersprüche war eine sozialistische Revolution nötig. In diesem Sinn ist es kein Zufall, daß es nicht nur in Rußland, sondern auch in Ungarn, in Deutschland und im Osten gewaltige antiimperialistische Bewegungen und Revolutionen gab. Kein Zufall war auch der gewaltige Widerhall, den die sozialistische Revolution in Rußland in der Welt fand. Das läßt sich damit erklären, daß diese Eruption und ihre Auswirkungen den Wünschen der Menschen und ihren Bedürfnissen entsprachen. Ich möchte hier an jene klassischen Voraussetzungen der sozialistischen Revolution erinnern, die damals nicht nur von Lenin, sondern auch von Rosa Luxemburg und vielen anderen marxistischen Wissenschaftlern in ihren Arbeiten angemerkt wurden: die Vergesellschaftung der Produktion auf höchstem Niveau, die Konzentration des Kapitals, die Widersprüche des parasitären Finanzkapitals, das aggressive Wesen des Imperialismus, der den Ersten Weltkrieg und ein Reihe lokaler Kriege hervorbrachte, die gewaltige koloniale Unterdrückung.
Ich habe diese Voraussetzungen aufgezählt, weil ich es interessant finde, die damalige Situation mit der heutigen zu vergleichen. In der Spirale der Negation der Negation sind wir, durch die sozial-demokratische Periode in der Mitte des 20.Jahrhunderts hindurch, erneut in ein Stadium gelangt, welches dem oben geschilderten Zustand sehr ähnelt, aber ein qualitativ neues Niveau aufweist. Unser Jahrhundert ist gekennzeichnet durch das Entstehen eines neuen Proto-Imperiums des globalisierten Kapitals. Wir werden Zeugen des Beginns einer neuen Art von Rekolonialisierung der Welt. Dabei wird auch direkte, unverhüllte Gewalt angewandt wie in Jugoslawien, Afghanistan und im Irak. Doch das ist nur die eine Seite der Medaille der Notwendigkeit der Entstehung einer neuen Gesellschaft.
Andererseits bestand die »Falle des 20. Jahrhunderts« darin, daß zu Beginn des letzten Jahrhunderts die Voraussetzungen für eine qualitativ neue Gesellschaft weltweit kaum vorhanden waren, auch in Rußland nicht. Dabei bitte ich zu beachten, daß ich hier nicht nur von den materiellen Voraussetzungen, wie dem Niveau der Industrialisierung, dem Anteil der Arbeiterklasse an der Gesamtbevölkerung usw., sondern auch von anderen, gewöhnlich kaum beachteten Phänomenen spreche. Was die Stärke der Arbeiterklasse betrifft: Im rußländischen Imperium waren mehr als 80 Prozent der Bevölkerung mit agrarischer Handarbeit beschäftigt. Die meisten waren Analphabeten und Halbsklaven in einem militär-feudalen Regime.
So hat die Erfahrung der UdSSR besonders deutlich, wenngleich im negativen Sinn, gezeigt, daß eine neue Gesellschaft nur von den Leuten selbst und nur von unten geschaffen werden kann. Sie von oben, auf bürokratischem Weg zu errichten, ist völlig unmöglich. Die Schaffung neuer gesellschaftlicher Verhältnisse – und nicht nur neuer Städte und Fabriken – durch die Menschen selbst und nur von unten, das nenne ich, in der Tradition der marxistischen Wissenschaftler, gemeinsames oder assoziiertes soziales Schöpfertum. Für solch eine assoziierte, gemeinsame Schöpfung neuer gesellschaftlicher Verhältnisse und gesellschaftlicher Formen benötigt man aber die Erfahrungen des kollektiven, organisierten Kampfes der Werktätigen und ein hohes kulturelles Niveau.
Im Ergebnis entstand objektiv die Jahrhundertfalle: Die Notwendigkeit einer neuen Gesellschaft trat mit Gewalt hervor, während die Möglichkeit der Errichtung der freien kommunistischen Gesellschaft von unten, wenn es sie denn überhaupt gegeben hat, verschwindend gering war.
Nichtsdestotrotz haben die revolutionären Entladungen 1917 in Rußland und die folgenden Revolutionen in Ungarn und in Deutschland sowie die Befreiungsbewegung im Osten eine so ungeheure, von unten kommende soziale Energie freigesetzt, so daß wir uns in deren Gefolge, infolge der Sogwirkung dieser sozialen Eruptionen, relativ lange auf einer sozialistischen Bahn bewegten. Das Paradoxe an dieser mächtigen sozialen Energie war, daß halbgebildete Menschen, die über keinerlei Erfahrungen eines Lebens in einer Zivilgesellschaft verfügten, aus sich selbst heraus und von unten die Sowjets, die Organe der Arbeiterkontrolle, die Kommunen, neue Formen der gesellschaftlichen Organisation der Armee, bis dahin ungekannte kulturelle, sportliche und gesellschaftliche Initiativen schufen. Die Revolution zerschlug jene Barrieren und Eingrenzungen, die die menschlichen Talente hemmten. Sie legte bloß, daß unter den Soldaten und Bauern, unter den Arbeitern und in der einfachen Intelligenz eine bislang nicht für möglich gehaltene Anzahl von Talenten schlummerte, die dem Vergleich mit den größten Denkern der Menschheit standhielt. Ich betone noch einmal: Für ein wirkliches Massenschöpfertum von unten gab es nicht genügend Voraussetzungen. Von Anfang an verlief dieses soziale Schöpfertum, die Schaffung einer neuen Gesellschaft von unten parallel zur Entwicklung des bürokratischen Staat-Partei-Systems, aus welchem schließlich die Nomenklatura hervorging.
Im Ergebnis der Revolution mußte unser Land zwei Aufgabenblöcke lösen. Erstens jener, von dem auch beständig gesprochen wurde. Das waren die Beschleunigung der Industrieentwicklung, die Erneuerung der Landwirtschaft, die Schaffung neuer Technologien, die Elektrifizierung, die Entwicklung der zentralen Planung und die Nationalisierung. Das ist eine Seite. Dabei war es möglich und notwendig, nicht nur neue, sondern auch zeitgenössische moderne bürgerliche Formen zu nutzen. Das begann mit großen Körperschaften und Finanzinstituten und führte bis hin zu verschiedenen Formen des privaten Kleinhandels und -gewerbes.
Es gab jedoch einen zweiten Aufgabenblock, der wesentlich weniger im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand. Während beim obigen Komplex die Frage »Wer–Wen?« für den Bereich der Auseinandersetzung zwischen Staatssektor und Privatwirtschaft stand, ging es beim zweiten Komplex in der Frage »Wer–Wen?« um etwas ganz anderes. Das Kampfgebiet war hier die Sphäre des sozialen Schöpfertums. Hier ging es darum, wer für wen die neue Gesellschaft gestaltete. Erfolgte dies von unten durch die Werktätigen selbst oder durch den sich entwickelnden Überbau aus Staat, Bürokratie und Partei, die künftige Nomenklatur, die ihren Rückhalt im Konformismus der Massen und deren Kleinbürgertum fand? Während im ersten Komplex der staatliche Sektor, der sich rasch in einen staatsbürokratischen wandelte, den bourgeoisen besiegte, errang im zweiten die Nomenklatura, die staatsbürokratische Macht, den Sieg über die soziale Schöpferkraft der Werktätigen. Dieser Erfolg war jedoch nicht endgültig und erwies sich schließlich als Pyrrhussieg. Der Nomenklatura, die wie ein Krebsgeschwür die soziale Schöpferkraft des Volkes zerstörte, ging es wie dem Krebs. Wenn er den Körper, den er befällt, zerstört hat, dann stirbt er selbst. An einer Leiche kann man nicht mehr schmarotzen.
Das sind die Gründe, warum in der UdSSR im Ergebnis der nicht aufgehobenen Widersprüche dieser »Falle des 20. Jahrhunderts« ein System mit einem gewaltigen inneren Potential der Degeneration und Zerstörung entstand. Hier wirkten vor allem die Widersprüche zwischen dem stets vorhandenen sozialen Schöpfertum auf der einen Seite und der ständig wachsenden, mächtigen und sich selbst genügenden Staats-Partei-Nomenklatur auf der anderen Seite.
5. Zur selben Zeit passierte in Deutschland Folgendes:
Während Friedrich Ebert infolge der Novemberrevolution Reichskanzler wurde, würgte Gustav Noske in Kiel bereits als verräterischer Sprecher der revolutionären Matrosen den Initialaufstand ab. Wenig später ließen die beiden schon die überall in Deutschland revoltierenden Arbeiter von ultrarechten Freikorpssöldnern zu hunderten erschießen. Die SPD verhielt sich – einmal an die Macht gekommen – genauso wie zur selben Zeit die Bolschewiki in Russland, mit dem kleinen aber feinen Unterschied, dass die „Freikorps“ der letzteren rote Partisaneneinheiten waren, während die von diesen Ermordeten sich Nationalisten, Weiße und ausländische Interventionstruppen nannten. Zu Recht wurde deswegen die SPD, nachdem „ihre“ Freikorps sich zu SA und SS umformatiert hatten, als Sozialfaschisten beschimpft. Ebert und Noske haben der NSDAP direkt den Weg gewiesen. Als miese faschistische Kleinbürger, denen die Generäle, die adligen Offiziere und die rechten Unternehmer näher standen als die Arbeitermassen – weil sie zu dieser kurz vorher noch herrschenden Schicht dazugehören wollten. Wir kennen dieses Phänomen noch heute – vielleicht sogar noch häufiger als damals: Fast täglich verrät ein führender Sozialdemokrat und/oder Gewerkschafter seine „Basis“, die ihn als ihren Interessensvertreter gewählt hat. Für Helmut Schmidt war Noske ein vorbildlicher Sozialdemokrat. Das meinte diese Drecksau allen Ernstes! Man lese dazu noch einmal Sebastian Haffners so außerordentlich kluges Buch über den „Verrat“ der Sozialdemokratie 1918-1920, während die „Massen“ ein wirkliche Revolution vollbrachten, die die Sozis mehrmals blutig niederschlugen. Haffner zitiert in seinem Buch abschließend den Sozialdemokratischen Historiker Franz Mehring, der an gebrochenem Herzen starb, er meinte 1919 über Ebert/Noske: „Tiefer ist noch keine Regierung gesunken“. Ähnlich äußerte sich kurz zuvor der von Noskes Schergen 1919 in München ermordete Anarchokommunist Gustav Landauer:
„In der ganzen Naturgeschichte kenne ich kein ekelhafteres Lebewesen als die sozialdemokratische Partei.“
Vor einiger Zeit leisteten sich die Sozis wieder mal etwas derart Saudämliches, dass es einigen Sozialforschern zu viel wurde:
Mit dem Begriff der „Unterschicht“, schreiben die Autoren einer Aufsatzsammlung über die „‚Armen‘ in Geschichte und Gegenwart“, sind wir „auf durchaus kuriose Weise an den Anfang der organisierten Sozialforschung zurückgekehrt.“ Mit dem Unterschied, dass man damit – am Ende des 19. Jahrhunderts – ein „strukturelles Problem“ thematisierte, während man heute – in der Diskussion über die Ende 2006 veröffentlichte Studie „Gesellschaft im Reformprozess“ der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung – eher Einzelne – „sozial Schwache“ – im Visier hat: „Menschen, die es schwer haben“, wie SPD-Arbeitsminister Franz Müntefering erklärte, denn „es gibt keine Schichten in Deutschland“ mehr. Wieso sagte er so einen Quatsch – just da wieder von „Klassenspaltung“ die Rede ist und ein allgemeiner „Linksruck“ sich bemerkbar macht?
Bereits ab den Fünfzigerjahren versuchte die bürgerliche Sozialforschung mit ihrem „Schichtenmodell“ dem marxistischen Klassenbegriff und damit dem Klassenkampf entgegenzuwirken. Während man in der Arbeiterbewegung von einer „Kluft ohne Brücke“ (zwischen Arbeit und Kapital) ausging – und sich deswegen u.a. eigene (Schulungs-) Institutionen schuf, sprach man in der Soziologie von Aufstiegschancen, die es zu verbessern und von „Bildungsferne“, die es zu beheben galt. Tatsächlich wurden dann mit der SPD-Regierungsbeteiligung ab 1971 massenhaft Jungarbeiter, Kindergärtnerinnen und Krankenschwestern über das „Begabtenabitur“ und den „Zweiten Bildungsweg“ an die Universitäten gebracht und gleichzeitig ein Dutzend neue „Reformunis“ gegründet, in denen sich auch noch die marxistischen Rädelsführer aus der Studentenbewegung als Professoren reintegrierten.
Aber nun, nach dem Ende des Kommunismus, geht es wieder genau andersherum: um Elitenbildung, Trickle-down-Effekte und individuelle Fähigkeiten. „Konsequenterweise sieht das aktuelle sozialpolitische Programm auch ausschließlich die Bekämpfung der Muster der Lebensführung (Alkohol, Nikotin, Fast Food, Unterschichtfernsehen usw.) vor, nicht aber die Veränderung der strukturellen Rahmenbedingungen,“ schreibt der Mitherausgeber des Aufsatzbandes über die „Unterschicht“, Rolf Lindner, Professor für Europäische Ethnologie an der Humboldt-Universität. Dieses „Programm“ soll, ähnlich wie seinerzeit der soziologische Ziel-Begriff einer „nivellierten Mittelschichtgesellschaft“, der aktuellen „Wiederkehr der Klassengesellschaft“ entgegenwirken.
Laut Ebert-Studie kann man inzwischen 4% der westdeutschen und 25% der ostdeutschen Bevölkerung (objektiv) zum „abgehängten Prekariat“ zählen. Annähernd doppelt so viele begreifen sich jedoch (subjektiv) als „Verlierer der gesellschaftlichen Entwicklung“ und „gesellschaftlich ins Abseits geschoben“. Von dieser „sozialen Selbsteinschätzung“, die Pierre Bourdieu als „vergessene Dimension des Klassenkampfes“ bezeichnet hat, handelt der Beitrag des Wiener Soziologen Sighard Neckel. Den Anfang ihrer Erforschung machten westdeutsche Soziologen Ende der Fünfzigerjahre mit einer Studie zum „Gesellschaftsbild des Arbeiters“ – in der alle befragten Arbeiter „die Gesellschaft als Dichotomie“ (gespalten) begriffen, allerdings ohne dabei ein Gefühl „eigener Machtlosigkeit“ zu haben. Im Gegenteil war ihr „Leistungsbewußtsein“ derart ausgeprägt, dass sie eher „die da oben“ – Angestellte und Unternehmer – als graduell unnütz, mindestens unzulässig privilegiert begriffen. Für die Soziologen wurde diese „Vorstellung eines kollektiven Lebensschicksals“ noch dadurch begünstigt, dass damals in der „Arbeiterschaft realistische Chancen für berufliche Mobilität und sozialen Aufstieg weitgehend fehlten“. Das änderte sich mit anhaltender Wirtschaftskonjunktur, den „Gastarbeitern“ und der sozialdemokratischen Bildungsreform. Im Endeffekt zählten sich bis in die Achtzigerjahre „immer größere Gruppen der westdeutschen Bevölkerung – mit Werten bis zu über 60%“ – zur Mittelschicht. Diese „symbolische Flucht aus der Arbeiterschaft“ endete jedoch laut Neckel mit dem wiedervereinigten Deutschland „im Verlauf der 1990er Jahre“ (man spricht bereits von einer „Refeudalisierung“ der gesellschaftlichen Verhältnisse). „An die Stelle der Zurechnung von Leistungen treten zunehmend fatalistische Deutungsmuster.“ Und „aus dem kollektiven Empfinden gesellschaftlicher Benachteiligung ist eine gefühlte Abwertung geworden, welche die Individuen hauptsächlich für sich allein zu bewältigen haben.“ Die Autoren des Unterschicht-Bandes analysieren weniger die ökonomischen als die sozio-kulturellen Veränderungen: Früher mußte die Stadt die vom Land Vertriebenen integrieren, d.h. die Arbeiterfrage lösen. Aus Arbeiter wurden dann Arbeitnehmer, meint der Berliner Sozialwissenschaftler Martin Kronauer. Dabei lösen sich die Arbeiterviertel und -milieus langsam auf. Mit dem Übergang von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft gerät die „‚Integrationsmaschine Stadt'“ vollends „ins Stocken“. Kronauer bemerkt dabei eine Heterogenisierung – hervorgerufen u.a. durch „gegenläufige Bewegungen von Aufstiegs- und Abstiegsmobilität innerhalb der einheimischen Arbeiterschaft und dem Zuzug von Migranten.“ Statt in sozialen Kämpfen und kollektiver Selbstorganisation bearbeitet nun eine Vielfalt sozialstaatlicher Institutionen die „individualisierte Klientel der Armen und Arbeitslosen“. Aber „sie droht leer zu laufen“, zur bloßen „Verwaltung von Randständigkeit und Exklusion zu werden, statt diese aufzubrechen und zu überwinden.“ Kronauer spricht hierbei von einer „neuen Qualität der Exklusion“, denn diese muß nun „als Ausgrenzung in der Gesellschaft verstanden werden.“ Ausgangspunkt und Grundlage“ dafür ist jedoch nicht mehr die Stadt, „sondern die verstädterte Gesellschaft im nationalen und zunehmend transnationalen Maßstab.“ Zudem ist die „Ausgrenzungserfahrung“ inzwischen eine „radikal individualisierte Erfahrung. In einer Gesellschaft, die mehr denn je ihren Klassencharakter dementiert und der individuellen Entfaltung freie Bahn zu geben verspricht, diese aber auch verlangt, ist es den daran Scheiternden auch noch versagt, jemandem oder etwas anderem eine Schuld zuzuweisen als sich selbst.“ Das Ergebnis ist Ohnmacht und Resignation oder wütende Rebellion. Kronauer zitiert dazu abschließend Abdel Khader, einen „gewaltbereiten Jugendlichen“ aus den französischen Banlieues, der ihre Revolte auf einer Tagung des Centre Marc Bloch und der Bauhaus-Universität Weimar über „Urbane Gewalt und Jugendproteste“ wie folgt erklärte: „Die Revolution war die einzige Möglichkeit, sich bemerkbar zu machen. Wir hatten Dinge zu sagen, aber wir wußten nicht, wem.“
In weiteren Aufätzen beschäftigt sich der Bourdieu-Schüler Loic Wacquant mit der „Verelendung des Ghettos“, die mit der „Zerstörung der Industriearbeit in Gang gesetzt“ wurde. Der Wiener Kulturwissenschaftler und Mitherausgeber der Aufsatzsammlung Lutz Musner fragt in seinem Beitrag „Leben jenseits der Arbeitsgesellschaft“, warum die „Wende zum Schlechteren“ nicht „politisch bekämpft“ wird – und macht dafür u.a. „die Krise der SPD und der Gewerkschaften“ verantwortlich sowie den „Massenindividualismus, der das Individuum nicht mehr über gewachsene kulturelle Zugehörigkeiten definiert, sondern über die Teilnahme an einem kollektiven Konsum- und Warenangebot.“ Dieses ist ebenfalls kurz davor, sich zu dichotomisieren: teure, geschmackvolle Lebensmittel im Bio-Supermarkt für die einen und billiger, lebensmitteltechnischer „Junk-Food“ bei Lidl und Penny für die anderen. Schon hat erstmalig in der Geschichte die Anzahl der zu viel und zu schlecht essenden „Übergewichtigen“ die Zahl der zu wenig essenden „Hungerleidenden“ auf der Erde übertroffen. Noch mal gefragt: Was tun?
„Unterschicht – Kulturwissenschaftliche Erkundungen der ‚Armen‘ in Geschichte und Gegenwart“, herausgegeben von Rolf Lindner und Lutz Musner, Rombach Verlag, Freiburg 2008
6. „Die gefährlichen Klassen“ (Friedrich Ebert über Arbeiter und Bauern. Allein dass die SPD eine Friedrich-Ebert- und keine August-Bebel-Gesellschaft hat, zeugt von völliger Machtverrohung und -verkommenheit)
„Pöbel oben, Pöbel unten!“ (F.Nietzsche)
Die Anti-Hartz-IV-Aktivisten der Gruppe „Anders Arbeiten“ veranstalteten am 19.April eine Diskussion über die „Marginalisierten – Am Rande der Gesellschaft“. U.a. berichtete dort der Kreuzberger Pfarrer Peter Storck über seine Erfahrungen mit Obdachlosen, die er für „relativ überlebensfähig und sehr eigensinnig“ hält – und deswegen als „Avantgarde“ begreift (ähnlich schätzte ich in der JW am 19. April die „Zigeuner“ ein). In den Zwanzigerjahren ließ sich Gregor Gog bei seiner Organisationsarbeit unter „Landstreichern“ ebenfalls von solchen Überlegungen leiten. Und noch in den Achtzigerjahren gab es in Italien eine Art Netzwerk von jungen Obdachlosen, die sich stolz „streunende Hunde“ (cani scolti) nannten. In bezug auf die Hartz-IV-Betroffenen gab eine Diskussionsteilnehmerin aus einer Friedrichshainer Arbeitsloseninitiative jedoch zu bedenken: „Wir stellen uns die Erwerbslosen immer zu homogen vor. Alle gehen anders mit ihrer Arbeitslosigkeit um. Man kann sie nicht einfach mobilisieren.“ Die darauffolgende Diskussion kreiste dann leider allzu theoretisch um den Begriff der „Überflüssigen“, es sei deswegen hier noch einmal historisch etwas ausgeholt…
In seiner „Geschichte des Abfalls der Niederlande“ besang Friedrich Schiller 1788 den Aufstand der Geusen, „wo die Hülfsmittel entschlossener Verzweiflung über die furchtbaren Künste der Tyrannei in ungleichem Wettkampf siegten“. Dass dabei von den bilderstürmerischen Unterschichten auch viele gutes, d.h. teures Porzellan zerschlagen wurde, verzieh er dem „Pöbel“ – der „vile multitude“ – jedoch nicht. Ähnlich schillernd äußerte sich dann auch Marx über das „Lumpenproletariat“ – und seine zwielichtige Rolle in der Arbeiterbewegung. Dessen Hang zur Käuflichkeit und Verräterei wird von ihm jedoch nurmehr am Rande vermerkt. Ausführlicher haben sich später die Bolschewiki mit diesem „Rand“ beschäftigt: Das Subproletariat ( die Kriminellen, Tagelöhner und Obdachlosen) galt ihnen als „klassennahe“, wohingegen sie die Intelligenz als zwielichtig-schwankende Zwischenschicht begriffen. Alexander Solschenizyn, der, wie viele andere Gulag-Häftlinge, unter den Kriminellen litt, die mit den Bewachern fast eine Art Doppelherrschaft in den Lagern ausübten, hat ihre „romantische Haltung“ gegenüber den asozialen Verbrechern scharf kritisiert, sie jedoch als alte russische Verblendung begriffen, die bereits mit Puschkin begann. Auch in England beschäftigte man sich lange Zeit mit diesem „Mob“ (mobile people) – jedoch nicht aus romantischen Gründen, sondern aus lauter Angst des Bürgertums vor den „gefährlichen Klassen“, deren Wohngebiete als Brutstätten von Hass, Gewalt, Alkoholsucht und Seuchen galten.
In den USA entstand aus dieser Sozialhygieneforschung eine Art Aktionssoziologie, berühmt wurde dabei die Chicagoer Schule von Robert E. Parks, deren Forschungsansätze später von Pierre Bourdieu aufgegriffen wurden sowie von den „Europäischen Ethnologen“ an der Humboldt-Universität um Rolf Lindner, der darüber zuletzt das Buch „Walks on the Wild Side“ veröffentlichte. Auch politisch wurden in Amerika die „Randgruppen“ aufgewertet – u.a. von Herbert Marcuse: Die Arbeiterklasse war nach ihm reformistisch integriert und deswegen vielleicht nur noch die prekär beschäftigen und diskriminierten Farbigen zur Rebellion fähig. Die daraus folgende „Randgruppenstrategie“ machte sich die westdeutsche Studentenbewegung zu eigen, d.h. man kümmerte sich vermehrt um Knackis, desertierte schwarze GIs, Drogenabhängige und vor allem Trebegänger (entflohene Heimjugendliche), die in den vernetzten Kommunen und WGs Unterstützung und Unterkunft fanden, wobei sich die beiden „Scenen“ trotz Rückschlägen (u.a. Diebstähle) langsam vermischten, weil gleichzeitig auch immer mehr mittelschichtige Linke in den Knast kamen, von Drogen abhängig oder Landstreicher auf Zeit wurden.
Erst begriff man alles Private als politisch, dann wurde auch neobolschewistisch der Unterschied zwischen kriminell und politisch verwischt, wobei man Verbrechen zum Zwecke der individuellen Bereicherung und des sozialen Aufstiegs solchen gegenüberstellte, die aus guten moralischen und politischen Gründen verübt wurden. Zu letzteren zählten Raubdrucke, Ladendiebstähle und die Ohrfeige, die Beate Klarsfeld dem Altnazi Kiesinger verabreichte, ebenso wie die Ermordung des Arbeitgeberpräsidenten Schleyer durch die RAF oder die Briefbomben des UNA-Bombers Theodore Kaczynski in Amerika. Dennoch wurde immer wieder zur Vorsicht im Umgang mit subproletarischen Sympathisanten geraten, denn Polizei und Staatsschutz rekrutierten ihre V-Leute und Provokateure ebenfalls aus diesem „Rand“, woran neuerdings noch einmal in dem Buch „Spitzel“ von Markus Mohr und Klaus Viehmann erinnert wird. Sie beschäftigten aber auch schon die russischen Sozialrevolutionäre ab Mitte des 19. Jahrhunderts. So hielt die berühmte Ex-Terroristin Vera Sassulitsch z.B. einen Vortrag über den umstrittenen Mörder und Verschwörer Netschajew, den sie – ähnlich wie heute Andreas Baader – ob seiner amoralischen Rigorosität als nicht zu ihnen gehörig begriff. Besonders drängend wurde das „Verräter“-Problem unter den antifaschistischen Widerstandskämpfern im Zweiten Weltkrieg. So berichtet z.B. Hans-Peter Klausch in seinem Buch über die Bewährungsbataillone „Die 999er“ von vielen Fällen, da eine Gruppe, meistens Kommunisten, die zum Feind überlaufen wollte, von Kriminellen verraten wurde, was jedesmal ihre Erschießung zur Folge hatte. Die Kriminellen wollten damit ihre „Wehrwürdigkeit“ und andere bürgerliche Rechte wiedererlangen. Es gab jedoch auch immer wieder welche, die sich den Überläufern anschlossen.
Der Klavierstimmer Oskar Huth, der während des Krieges zwanzig untergetauchte jüdische Familien in Berlin mit Lebensmitteln versorgte, berichtet demgegenüber: „Wer wirklich Leute versteckte, das waren die Proletarier untereinander. Die Ärmsten halfen den Armen. Und die Leute, die wirklich Möglichkeiten hatten – da war nichts, gar nichts.“ Zu den Hilfswilligen zählten auch Subproletarier. Heute kann man fast sagen, dass diese und andere „Arme“ aufgrund ihrer langen Erfahrungen mit Bedrängnissen aller Art, aber auch wegen der anhaltenden Bemühungen von Kirchen, Gewerkschaften und Arbeiterbewegung um sie, eher zu viel Religion und Moral haben – sonst wären sie nicht arm!
Umgekehrt haben die in dieser Hinsicht so lange vernachlässigten „Reichen“, zumal nach Ersetzung des protestantischen Unternehmers durch durchtriebene Manager und dubiose Politprominenz einen derartigen Grad von Glamour und Amoralität erreicht, dass sie eigentlich jeder Art von Sozialbetreuung bedürfen. Der prominente Anwalt Jonny Eisenberg sprach einmal, durchaus selbstkritisch, von „Reichtumsverwahrlosung“, die viel schlimmer als die Armutsverwahrlosung sei, weil man ihr mit Geld nicht beikommen könne. An solche Leute dachte ich im übrigen, als ich in der JW am 2.3. und 3.3. in einer JW-Rezension des „mg“-Artikels über „Guerilla oder Miliz?“ im Zusammenhang der Studentenbewegung davon sprach, dass sich ihr, im Maße sie Mode oder Mainstream wurde, immer mehr „Gesindel“ anschloß – also „Reiche“ (karrieristische Juristen, demagogische Politiker und intellektuelle Trittbrettfahrer). Solschenizyn erwähnt in seinem „Roten Rad“ die zaristischen Offiziere, die, nachdem man etliche von ihnen erschlagen hatte, schnell lernten, „auf der Welle der Revolution zu surfen“, d.h. sich an die Spitze der Bewegung ihrer Truppen zu stellen. Erst der „Befehl Nummer 1“ des Petrograder Arbeiter- und Soldatenrats stoppte diese fatale Entwicklung.
Von den durch die Studentenbewegung anfänglich bedrängten Professoren gab es ebenfalls nicht wenige, und zwar die ekelhaftesten, die sich sogleich an die Spitze der Rebellion setzten – und heute natürlich zu den schärftsten „68er-Kritikern“ gehören. Die „mg“ meinte in ihrer Antwort am 8.4., ich hätte mit diesem „Gesindel“ den Teil des Lumpenproletariats gemeint, der sich der Linken anschloss: weit gefehlt! Links sein heißt für mich: nach unten ducken und nach oben treten! Und Rechts sein: nach unten treten und nach oben ducken! Was nach Zerschlagung der großen Industrie und den Resten der Arbeiterbewegung sowie des bereits tabuisierten Wortes „Unterschicht“ immer wichtiger wird. Von Walter Benjamin stammt das Diktum „Immer radikal, niemals konsequent!“ Deswegen sollte man nur von „Linksradikalen“ einerseits und „Rechtskonsequenten“ andererseits sprechen. Von letzteren stammt der Spruch: „Eure Armut kotzt mich an!“
7. Die Ich-Armee („Zur Kritik der autoritären Arbeitsgesellschaft):
Frei nach Tolstoi könnte man vielleicht sagen: „Alle glücklichen Arbeitslosen ähneln einander, jeder unglückliche aber ist es auf seine eigene Art“. Damit wäre dann nicht nur erklärt, warum sich die Arbeitslosen trotz zunehmender staatlicher Repression so schwer organisieren lassen, sondern auch, warum die Gewerkschaften sich höchstens verbal für sie einsetzen: Kaum haben die großen Maschinen, an die sie gebunden waren und die ihre Interessen kollektivierten, sie ausgespuckt, schon grämt sich jeder auf eigene Faust. Nur die wenigsten – politisierten zumeist – sind darüber glücklich, dass der Gesellschaft langsam die Arbeit ausgeht. Und diese waren es auch wohl, die sich am 23. Juni im Kreuzberger „Kato“ zum Thema „Terror der Arbeit“ versammelten. Der Saal war voll, aber sowohl auf dem Podium wie im Publikum mangelte es an Ideen und Schwung, wie man der um sich greifenden „autoritären Einschüchterung“ und „Hetze gegen Faule“ entgegentreten könnte. Robert von der Initiative „Anders arbeiten oder gar nicht“ meinte, „die Arbeitsgesellschaft entwickelt sich schier zu einer Schreckensherrschaft“. Harald vom „Antihartzbündnis Rhein-Main“ konkretisierte: „Forciert wird das dadurch, dass immer mehr Leute ihren Leistungsanspruch verlieren“. Ziel der Ämter sei es, „durch eine „höhere Kontaktdichte mehr Sperrzeiten zu verhängen“.
Guillaume von den „Glücklichen Arbeitslosen“ zitierte Nietzsche: „Arbeit ist die beste Polizei“, er hätte auch an Heiner Müller erinnern können „Wer Arbeitslosigkeit hat, braucht keine Stasi“ – und kam dann noch einmal auf die zwei Ausgangsfragen seiner Gruppe zurück: „Wie wollen wir leben? Und was hindert uns daran?“ Auf die Frage, ob das Konzept „Glückliche Arbeitslose“ nicht elitär sei, antwortete Guillaume: „Nein! Entweder ist man vom Markt oder vom Staat abhängig oder von beidem. Wenn der Sozialstaat abgebaut wird, müssen wir uns eben was Neues einfallen lassen“. Dazu hatte bereits Alexander Solschenizyn Entscheidendes beigesteuert: „Es geht nicht darum, immer mehr zu verdienen, sondern immer weniger zum Leben zu brauchen“. Harald aus Frankfurt kam daraufhin noch einmal auf die Widerstandsformen gegen den Leistungsabbau zu sprechen, die kaum vorhanden – und erst recht nicht „schlagkräftig“ seien. Das läge 1. an den Gewerkschaften, die diesbezüglich nur Scheinaktivitäten entfalten würden; 2. am Sozialverband VdK, der sich sogar für Sozialhilfekürzungen einsetze; 3. an den Arbeitern und Angestellten, die sich nie an Aktionen von Arbeitslosen beteiligen würden (nur umgekehrt funktioniere es); 4. an den linken Gruppen (wie Antifa, Attac, Frauen etc.), die partout nicht zusammen kämen und 5. an den Arbeitslosen selbst, die schwer zu mobilisieren seien. Dennoch gäbe es keinen Grund zu verzweifeln: „Mit der Agenda 2010 wird den meisten nichts anderes übrig bleiben, als sich kollektiv zu wehren!“
Anne von der Initiative „Anders arbeiten…“ zählte dazu noch einmal alle Berliner Aktivitäten seit dem vergangenen Jahr auf: von den Veranstaltungen des Antihartz-Bündnisses über eine „Sklavenversteigerung“ und der „Ich-Armee-Demo“ vorm Estrel bis zur Initiative Berliner Bankenskandal. – Mit der dann im übrigen am 24. 6. eine Diskussion im Haus der Demokratie stattfand, wo es u.a. um jene 380.000 unglücklichen Bundesbürger ging, die von den Banken mit einer unvermietbaren Eigentumswohnung ins Elend gestürzt wurden und seitdem darum kämpfen, dass die Geldinstitute diese Scheißimmobilien wieder zurücknehmen. Einige haben sich bereits aus Verzweiflung das Leben genommen, andere bekommen bei jedem Inkasso-Schreiben Panikattacken. Man kann einen Menschen mit einer Eigentumswohnung erschlagen wie mit einer Axt! Auch das gehört noch zum „Terror der Arbeit“, denn die überschuldeten Besitzer der Immobilien besaßen beim Kauf noch alle einen festen Arbeitsplatz.
8. Infame Infantilisierungsstrategien der Spezialdemokraten:
Besonders gemein war die Infantilisierungsstrategie der Gewerkschaften bei der „Ostdeutsche Betriebsräteinitiative“, Psychiater würden sie als „Double-Bind“ bezeichnen: Einerseits wurde sie in Wort und Tat von IG Metall, IG Chemie usw. bekämpft, Walter Momper von der SPD gründete sogar eine Gegen-Betriebsräteinititative, andererseits wurde sie vom DGB mit Räumen und Briefmarken unterstützt. Die Betriebsräteinitiative hatte es gewagt, ohne die Funktionäre zu fragen, sich selbst zu organisieren – DDR-weit und branchenübergreifend. 1994 waren die Betriebsräte davon derart zermürbt, dass sie sich wieder zerstreuten.
Dem Betriebsratsvorsitzenden des Batteriewerks Belfa in Schöneweide wurde dann – sofort nach der Privatisierung seiner Firma durch zwei Münchner Schnullis – gekündigt, mit der Begründung: „Wir brauchen Sie nicht mehr, Herr Hartmann, der Klassenkampf ist beendet!“ (inzwischen ist auch sein Werk dicht). Als Nachrücker von Stefan Heym gab Hartmann daraufhin ein kurzes PDS-Gastspiel im Bundestag – und wurde dann arbeitslos. Der Betriebsratsvorsitzende von Krupp Stahlbau Karl Köckenberger schaffte sich ein zweites Standbein an – indem er vier Kinderzirkusse namens „Cabuwazi“ gründete. Dafür bekam er gerade das Bundesverdienstkreuz am Bande. In Ostberlin wurde erst die Firma „B-Stahl“ abgewickelt und dann auch Krupp Stahlbau: Kurz vor Fertigstellung des letzten Großauftrags rückte um Mitternacht die Geschäftsführung mit Lkws an, um heimlich alle Teile und Maschinen nach Hannover zu schaffen. Der Belegschaft und Köckenberger gelang es zwar noch, den Abtransport mit einer Menschenkette zu verhindern. „Aber danach war trotzdem Schluss!“ Ähnlich kriminell ging es auch bei der Elpro AG in Marzahn zu, einst eines der DDR-Vorzeigeunternehmen. Beim Versuch, sich gegen den Plattmachwunsch von Siemens zu wehren, landeten am Ende einige Geschäftsführer vor Gericht und einer im Knast. Und die Elpro AG wurde immer kleiner, irgendwann war sie so gut wie verschwunden – ihr Betriebsrat Jürgen Lindemann wurde arbeitslos. Zudem hatte er sich wie auch Hanns-Peter Hartmann von seiner BR-Abfindung eine Eigentumswohnung in Kassel zugelegt, die unvermietbar war, so daß er bald auch noch einen Haufen Schulden hatte. Heute ist er in der Initiative Berliner Bankenskandal aktiv.
Der Betriebsratsvorsitzende von Narva, Michael Müller, ein gelernter Schweißer, kuckte sich erst in Lateinamerika nach einem Job auf einer Finka um, dann nahm er jedoch eine Stelle als Hausmeister auf dem ehemaligen Narva-Gelände, das jetzt „Oberbaum-Citty“ heißt, an. Zwei seiner Kollegen in Oberschöneweide, vom Kabelwerk (Aslid) und vom Transformatorenwerk (Tro), versuchten der Abwicklung ihrer Werke mit kleinen Ausgründungen zuvor zu kommen: beide scheiterten. Der eine verschwand, der andere wurde verrückt. Unauffindbar ist auch der ehemalige Betriebsratsvorsitzende von Orwo, Hartmut Sonnenschein, der aus Wolfen wegzog, sowie der Betriebsratsvorsitzende der DDR-Reederei DSR, Eberhard Wagner: Angeblich soll er jetzt in Bremerhaven für eines der dortigen Forschungsschiffe verantwortlich sein. Die zwei weiblichen Betriebsräte des Werks für Mikroelektronik in Frankfurt/Oder fanden Jobs in einem Sozialbetrieb. Ähnlich hat sich auch der Betriebsratsvorsitzende der Kaligrube von Bischofferode, Gerhard Jütemann, der bis 2002 für die PDS im Bundestag saß, umorientiert, nebenbei züchtet er noch Tauben.
Der Betriebsratsvorsitzende des Werks für Fernsehelektronik in Oberschöneweide, Wolfgang Kippel, pflegte nach der Übernahme des WF durch Samsung zu sagen: „Wer es schafft, bei Samsung reinzukommen, der verlässt den Betrieb als Rentner.“ Aber dann machte der koreanische Konzern das Werk doch plötzlich dicht. Einer der nie so optimistisch war, aber dennoch immer noch als Betriebsrat wirkt, ist Gerhard Lux. Er arbeitet in einem AEG-Werk in Marienfelde. Auch die AEG wurde inzwischen abgewickelt, aber sein Betriebsteil übernahm ein französischer Konzern: „Wie lange das gut geht, weiß ich nicht,“ meinte er auf der letzten 1.Mai-Demo der Gewerkschaften. Und schlug dann ein Treffen aller bis 1994 in der ostdeutschen Betriebsräteinitiative Engagierten vor. Die o.e. sind nur ein Teil davon und selbst bei ihnen fehlen uns Adressen und teilweise sogar die Namen.
9. Zurück zu den Amöben…:
Nach Öko und Bio kommt jetzt EM. Es gibt bereits EM-Kaffee, EM-Gemüse, EM-Erdbeeren, EM-Äpfel, Käse aus Milchviehhaltung mit EM, EM-Eier, EM-Fisch, EM-Fleisch, EM-Wurst, EM-Wein – und demnächst EM-Bier sowie -Limonade. EM ist eine Lösung aus Zuckerrohrmelasse, von und in der „genau definierte“ Milchsäuremikroben, Hefepilze und Photosynthesebakterien leben. Und EM steht für „Effektive Mikroorganismen“. In den Handel gelangt diese „braune Flüssigkeit“ in Flaschen oder Kanister mit dem „internationalen Zeichen EM1“. Es ist eine Art Mikroben-Cocktail. Zur Anwendung gelangt EM1 in Form von EMa: Dabei handelt es sich um eine „Vermehrung keine Verdünnung“ von 1 Liter EM1 zu 33 Liter EMa – binnen einer Woche bei 35-38 Grad Celsius.
Anwenden kann man dieses Konzentrat dann nahezu überall: auf Feldern, in Wäldern, auf Wiesen und Äckern, im Stall und in der Küche. Alles wird dadurch besser: die Lebensmittel schmecken intensiver, die Milch der Kühe ist haltbarer, die Tiere sind gesünder. Darüberhinaus gibt es noch viele weitere „EM-Lösungen“: Sie werden regelmäßig auf den Webseiten des „EM e.V.“ und in den „EM-Journalen“ vorgestellt. Was diese zusammengewürfelten aber kooperierenden Haufen von Bakterien und Pilzen nicht alles können? Sie „steigern die Qualität der Lebensmittel signifikant, indem sie mehr als herkömmliche Lebensmittel so genannte Freie Radikale binden“ (das sind kurzlebige aber aggressive, sauerstoffhaltige Verbindungen mit einem freien Elektron, die verschiedene Vorgänge in den Zellen stören bzw. schädigen). Darüberhinaus sind sie in der Lage, „den Düngemittel-, Fungizid-, Insektizid- und Herbizit-Aufwand drastisch zu reduzieren, wenn nicht überflüssig zu machen.“ Sie versetzen hauseigene Kläranlagen in einen „gepflegten Zustand“ (wenn man 1 Liter EMa auf 1 Kubikmeter zusetzt). Als feinen Biofilm auf Wunden gepinselt lassen sie diese schneller verheilen. In Freibädern eingegeben verbessern sie die Wasserqualität – so z.B. in bisher über 300 japanischen Schulbädern sowie im Hollfelder Freibad, wo das „Zentrum für regenerative Mikroorganismen in Franken ,Der lebendige Weg‘ mit Sitz in Hollfeld“ dieses „EM-Projekt“ mit Rat und Tat begleitet. Darüberhinaus arbeitet man daran, quasi die ganze BRD mit EM-Beratungsstellen zu besetzen.
Deren Mitarbeiter erstellen vor Ort – z.B. in Sonderkulturbetrieben wie den Erwerbsobstbau – „eine PC-gestützte betriebswirtschaftliche Analyse, die auch den Einsatz von EM und die entsprechenden Kosten darstellt. Die Beratung zielt darauf, nicht den gesamten Betrieb von heute auf morgen auf EM-Anbau umzustellen, sondern zunächst auf dem gleichen Schlag eine EM-Variante einzusetzen. Wichtig ist dabei, gleiche Bedingungen zu schaffen. Gleicher Schlag, gleiche Sorte, bei mehrjährigen Kulturen gleicher Pflanzjahrgang.“ Dann kann der Kunde vergleichen, ob der EM-Einsatz etwas gebracht hat – und sich gegebenenfalls darüber mit anderen EM-Anwendern austauschen: Allein in Österreich gibt es inzwischen 15 EM-Stammtische, in Berlin einen. Daneben Jahreshauptversammlungen, Vorträge, Konferenzen, Exkursionen usw. an wechselnden Orten.
Hinter diesen ganzen „breitenwirksamen“ EM-Aktivitäten steckt die Erkenntnis, dass die Mikroorganismen nicht nur schädlich sind (Lebensmittel verderben, Krankheiten übertragen etc.), sondern auch überaus nützlich: Ja, ohne die etwa 2 Kilogramm Bakterien und Pilze an und in unserem Körper wären wir, Tiere und Pflanzen, überhaupt nicht lebensfähig. Mit den meisten sozusagen körpereigenen Mikroorganismen leben wir in seiner Symbiose und sie untereinander ebenfalls: „Geht es den Mikroben in uns gut, geht es auch uns gut“, so sagen es die EM-Berater. Mikrobiologen wie Lynn Margulis gehen noch weiter: Sie vermuten, dass sich diese Einzeller einst zusammengeschlossen haben, um einen Vielzeller – nämlich uns – zu schaffen, damit sie immer ein ausreichendes Nährmedium zur Verfügung haben. Der Biochemie-Nobelpreisträger Richard J. Roberts kam jüngst zu dem Ergebnis, dass 90% der Zellen in unserem Körper Bakterien sind.
Der japanische Professor für Gartenbau Teruo Higa, Begründer der EM-Bewegung und der „EM-Research-Organisation“ (EMRO), unterscheidet dabei zwischen für uns guten und schlechten Mikroben: „Wo gute sind, können sich schlechte nicht ansiedeln.“ Um die guten in Form von EMa auszubringen, kann man auf „EM-Technologie“ zurückgreifen. Auf den EM-Webpages werden dafür auch immer wieder selbstgebastelte Geräte vorgestellt. Von Professor Higa kann man außerdem „Bokashi“ beziehen, das ist Kompost, mit dem sich Blumen düngen lassen, der aber auch eine „gute Grundlage für die Tiere ist“. In ihrem Buch über „EM-Lösungen für Haus und Garten“ erklären die Autoren, der Diplomlandwirt Ernst Hammes und die EM-Beraterin Gisela van den Höövel, die beide im EM-Zentrum Saraburin in Thailand ausgebildet wurden, wie man „Bokashi“ aus den unterschiedlichsten organischen Abfällen selbst ansetzen kann. Außerdem geben sie Beispiele, wie ihre „effektiven Mikroorganismen“ als EM-Mix u.a. im Haushalt verwendet werden können: bei der Wasseraufbereitung, beim Wäschewaschen, in der Spülmaschine und bei der Schnitt- bzw. Topfblumenpflege… Einige weitere EM-Einsatzorte sind: in „selbstgemachten Joghurts“, bei der Sanierung alter Sofas sowie bei alten Holzmöbeln und – flächendeckend – auf der ersten „EM-Apfelplantage“ in Weissrussland. Dort wurden zuvor bereits beim Rübenanbau gute Ergebnisse mit EM erzielt: So stiegen die Ernteerträge von 350 Zentner pro Hektar auf 600-650, auch die Qualitätsziffern wurden deutlich besser: Der Zuckergehalt lag bei 17-18% und Stickstoff gab es halb so viel wie auf den Vergleichsflächen. Ähnlich erfolgreich ist die Teppichreinigung von Thomas von Stinissen in Wien: 2007 gewann er mit seiner dabei angewandten EM-Technologie den Umweltpreis „Energy Globe Austria.“
Die Brandenburger „Bauernzeitung“ berichtete, dass EM bereits in über 120 Ländern genutzt werde, allein in Deutschland gab es Ende 2006 über 3000 EM-Bauern. In dem Artikel wird namentlich der Milchbauer Thomas Unkelbach aus Hergolding erwähnt, der täglich seine Ställe mit einem „EMa-Wasser-Gemisch“ aussprüht und dessen Kälberverluste seitdem von über 20% auf unter 5% sanken. Ferner der Hühnerzüchter Bernhard Hennes aus Langenspach: Er installierte einen „Vernebler“ für das „EMa-Wasser-Gemisch in seinem Legehennenstall – und wurde damit der Milbenplage Herr. Sowie ein Dr. Franz Ehrnsperger von der Neumarker Lammbräu, wo die „EM-Technologie in nahezu alle Betriebsabläufe integriert wurde“, das beginnt bereits bei der Behandlung des Saatguts. Weitere Erwähnung fand eine Gänsezüchterin im norddeutschen Lohne, Iris Tapphorn, bei der in der Elterntierhaltung dank EM-Einsatz die Darmerkrankungen erheblich zurückgingen. Gute Erfahrungen mit EMa wurden außerdem bei der Silierung von Mais gemacht – was nahe liegt, da es sich hierbei um ein Milchsäuregärungsverfahren handelt, das man mit den zugefügten „Milchsäurenmikroben“ gewissermaßen „effektiviert“.
Den EM-Beratern ist am Verkauf ihrer Produkte gelegen, sie bemühen sich daneben aber auch um ein immer genaueres Verständnis der Wirksamkeit ihrer Mikroben-Konzentrate. Dazu verfolgen sie die Arbeiten der Mikrobiologen. Die Süddeutsche Zeitung faßte eine Forschungsarbeit der Biologin Susse Kirklund Hansen von der TU in Lyngby, Dänemark, zusammen: „Bevor Bakterien sich zusammenschließen, gibt es eine Art Absprache. Jedes Bakterium sondert Signalmoleküle aus, um seine Anwesenheit zu demonstrieren. Erreicht die Konzentration dieser Stoffe einen Schwellenwert, fangen die Keime mit der Schleimproduktion an. Dieses Kommunikationssystem wird als ,Quorum Sensing‘ bezeichnet.“ Die EM-Experten Hammes und Höövel gehen davon aus, dass die Mikroorganismen dabei über Elektronen kommunizieren: „Jede lebende Zelle strahlt ultraschwaches Licht aus.“ Dieser Forschungsansatz geht auf den russischen Biologen Alexander Gurwitsch (1874-1954) zurück und wird heute insbesondere von dem Biophotonenforscher Fritz Albert Popp in seinem Institut in Kaiserslautern weiterverfolgt. Die FAZ berichtete jüngst von einer Arbeit an einem Washingtoner Institut mit in Gewässern lebenden Bakterien der Art Shewanella oneidensis. Diese übertragen ihre elektrischen Ladungen über Nanodrähte, mit denen sie sich untereinander verbinden und die oft Dutzende von Mikrometern lang sind. Ähnlich können auch Cyanobakterien (Blaualgen) solche „elektrisch leitfähigen Strukturen“ ausbilden. Anderswo beobachtete man einen „Elektronentransfer per Stromkabel zwischen Mikroben unterschiedlicher Art“.
Während also hierbei das Kommunikations-Medium erforscht wird, geht es der Biologin Susse Kirklund Hansen in Dänemark und der deutschen Susanne Häusler (am Braunschweiger Zentrum für Infektionsforschung) um das (soziale) Zusammenleben der Mikroben: „Ihre Versuche zeigen, dass viele Bakterien im Biofilm nicht einfach nur viele Bakterien sind, sondern eine organisierte, kommunizierende Gemeinschaft, die sich nur schwer zerstören läßt“ – und manche nach einiger Zeit ausschließt. Robert Kolter von der Harvard Medical School spricht von einer „Stadt der Mikroben“: Das „Leben im Biofilm ist wie eine multikuturelle Gesellschaft. Man sucht sich die richtige Wohngegend mit passenden Nachbarn, profitiert von der Arbeit der anderen und wenn es unerträglich wird, zieht man wieder weg.“ So werden aus Bakteriologen Stadtforscher. Ironischwerweise begann die (soziologische) Stadtforschung einmal – in englischen Armenvierteln – unter bakteriologischem Vorzeichen: Es ging dabei um Hygiene – und üble Krankheitserreger (z.B. im Trinkwasser). Den EM-Experten geht es nun u.a. ebenfalls wieder um Hygiene, die sie jedoch nicht mehr mit keimtötenden Mitteln erreichen wollen, sondern im Gegenteil mit keimvermehrenden Maßnahmen – u.a. in Badezimmern, Autowaschanlagen, Abwassersystemen und Kochtöpfen. Wobei sie jedoch zu bedenken geben, dass für einen erfolgreichen EM-Einsatz eine „Offenheit im Denken“ erforderlich ist. Im Grunde ist dieses Denken eine Ausweitung bzw. Konzentration der Ökologie auf den nichtsichtbaren Bereich.
So bezeichnet dann auch Steven Gill vom „Institute of Genomic Research“ in Rockville, Maryland, die Bakterienflora im Darm z.B., wo 10 bis 100 Billionen Bakterien der unterschiedlichsten Art leben, als ein „Ökosystem“ bzw. als ein „Mikrobiom, das gewissermaßen ein zweites Ich darstellt“. Zur Aufbereitung unserer Speisen ist die „Zusammenarbeit mehrerer Gruppen von Mikroorganismen in einer Nahrungskette erforderlich“. Die Berliner Zeitung schrieb über Gills Forschung: „Beim menschlichen Stoffwechsel läßt sich kaum auseinanderhalten, welchen Beitrag der Mensch und welchen die Darmflora leistet. Dass Mensch und Mikroben in enger Symbiose leben, ist seit langem bekannt. Und man weiß auch, dass die winzigen Bewohner dem Wirt mehr nützen als umgekehrt. Sie bauen unverdauliche Nahrungsbestandteile zu verwertbaren Nährstoffen um, versorgen den Körper mit Vitaminen, die er sich selbst nicht beschaffen kann, und sie halten Krankheiten sowie Entzündungen in Schach.“ Der Spiegel befragte dazu 2005 den britischen Chirurgen und Bakteriologen Mark Spigelman: „Sie schlagen vor, Chirurgen sollten vor einer Operation die Hände in Lösungen aus gutartigen Bakterien, wie etwa solche aus Joghurt, tunken. Was ist so falsch an der Desinfektion?“ „Nichts. Antiseptische Seife ist unsere beste Waffe im Kampf gegen Bakterien. Aber wenn ich das als Chirurg den ganzen Tag mache, komme ich am Ende aus dem OP und habe sämtliche normalen, nützlichen Hautbakterien auf meinen Händen abgetötet. Das schafft erst den Raum für die fiesen Keime, sich dort niederzulassen.“
Auf der menschlichen Haut leben rund 180 Bakterienarten. Die Mikrobiologin Zhan Gao und ihre Kollegen an der New York University haben kürzlich herausgefunden, dass sie sich dem individuellen Lebenswandel der Menschen anpassen: „Nur eine kleine Gruppe von harmlosen Hautbakterien bleibt einem Menschen treu, die meisten Bakterien sind bloß vorübergehend zu Gast. Ihr Gedeihen wird beeinflußt von Faktoren wie Wetter, Licht, Hygiene und Medikamenteneinnahme,“ berichtete die Berliner Zeitung 2007. Grundsätzlich gilt jedoch das, was die EM-Experten für die Landwirtschaft sowie die Viehzucht empfehlen und der Biochemiker Richard J. Roberts dem Menschen: „Der einzige Schutz vor krank machenden, pathogenen Keimen ist die Besiedlung durch nicht krank machende Bakterien. Lactobacillus oder Bifidobakterien im Joghurt sind vor allem deshalb gesund, weil sie andere, pathogene, Bakterien fernhalten. Der Trick ist, jede ökologische Nische auf und im Körper mit unschädlichen Keimen zu besetzen. Übertriebene Sauberkeit schafft dagegen erst Leerräume für die Besiedlung durch wirklich gefährliche Keime.“
Ende 2006 berichtete der Spiegel über Tom Baars, dem weltweit ersten Professor für biologisch-dynamische Landwirtschaft an der Universität Kassel in Witzenhausen: Der holländische Anthroposoph verpasse dort vermeintlich „Okkultem“ wissenschaftliche Weihen – warnte das Magazin und zitierte dazu gleich mehrere Wissenschaftler, die entsetzt waren, wie leichtfertig die renommierte Agrarfakultät sich damit dem „Esoterik-Verdacht“ aussetze. Zum „Beweis“ referierte die Spiegel-Hausbiologin Rafaela von Bredow eines der biologisch-dynamischen Verfahren: „Eine von Rudolf Steiners Erleuchtungen verdanken die Bauern etwa die Anweisung, Kuhhörner (von weiblichen Tieren, die schon einmal gekalbt haben) im Acker zu verbuddeln, gefüllt mit zerriebenen Quarzkristallen (nach Ostern mit Regenwasser zu einem Brei rühren!). Mars, Jupiter und Saturn heißt es, strahlten über solche ,kieseligen Substanzen‘ von unten nach oben und verströmen ihre kosmischen Kräfte, indem sie auf Blütenfarbe, Frucht und Samenbildung wirkten. Nach ein paar Monaten Lagerzeit graben die Anthroposophenbauern die Hörner wieder aus und kratzen deren Inhalt heraus. Braucht nun etwa ein Tomatenbeet kosmische Zuwendung, verrühren die Landwirte eine winzige Menge davon in einem grossen wassergefüllten Faß. So ,dynamisiert‘ der bäuerliche Alchemist das Wasser. Den fertigen Zaubertrank schleudert er dann mit Hilfe eines Handbesens in Tröpfchen über das Gemüse.“ Fast genauso könnten auch die EM-Berater und -Bauern über die Herstellung und Anwendung ihres Bakterien-Konzentrats sprechen – nur dass sie im vergrabenen Kuhhorn, gefüllt mit Quarz (sie würden allerdings japanische Tonerde vorziehen) weniger die „kosmischen Kräfte“ als vielmehr die „mikrobiotischen“ am Werk sehen. Auch die „Dynamisierung“ dieses Prozesses in wassergefüllten Gefäßen durch Rühren und Abstehen lassen, wäre ihnen nicht fremd, nur dass sie statt von Verdünnen von Vermehren sprechen würden. Was an den „EM-Technologien“ eher noch mehr stört als an der biologisch-dynamischen Wirtschaftsweise, ist die ständige Betonung der „Effektivierung“ – aller Lebensvorgänge im Hinblick auf ihre marktwirtschaftliche Verwertung.
Zwar wird wohl zugegeben, dass dieses Geschäft auch und gerade das mikrobiotische Miteinander zerstört hat – auf den Äckern, Wiesen, in Gärten und Ställen, ja sogar in den Wohnhäusern und Körpern , aber wieder ins Gleichgewicht gebracht werden soll es mit einem weiteren Produkt – EM1 , das sich in seiner Warenform als „Allheilmittel“ anpreist, und somit sämtliche „Fehlentwicklungen“ monokausal erklären muß. Am Ende hat ihre Bakteriologie als angewandte Wissenschaft alle anderen ersetzt. Ist das schon „offenes Denken“ – oder noch Teil einer „Biopolitik der Unsichtbaren“, von der die neuen Studien einiger Autoren, darunter der „Anthraxforscher“ Philip Sarasin, über „Bakteriologie und Moderne“ handeln? Sie beschränken sich darin auf die Geschichte der Verfolgung und Vernichtung der Mikroorganismen und verfolgen dabei die Wege zur allgemeinen Überzeugung, dass dies dringend notwendig sei – während die EM-Propagandisten uns nun genau das Gegenteil versprechen: einen Biofilm mit Happy-End.
Genetische Erklärung u.a. für die Exzesse der Kulturrevolution: das MAO-GEN – endlich entdeckt!
Eine neue Studie der Florida State University will den Zusammenhang zwischen einer seltenen Variation des MAO-Gens und dem gesteigerten aggressiven Verhalten von Gang-Mitgliedern entdeckt haben. Vorherige Forschungen verknüpften das MAO-Gen schon einmal mit aggressivem Verhalten. Die neue Studie soll allerdings darüber hinaus belegen, dass die MAO-Genvariante Gang-Mitglieder hervorbringt, so Kevin M. Beaver, der Leiter der Studie. Für die Studie wurden 2.500 Jugendliche befragt und untersucht. Ihre Antworten und DNA-Daten hätten die Vermutungen des Forschungsprojektes um Beaver bestätigt, der sich mit Forschungen zu „biosozialer Kriminalität“ bereits einen Namen gemacht hat. Laut der Studie werde das Verhalten und die Stimmungslage der Gen-Träger von Neurotransmittern wie Dopamin und Serotonin beeinflusst, die von dem MAO-Gen gesteuert werden. Laut der Studie ist das „ Gangster-Gen“ auf dem X-Chromosom lokalisiert, von dem Männer bekanntlich nur eines besitzen. Warum sich dennoch mehr Männer in Gangs organisieren als weibliche XX-Trägerinnen, auch darauf hat das Forschungsprojekt eine Antwort: Weise ein Mann die MAO-Variante, die als „Gangster-Gen“ gilt, auf, gebe es kein zweites Gen, welches diesem entgegenwirken könne.
PM Florida State University, 05.06.09, online: http://www.fsu.edu/news/2009/06/05/warrior.gene/
(Gefunden auf der Internetseite des Gen-ethischen Netzwerks. Dort noch mal nachgefragt: MAO steht für Monoaminooxydase, davon gibt es zwei Varianten: A – ist wichtig für den Abbau von Serotonin und Noradrenalin; B – für den Abbau von Dopamin. Es handelt sich dabei um Neutransmitter im Gehirn.)