„Die Menschen entdecken sich in ihren Waren wieder.“ (Herbert Marcuse)
In dem bereits vor einigen Tagen erwähnten „ArchivKooperativerProjekte“ sind etwa die Hälfte der Projekte in Berlin und im Umland konsumistische Initiativen – wie etwa Food-Coops. In einem Suhrkamp-Reader über „Politik, Protest und Propaganda“ war 2007 bereits von „politischem Konsum“ die Rede: „Wie andere Formen kreativen politischen Handelns kann der politische Konsum nicht nur relativ schnell Erfolge verzeichnen, sondern er verlangt den Teilnehmern auch keine besondere Opferbereitschaft ab.“ Der „Reader“ über eine „Politik ohne Reue“ heißt denn auch nicht mehr „Was tun?“, sondern „Und jetzt?“ d.h.: Was kaufe ich als nächstes? bzw.: Was nicht? Es geht dabei um organisierten Konsumentenboykott.
In den USA wurden die Gewerkschaften und Bürgerrechtsbewegungen schon früh durch Mord und Bestechung zerschlagen. Seitdem findet das atomisierte angepaßte Individuum mit dem „egoistischen Gen“ als bewußter Verbraucher auf dem globalen Markt nur noch rein statistisch zur Kollektivität zurück. Es boykottiert z.B. Coca Cola und kauft stattdessen massenhaft Pepsi Cola. Ab einer bestimmten Kaufkraft zeigt dies Wirkung. Selbst eine neue Gewerkschaft von mexikanischen Erntehelfern in Florida wandte sich, um ihre Forderung „Ein Cent mehr für jeden Eimer Tomaten!“ durchzusetzen nicht mehr an die ausbeuterischen Agrarunternehmen, sondern an kritische Konsumenten, konkret: an die Kunden der Fastfoodkette „Taco Bell“. Und deren Boykott hatte schließlich Erfolg.
Dieses Beispiel könnte aus Naomi Kleins Bestseller „No Logo“ stammen. Der Soziologe Ulrich Beck spricht von einer neuen medial sich inszenierenden Konsumentenmacht: „Warum der einzelne Konsument ein bestimmtes Produkt nicht kauft, ist nicht so wichtig. Was zählt, sind gerade massenhafte Mit-Nichtkäufer.“
Der politische Konsument geht aber noch weiter: So gibt es in den USA z.B. einen „Buy Nothing Day“, ferner bittere Erfahrungsberichte über ein Jahr „No Shopping“ und abtrünnige Lifestylisten, die Bücher darüber schreiben, „Wie ich lernte, ohne Marken zu leben“. In Deutschland erschien vor kurzem ein konsumkritischer Erfahrungsbericht des stellvertretenden Chefredakteurs der taz: „Öko – Al Gore, der neue Kühlschrank und ich“, denn es ist doch so, „dass man sich oft nicht viel Mühe gibt beim Konsum,“ erklärte dazu der Autor Peter Unfried im Interview. Ein im Herbst erscheinendes Buch von taz-Autor Holm Friebe und Thomas Ramge über den „Aufstand der Massen gegen die Massenproduktion“ geht noch weiter: Es heißt „Marke Eigenbau“ und thematisiert ausgehend vom politischen Konsum den neuen US-Trend des „Selber Machens“ – und „Verkaufens“ über das Internet.
Die Westberliner taz ist eine Konsumentengenossenschaft (ihrer Leser) und zugleich, darin quasi eingewickelt, eine Produktivgenossenschaft (ihrer Mitarbeiter). Im Gegensatz zur sozialistisch-proletarischen Mediengenossenschaft in Ostberlin Junge Welt verfolgt die taz denn auch eher eine ökologisch-konsumistische Politik. So wird z.B. keines ihrer 100 Produkte, die sie im „taz-shop“ verkauft und an Abonnenten verschenkt, von einer Genossenschaft hergestellt. Nicht die Produktion, sondern die Produkte werden dabei – nach ökologischen Kriterien – bewertet.
Die 68er-Bewegung setzte dem kleinbürgerlichen Lebensinhalt „Fressen, Ficken, Fernsehen“ noch „Sex & Drugs & Rock’n Roll“ entgegen, die taz kehrte spätestens nach 1989 wieder zu den alten „Werten“ zurück, veredelte sie jedoch zu „Biofood, feste Beziehungen und Kinder sowie Arte- bzw. Arthouse-Filme“. Und diese Formel für den gehobenen Konsum verband sie mit politischer US-Korrektheit: Dabei ist von „Gender“, „Genozid“ und „Human Rights“ die Rede, an die Substantive wird gerne die weibliche Endung „Innen“ gehängt, Minderheiten dürfen nicht mit vermeintlich herabwürdigenden Worten bezeichnet werden (z.B. heißt es statt Zigeuner Roma) und Rauchen ist in allen Räumen verboten.
Da der politische Konsumismus jedoch allein von Leuten abhängt, die auch das Geld dafür haben, diese aber absolut immer weniger werden, muß sie – ähnlich wie die Grünen – in ihrer Auslandsberichterstattung eher dem kriegerischen US-Imperialismus folgen, als den auf Gerechtigkeit statt Freiheit setzenden kleinen Diktaturen in Osteuropa und Lateinamerika.
In der Juli-Ausgabe der Le Monde Diplomatique schreibt Bruno Preisendörfer:
Und doch beginnt sich klimatisch etwas zu ändern. Man könnte es die Rückkehr des Sozialen nennen. Die Diskursgletscher ziehen sich zurück, und die Wirklichkeit kommt wieder zum Vorschein. Das Kulturelle, das Symbolische, das Imaginäre haben bei einem Teil der deutenden Intelligenz ihre Reize eingebüßt und sind langweilig geworden. Die Rhetorik des Respekts und der Anerkennung sucht wieder festen Grund in der lange verachteten Sozialpolitik.
Der Kult des Konsumismus ist abgelebt, jetzt interessieren wieder die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten. Und bei den Fair-Trade-Marken unter den Importprodukten werden neben ökologischen Kriterien soziale Mindeststandards und gewerkschaftliche Rechte wichtig. Auch der Popstar der internationalen Antiglobalisierungsszene, Naomi Klein, ist mit einem neuen Buch von der Kritik einzelner Logos zu der des ganzen Kapitalismus übergegangen.
Diese nur beispielhaft angeführten Veränderungen der Modi, in denen die Gesellschaft wahrgenommen wird, sind folgenreicher als die verstörten Reaktionen von Parteipolitikern auf die Protestwahlerfolge der Linkspartei. Es wird wieder deutlich, dass es gesellschaftliche Distanzen gibt, die durch kein gemeinsames Anliegen zu überbrücken sind.
Die sozialen Unterschiede zwischen einer bildungsfernen, miserabel bezahlten Verkäuferin bei Lidl und einer studierten, hervorragend bezahlten Anwältin einer Wirtschaftskanzlei sind relevanter als die Gemeinsamkeiten der beiden aufgrund ihres biologischen Geschlechts. Das war in der Wirklichkeit auch in den vergangenen zwanzig Jahren so, spielte aber in der Interpretation nur eine nachgeordnete Rolle.
In „1968 – Eine Welt in Aufruhr“ rekapituliert der englische Trotzkist Chris Harmann die damalige Protestbewegung – Land für Land, wobei er nahelegt, dass die oftmals auf die Studenten beschränkt gebliebenen Proteste meist die Konsumsphäre thematisierten – und weniger den Produktionsbereich, wobei sie z.B. mit Herbert Marcuse davon ausgingen, dass die Arbeiter vom System integriert seien und zu keinerlei revolutionären Aktivitäten mehr bereit bzw. fähig, höchstens noch die Marginalisierten/Lumpenproletarier und die Massen in der Dritten Welt. Durch die „Grünen“ Parteien wurde dieser konsumkritische Ansatz der Studentenbewegung dann bloß noch projektemacherisch zugespitzt.
Gestern veröffentlichte die Junge Welt eine Beilage über die Landwirtschaft, in der u.a. auch noch mal von den Erntehelfern landauf landab die Rede ist. Zeitlich passend zur Gurkenernte im Spreewald..
Der aus einem kleinbäuerlichen Haushalt in der Niederlausitz stammende „Halbsorbe“ Erwin Strittmatter beschäftigte sich als Landarbeiter und Obstpflücker auch einmal mit biologisch-dynamischem Gärtnern:
„Da soll ich zum Beispiel einen Gurkenkern vor mich auf den Tisch legen und soll darauf starren und mir vorstellen, wie er keimt, und wie er Blätter schlägt und rankt und blüht und kleine Essiggurken und schließlich Samengurken produziert. Dann muß ich die Samengurken in meiner Anschauung verfaulen und vertrocknen lassen, bis wieder nichts als bleiche Gurkenkerne vor mir liegen. Und das alles soll ich, neben anderen Übungen, mir täglich vorstellen, bis meine Vorstellungen von der Wirklichkeit nicht mehr zu unterscheiden sind…“
Als Erntehelfer hatte Erwin Strittmatter jedoch nicht so viel Zeit…
Hier der JW-Artikel zum Thema:
Die englische Hilfs- und Entwicklungsorganisation OXFAM veröffentlichte 2004 einen Bericht über die immer härter werdenden Arbeits- und Lebensbedingungen der US-Landarbeiter. Sie stammen zumeist aus Mexiko und sind nicht selten „Illegale“, d.h. „Ohne Papiere“. Um die Löhne der Erntehelfer für die Farmer niedrig zu halten, wird ein bestimmter Anteil an Illegalen von Staats wegen geduldet. Ähnlich ist es in Spanien, speziell im Gemüseanbaugebiet um Almeria. Spitou Mendy, der lokale Sprecher der „Gewerkschaft der Feld- und Landarbeiter Andalusiens“ (SOC) berichtete kürzlich: „Dass es Arbeitskräfte gibt, die man als illegal bezeichnet, wird von der spanischen Regierung geduldet und ist gewollt. Die papierlosen Migranten kommen auf den kanarischen Inseln an, wo sie nach 40 Tagen in einem Lager, das einem Gefängnis gleicht, den Ausweisungsbescheid bekommen. Dann fliegt man sie per Flugzeug hierher, wo billige Arbeitskräfte gebraucht werden. In den Gewächshäusern arbeitet kein Mensch mit legalem Status, und die Tarifverträge werden nicht eingehalten.“
In den USA bezeichnet man die Land- bzw. Wanderarbeiter auch als „Hands“. Der Begriff geht auf das 17.Jahrhundert zurück, als Millionen von Kleinbauern und Pächter im Zuge der gewaltsamen Auflösung der Allmende (des Gemeindeeigentums) in England und Irland von den Großgrundbesitzern vertrieben – und als „Hands“ zusammen mit „Negersklaven“ und Kriminellen auf die Plantagen in den britischen Kolonien der beiden Amerikas verschleppt wurden. In den USA stellen heute die Mexikaner zwar die meisten „Hands“, aber auch in Westeuropa wirbt z.B. Marlboro alljährlich Jugendliche als „Ranchhands“ für US-Farmer an. Hier arbeiten inzwischen umgekehrt Millionen Osteuropäer als Erntehelfer bzw. Saisonarbeitskräfte auf dem Land. Die US Air Force nannte einst ihr „Entlaubungsprogramm“, bei dem 80 Millionen Liter „Agent Orange“ über vietnamesische Wälder und Reisfelder („unfriendly crops“) versprüht wurden, um das Hinterland des Vietkong zu zerstören – ebenfalls „Ranchhand“, denn dadurch konnte ihr Gegner leichter von den Bodentruppen vernichtet werden.
Der OXFAM-Bericht über US-Landarbeiter hat den Titel „Wie Maschinen auf dem Feld“. Immer mehr mexikanische „Hands“ leben unterhalb der Armutsgrenze, sie arbeiten – z.B. auf den Tomatenfeldern in Florida – im Akkord: „Mußte ein Arbeiter 1980 an einem Zehnstundentag noch 77,5 Eimer Tomaten ernten, um auf den gesetzlichen Mindestlohn zu kommen, so waren es 1997 schon 130 Eimer“, wobei der offizielle Mindestlohn für sie ebensowenig gilt wie für die arabischen Erntehelfer in Spanien.
Im Gegenteil mehren sich die Fälle, da die Bauern ihre Saisonarbeitskräfte nicht mehr direkt ausbeuten, sie leihen sich stattdessen die Arbeitskräfte von Subunternehmern (auch Contractors, Caporali oder Menschenhändler genannt) – und diese schrecken auch vor brutalem Zwang nicht zurück. In Italien kam es deswegen 2006 zu einem „Skandal“. Die Stuttgarter Zeitung, die die in diesem Fall albanischen Menschenverleiher als „Kapos“ bezeichnete, schrieb: „Die Erntehelfer bekommen für ihre Arbeit einen Hungerlohn, wohnen in Ruinen, werden geschlagen. Es gibt Todesfälle mit dubioser Ursache. Auf den Tomatenfeldern in Apulien schuften Osteuropäer wie Sklaven.“ Die „Berliner Morgenpost“ ergänzte, dass die rumänischen Erntehelferinnen dort von den Subunternehmern auch noch gezwungen wurden, dem „Padrone“ sexuell zu Willen zu sein. Die Berliner Zeitung berichtete in der selben Erntesaison über 113 polnische Erntehelfer, die man bei Bari in einem bewachten Arbeitslager untergebracht hatte, wo die Polizei diese „Sklaven“ schließlich befreite. Die „Tagesschau“ entsetzte sich: Im italienischen Gemüseanbaugebiet rund um Foggia arbeiten Rumänen, Bulgaren und Afrikaner – ebenfalls meist illegal. Die Bauern bekommen ihre Arbeiter von Vorarbeitern (Caporali), dort meist Araber, gestellt. Diese zahlen ihnen dann auch die Löhne aus, etwa 3 Euro pro Stunde, versorgen sie mit Lebensmittel und Wasser und schlagen sie auch zusammen, sollten sie versuchen, diesem „Terrorregime“ zu entfliehen. Wenn die Erntehelfer, die in glühender Hitze teilweise bis zu zehn Stunden auf den Tomatenfeldern arbeiten müssen, schlapp machen, werden sie von der Hilfsorganisation „Ärzte ohne Grenzen“ notversorgt.
2007 wurden ähnliche Arbeitsbedingungen in Deutschland aufgedeckt: Hier handelte es sich um einen vom Dienst freigestellten bayrischen Polizisten, der seine 118 Erdbeerpflücker aus Rumänien „wie Sklaven“ hielt. Die Süddeutsche Zeitung schrieb: „Harte Feldarbeit, Hunger und einen Stundenlohn von 1 Euro 20. Was sich wie Zustände in der Dritten Welt anhört, hat sich tatsächlich auf einer Erdbeerplantage in Donauwörth abgespielt.“
Im Juni 2008 kam es in Griechenland zum Skandal, weil 2500 „Hands“ auf den Erdbeerfeldern von Nea Manolada nahe Olympia, sie stammten meist aus Bangladesh und Pakistan, wie „Sklaven“ gehalten wurden. Sie wehrten sich und streikten: Daraufhin wurden sie von bezahlten Schlägertrupps zurück an die Arbeit geprügelt, ein paar kommunistische Gewerkschafter aus Athen schlugen sie gleich mit zusammen. Das war dann doch zu viel – die Presse schaltete sich ein. Die „Erdbeersklaven“ setzten schließlich eine Lohnerhöhung von 5 Euro pro Tag und Überstundenzuschläge durch (vorher erhielten sie etwa 23 Euro pro Tag; der Mindestlohn liegt derzeit in Griechenland bei 30 Euro 40).
Weltweit steigt das Überangebot an Erntehelfern und Wanderarbeitern in der Landwirtschaft. Ihre Löhne sind derart gesunken, dass vielerorts sogar auf Erntemaschinen verzichtet wird und stattdessen auch noch Kinder mitarbeiten müssen. So verdienen Baulwollpflücker in Afrika z.B. 25 Cent pro Stunde und in Pakistan sowie auch in Indien sogar nur 10 Cent. Alleine auf den Bananenplantagen Ecuadors sind nach Angaben der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) 30.000 Kinder beschäftigt, „die teilweise wie Sklaven gehalten werden“.
Wie alle Jahre wieder berichtete die Lausitzer Rundschau auch 2008 von der Gurkenerntefront, und titelte dazu: „Das harte Los der Saisonarbeiter“. Die Agentur für Arbeit wirbt dagegen um deutsche Erntehelfer mit dem Slogan „Saisonarbeit leicht gemacht“. Die Gemüsebaubetriebe in der Lausitz brauchen jährlich über 6000 Erntehelfer – so viel wie allein der „Norddeutsche Salatkönig“ Rudolf Behr auf seinen Feldern beschäftigt. Seine „Besten“ schaffen 1000 Köpfe pro Stunde, er zahlt ihnen dafür 1200-1500 Euro monatlich.
Die Bauern bzw. Agrarunternehmer müssen 10-20% ihrer Arbeitskräfte über die Agenturen für Arbeit aus dem Heer der deutschen Arbeitslosen rekrutieren. Für diese ist das Zwangsarbeit, denn im Weigerungsfalle werden sie mit Kürzungen des Arbeitslosengeldes bestraft. Sind sie jedoch willig, bekommen sie 18 Euro pro Tag zusätzlich. Die Gewerkschaft IG BAU (Bauen – Agrar – Umwelt) möchte stattdessen, dass ihnen der Mindestlohn – von 6 Euro 77 in der Landwirtschaft – gezahlt wird – und hat dazu nun die Kampagne „Faire Saisonarbeit“ gestartet. Der in Brandenburg gültige Tarifvertrag beträgt bei Erntehelfern derzeit 5 Euro 77 – und darf zudem noch um 20% unterschritten werden. In Wirklichkeit werden jedoch z.B. in Sachsen oftmals bloß Stundenlöhne von 3 Euro 27 gezahlt und in Bayern 5 Euro 10. Hier wie dort sollen die niedrigen Löhne den Bauern zu Gute kommen, die zu den Bedingungen meist polnische Erntehelfer beschäftigen. Diese weichen nun aber zunehmend nach Irland, England oder Belgien aus, wo sie mehr verdienen und nicht sozialversicherungspflichtig sind.
Im Obstanbaugebiet Altes Land bei Hamburg, wo sie bisher 5 Euro 42 bekamen, befürchten die Bauern deswegen bereits Ernterückgänge in Größenordnungen. Auf einer Veranstaltung des Landwirtschaftsministeriums in Jork gab es nicht einen einzigen Bauern, der gute Erfahrungen mit deutschen Zwangsarbeitern gemacht hat. Der CSU-Minister Horst Seehofer beruhigte die ob der Verpflichtung, sie dennoch einstellen zu müssen, erbosten Obstbauern: In naher Zukunft würden sowieso „Pflückroboter“ die Erntearbeit übernehmen.
Der Minister wußte jedoch gar nicht, wovon er sprach: „Bevor wir so ein Gerät im Alten Land überhaupt testen“, so Dr. Matthias Görgens vom Obstbau-, Versuchs- und Beratungszentrum (OVB) Jork, „müssten für praktische Versuche noch zwei bis fünf Jahre vergehen.“ Die Katholische Hochschule Limburg in Belgien, die den Ernteroboter zusammen mit der Industrie entwickelt hat, meint, sie werde ihn zum Preis von etwa 50.000 Euro auf den Markt bringen. Je nach Version könne er angeblich sechs bis zehn Erntehelfer ersetzen. Um einen Apfel vom Baum zu holen, braucht man per Hand 3,6 Sekunden, der Roboter zurzeit aber noch fünf bis neun Sekunden. In Sachen Fruchtschonung hinkt er noch weiter hinterher: „Die Praxisreife ist noch lange nicht da“, urteilt Jens-Peter Ralfs, Experte für Anwendungstechnik an der OVB. Bei der Ernte mit Robotern dürften Druckstellen an den Tafeläpfeln ein großes Problem sein. Er erwartet deswegen „einsatzfähige Pflückroboter frühestens in 20 Jahren“.
Ähnlich sieht es bei dem „Spargelroboter“ aus, den das Stuttgarter Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung zusammen mit einem Industriekonsortium entwickeln will. Beträchtlich weiter ist dagegen ein „Spargelernter“ – genannt „Panther“, den die Wolfsburger Maschinenbaufirma „ai-solution“ in der vergangenen Spargelsaison testete und der bereits 2009 in Serie gehen soll. Der „Spargelpanther“ erntet 18 Stangen in der Minute. Die Firma geht davon aus, dass es für die Bauern immer schwieriger wird, „genügend Erntehelfer zu finden“, so dass sie schon bald ihre Erntemaschine kaufen werden, die alle „Handarbeit auf den Spargelfeldern ersetzt“.
In Kalifornien, wo die anfangs noch illegale Gewerkschaft „United Farm Workers“ bereits seit den Sechzigerjahren Streiks der mexikanischen Erntehelfer organisiert, begründete ein Verband der Agrarunternehmer seine Millionen-Dollar-Investition zur Entwicklung eines Ernteroboters denn auch damit, dass sie es leid seien, „sich ewig über Lohnerhöhungen ärgern zu müssen“. Der kalifornische Sprecher der US-Landarbeiter-Gewerkschaft, Marc Grossmann, bleibt jedoch einstweilen noch ähnlich gelassen wie der Obstbau-Experte im Alten Land: „Die Trauben, mindestens für edle Weine, wird man auch in Zukunft per Hand lesen“.
Damit bleiben sie „Früchte des Zorns“, wie ein Film von John Ford 1940 hieß, der auf dem gleichnamigen, mit einem Nobelpreis ausgezeichneten Roman von John Steinbeck basierte – und vom Elend der Wanderarbeiter handelte, die damals noch Weiße waren und als verarmte Kleinbauern von der Ostküste kamen, um sich in Kalifornien als Landarbeiter zu verdingen.
Inzwischen richtet sich der Zorn der mehrheitlich mexikanischen „Hands“ jedoch nicht mehr wie damals gegen die ausbeuterischen Farmer und ihre brutalen „Contractors“ sowie „Sheriffs. Die „Coalition of Immokalee Workers“ in Florida (CIW) z.B. wendete sich 2005, um ihre Forderung „Ein Cent mehr für jeden Eimer Tomaten!“ durchzusetzen, an die Konsumenten – und zwar an die Kunden der „in den USA omnipräsenten Mexican-Fastfoodkette Taco Bell“. Die Gewerkschaft forderte sie auf, diese Kette zu boykottieren – und war damit so erfolgreich, dass Taco Bell sich schließlich bereit erklärte, höhere Löhne und einen besseren Rechtsschutz für die Erntearbeiter zu garantieren.
Diese Strategie der organisierten „Hands“ klingt wie ein Beispiel aus dem Lehrbuch „No Logo“ von Naomi Klein. Der Münchner Soziologe Ulrich Beck spricht dabei von einer neuen medial sich inszenierenden Konsumentenmacht: „Warum der einzelne Konsument ein bestimmtes Produkt nicht kauft, ist gar nicht so wichtig, es kommt doch darauf an, daß es nicht kauft. Was zählt, sind gerade massenhafte Mit-Nichtkäufer.“
In früheren Zeiten setzten Streiks am „Verhältnis zwischen Firma und Arbeitern an,“ während man jetzt beim Boykott „an den Beziehungen des Unternehmens zu den Konsumenten“ ansetzt, meint dazu, Heinrich Geiselberger, Herausgeber eines Suhrkamp-Readers – über neue Arbeits- und Widerstandsformen: „Und jetzt?“ betitelt, in dem er u.a. auf die CIW zu sprechen kommt, deren neuartige Arbeitskämpfe – „Campaigning“ und „Organizing“ – er auch den deutschen Gewerkschaften nahelegen möchte. Das 2004 von der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di herausgegebene „Schwarzbuch Lidl“ hält er bereits für einen richtigen Schritt in diese Richtung. Neuerdings spricht auch die IG Metall von erfolgreichem „Campaigning“. Das herausragende Beispiel für die neue Konsumentenmacht stellt für Geiselberger jedoch der Autofahrer-Boykott gegen Shell dar, mit dem in diesem Fall verhindert wurde, dass der Konzern seine Ölplattform „Brent Spar“ in der Nordsee versenkte. Der angloamerikanische Neoliberalismus hat seine Gegner anscheinend gleich mitgebracht: die bewußten – d.h. ethisch wählerischen – Käufer. In der atomisierten, gewerkschaftsfreien, Gesellschaft können die Menschen sich aber auch fast nur noch als Konsumenten auf dem Markt zusammenfinden, und das auch nur noch quasi statistisch.
Dem vorangegangen war die Umwandlung der bäuerlichen Landwirtschaft in einen industriell geführten Zulieferbetrieb für Supermarkt- und/oder Fastfood-Ketten, d.h. aus dem Farmer wurde ein Subunternehmen – und dieses muß sich hüten, „das Vertrauen seiner Kunden zu verlieren“. Karl Marx sah diesen Prozeß der „Expropriation der Ackerbauern“ ausgehend von England mit „historischer Unvermeidlichkeit“ 1882 als bereits vollzogen an. Dem auf die Zerstörung der Allmende in Westeuropa folgenden „bäuerlichen Parzelleneigentum“ gab er keine Chance: Es werde unweigerlich der „von Kapitalisten betriebenen Landwirtschaft“ weichen müssen. Die meisten Marxisten folgten ihm später in dieser Einschätzung: „Es ist unsere Pflicht,“ so schrieb z.B. Friedrich Engels, „den Bauern die absolute Rettungslosigkeit ihrer Lage klar zu machen.“
Wenn aus Bauern und ganzen Agrarregionen das Logo eines Lebensmittelbetriebs wird – „Chiquita“, „Spreewaldgurken“, „Chianti“, dann gewinnt der „Fair Trade“ im Gegensatz zur „Fairen Saisonarbeit“ übergreifende Bedeutung, indem er den Konsumenten über die Zusammensetzung der Ware bis hin zu denen aufklärt, die dafür ihre Arbeitskraft hergaben. Mit ihnen kann der kritische Konsument jedoch nur dann solidarisch sein, wenn er über genügend Geld verfügt – d.h. seine Kaufkraft dafür einsetzen kann. Der Soziologe Boris Holzer spricht hierbei von einer „Politik im Supermarkt“. Es geht dabei um die mindestens zeitweilige Veränderung von an sich stummen Kaufgewohnheiten, denen die Aktivisten der neuen Gewerkschaft gewissermaßen eine „Stimme“ für sich – die der in ihr organisierten Erntehelfer nämlich – verleihen. Die Gewerkschaft der deutschen Saisonarbeiter in der Landwirtschaft, die IG BAU, hat sich dieserhalb bereits 2004 an der Gründung des „Europäischen Verbandes der Wanderarbeiter“ beteiligt. Der EVW geht von 300.000 legalen Erntehelfern allein in der deutschen Landwirtschaft aus, hinzu kämen noch einmal so viele Illegale. Daneben arbeitet die IG BAU noch lose mit der internationalen KleinbäuerInnen- und Landarbeiter-Organisation „Via Campesina“ (der bäuerliche Weg) sowie mit der französischen Gewerkschaft „Confédération paysanne“ zusammen.