vonHelmut Höge 07.08.2008

Hier spricht der Aushilfshausmeister!

Helmut Höge, taz-Kolumnist und Aushilfshausmeister, bloggt aus dem Biotop, dem die tägliche taz entspringt. Gonzo-Journalismus der feinen Art.

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Seltsam, Waffendienst und Landarbeit – beides war den Juden stets verwehrt worden. In Palästina bzw. Israel haben sie jedoch nicht nur das eine mit dem anderen verbunden, sondern in beidem sind sie auch noch Weltspitze geworden. Wenn man heute in einem südostasiatischen Hotel das Glück hat, alle Fernsehprogramme – von Bombay bis Wladdiwostok – empfangen zu können, stößt man Nachmittags laufend auf israelische Agrarlehrfilme. Mal geht es dabei um eine neue Frucht oder Fisch- bzw. Tierzucht, mal um eine neue Ernte- oder Bewässerungstechnik.

Die landwirtschaftlich und militärisch tätig gewordenen „neuen Juden“ unterschieden sich bereits in der zweiten Generation auch physiognomisch erheblich von ihren eingewanderten Eltern, den „Ghetto-Juden“, wie Arthur Koestler nach dem Besuch einiger Kibbuzim 1926 begeistert schrieb. Über keine Landwirtschaft auf der Welt wurden seitdem so viele Bücher veröffentlicht wie über die Kibbuzim, und das, obwohl die Kibbuzniks ihren Kindern immer predigten: „Du darfst nicht extravagant sein, nicht so klug – nicht herausragend,“ wie die in einem Kibbuz bei Haifa aufgewachsene Filmemacherin Tal Sterngast meint. Zu den Kibbuz-Prinzipien gehört die Ablehnung der Arbeitsteilung, die gemeinschaftliche Erziehung der Kinder, Gemeinschaftsküchen, das Rotationsprinzip bei den Arbeitsplätzen, Gemeineigentum an den Produktionsmitteln, die Ablehnung privater Vermögensbildung und die Trennung von Leistung und Konsum.

Dennoch taten sich die „Pioniere“ lange Zeit schwer, z.B. die Aufhebung der Trennung von Hand- und Kopfarbeit, die u.a. der marxistische Erkenntnistheoretiker Alfred Sohn-Rethel als unabdingbar für den Sozialismus begriff, auch zu verwirklichen. Die „Hände“ waren immer wichtiger als Lehrer und Intellektuelle.

Michail Gorbatschow riet den sowjetischen Kolchosen, sich bei ihrer „Umgestaltung“ den israelischen Kibbuz zum Vorbild zu nehmen. Als er dies vorschlug, ging es jedoch bereits mit den israelischen Kibbuzim bergab. Die „Kibbuz-Krise“ begann in den Achtzigerjahren. Bereits im Zweiten Weltkrieg errichteten die Kibbuzniks auf Drängen der Engländer erste Industrieproduktionen. Mit der Zeit geriet dabei die Landwirtschaft als Einnahmequelle immer mehr in den Hintergrund. Man stellte dafür erst orientalische Juden und arabische Hilfsarbeiter ein, später thailändische und rumänische Gastarbeiter, obwohl die Lohnarbeit generell abgelehnt wird. Es wurden Manager, Spezialisten und Berater herangezogen, die nicht einmal im Kibbuz leben mußten und mitunter sogar religiös waren, außerdem mit ihren hohen Gehältern das Kibbuz-Gleichheitsprinzip verletzten. Dann verließen immer mehr Jugendliche den Kibbuz nach ihrer Schulausbildung (jetzt gibt es allerdings einige von ihnen gegründete „Urban Kibbutz“). Und es setzte eine immer umfassendere Privatisierung ein: Strom wurde privat abgerechnet, die Kantinen verpachtet, Privatkonten zugelassen, einige Produktionsbereiche in Aktiengesellschaften umgewandelt usw..

Die Zürcher Soziologin Andrea Vonau kam 2005 zu dem Schluß, „dass sich immer mehr Kibbuzim von einigen der ideellen Grundprinzipien verabschieden und dass die schon existierenden Ungleichheiten im wirtschaftlichen Bereich sich auch negativ auf das Gemeinschaftsgefühl und die Solidarität auswirken“. Zur Kibbuzkrise trugen wesentlich auch die Ablösung der Arbeiterparteien, die mit der Kibbuz-Bewegung eng verbunden waren, durch die Rechtsregierung von Begin sowie die darauffolgenden Wirtschaftsreformen von Peres bei: Während man den Kibbuzim zuvor jederzeit billige Kredite gewährt hatte, mußten diese nun teuer zurückbezahlt werden. Die Banken verhängten eine Kreditsperre. Vielen Kibbuzim drohte daraufhin der Bankrott, den sie u.a. mit Privatisierungen abzuwenden versuchten. 1984 wird allgemein als das Jahr angesehen, in dem die Krise begann. Insgesamt gibt es seitdem „deutliche Bestrebungen, eine Erhöhung der individuellen Freiheit und mehr Marktwirtschaft in den Kibbuzim zuzulassen, sprich: von den kommunitaristischen Grundideen des Kibbuz zugunsten individuellen Leistungsdenkens abzurücken,“ resümiert Andrea Vonau, die allerdings nur einen Autor fand, der das „als uneingeschränkt positiv und absolut ungefährlich für das kibbuzische Leben bezeichnet“. In der Wochenzeitschrift der Kibbuzbewegung Takam heißt es dagegen: „Wir tragen die Kibbuz-Ideologie zu Grabe.“ Inzwischen steckt auch die israelische Armee in einer Krise..

Die ersten vier Auswanderungswellen (Alija) – zwischen 1882 und 1948 – bestanden fast ausschließlich aus russischen Juden, denen die Dorfgemeinschaft, das kollektive Wirtschaften und der Sozialismus gewissermaßen zur Zweiten Natur geworden waren. Erst mit den darauffolgenden Alijas kamen auch Juden aus Westeuropa, Afrika, Asien und Angloamerika ins Land. Für den linken Westberliner Politologen Fritz Vilmar haben die Kibbuzim das Eindringen „kapitalistischer Wirtschaftsregeln“ vor allem den US-amerikanischen Kibbuz-Einwanderern zu verdanken. Verstärkt wurde deren Einfluß natürlich auch durch den „Zusammenbruch des Sozialismus“ sowie durch die schleichende Amerikanisierung aller israelischen Lebensbereiche, die die in Deutschland bei weitem übertrifft, zumal sie einhergeht mit einer weltweiten Renaissance der Religionen. In Israel lesen heute sogar die Ex-Stalinisten, -Trotzkisten, -Anarchisten und Rätekommunisten in den noch existierenden Kibbuzim und Alterheimen die Bibel wie ein Grundbuch (Kataster). Gibt es eine dümmere Bibel-Lektüre?

Teilgenossenschaften (1)

Immer wieder gab es Konzepte und Versuche, Totalgenossenschaften, die Arbeit und Leben umfassten, zu gründen. Die letzten diesbezüglichen Experiment, das waren die israelischen Kibbuzim, einige Hippie- und Landkommunen sowie partiell auch noch die sogenannten Alternativbetriebe. Sie knüpften dabei an die herrschaftsfreien Organisationsformen sogenannter primitiver Völker an, die man auch als „urkommunistisch“ bezeichnet. Der Genossenschaftssoziologe Friedrich Fürstenberg spricht hierbei auch von einem „naturvolklichen Genossenschaftstyp“.

Inzwischen denken auch viele Kibbuzim, die sich marktwirtschaftlich angepaßt haben, darüber nach, ob sie nicht eine Teilgenossenschaft in Form einer Genossenschaft oder einer losen Dorfgemeinschaft (Moschawim) bilden sollen. Ende 1981 fand in Tel Aviv ein „Kommunetreffen“ statt, organisiert und durchgeführt von einigen Kibbuzim. Aus der BRD reiste eine Landkommune aus der Nähe von Kassel und eine Gruppe aus der Frankfurter Arbeitslosenselbsthilfe Krebsmühle“ (ASH) an, sowie die Schriftstellerin Ulrike Kolb. Am Treffen nahmen außerdem noch einige Leute aus der kanadischen Landkommune „Twin Oaks“, vier Longo Mai-Kommunarden, die Mitglieder einer belgischen und einer französischen Kommune, ein Genosse aus Italien und einer aus dem dänischen „Freistaat Christiania“ sowie ein Mitglied einer neuseeländischen Landkommune teil. Und natürlich viele Kibbuzniks, die während der Tagung die Hauptreferate hielten.

Ein immer wiederkehrender Punkt der Auseinandersetzung war die Betonung der Wichtigkeit der ökologischen Betrachtungsweise seitens der ausländischen Gäste und der von ihnen kritisierte allzu lässige Umgang der Kibbuzim mit Pestiziden, Herbiziden, etc. sowie Kunstdünger. Die Gäste kamen fast alle aus antistaatlichen Projekten, während sich die Kibbuzim bewußt als Keimzellen des israelischen Staates verstehen. Von den Kibbutzniks wurde immer wieder die Frage der Ökonomie angeschnitten. Dabei stießen insbesondere die Longo-Mai-Leute auf Kritik, die sich weigerten, die finanziellen Quellen ihres 30 Millionen Mark-Projekts aufzudecken (es handelte sich dabei um Leute aus einem österreichischen Longo-Mai-Pionier- Holzfällerlager-Projekt, das dazumal von der ältesten Tochter des marxistischen Erkenntnistheoretikers Alfred Sohn-Rethel initiiert und geleitet worden war, sie hatte vorher lange in einem israelischen Kibbuz gelebt und gearbeitet.)

Es kamen aber auch noch andere Probleme zur Sprache in Tel Aviv: Neue Beziehungen zwischen Männern und Frauen, die Kindererziehung und die Organisation der Arbeit, ferner das so genannte Generationsproblem (30 bis 50% der im Kibbuz Geborenen verlassen diesen irgendwann). Zu den erregtesten Debatten kam es in Tel Aviv auf dem Kommunetreffen, als der Genosse aus Christinia darüber berichtete, daß und wie sie dort mit Fixern, Kiffern, Punkern, Rumhängern, Dropouts, Pennern, etc. zusammenleben würden, zusammenleben müßten in gewisser Weise. Die meisten Kibbuzniks hatten für die Tolerierung derartiger „Laster“ wenig oder gar kein Verständnis. Es hat lange gedauert, bis sie in diesen Pionier- und Wehrsiedlungen überhaupt Künstler akzeptierten.

Ein von der Landarbeit freigestellter Künstler, der in einem Kibbuz bei Tel Aviv lebt und aus Mexiko stammt („dort war ich immer der Jude, hier bin ich für den Rest meines Lebens der Mexikaner“) erzählte, dass die Kibbuzniks zwar einen hart arbeitenden Künstler, wenn er mit Hammer und Meißel auf riesige Steine losgeht, durchaus anerkennen, aber wenn er zu leise arbeitet oder gar bloß nachdenkt, dann werden sie sofort mißtrauisch: „Der macht sich auf unsere Kosten einen faulen Lenz“. Dabei sollte eigentlich die Trennung von Leistung und Bedürfnis in den Kibbuzim selbstverständlich sein.

Teilgenossenschaften (2)

Die letzten Teilgenossenschaften, die ich näher kennenlernte, waren die Viehzüchter-Genossenschaften in der Wüste Gobi. Sie waren von der deutschen Gesellschaft für technische Zusammenarbeit initiiert worden, zuvor hatte bereits der ostdeutsche Mongolist und Feuerwehrmann Fred Forkert im Auftrag der Konrad-Adenauer-Stiftung in eine ähnliche Richtung dort gearbeitet. Viele einst von den Sowjets erbaute Brunnen waren nach der Wende zerstört worden oder verfallen, weil nicht mehr tief genug; einige Seen waren ausgetrocknet – und ganze Saxaul-Wälder abgefressen. Diese in großem Abstand voneinander wachsenden Sträucher, die immer wieder aus dem Sand, den der Wind um sie anhäufelt, herauswachsen, werden von den Viehzüchtern auch zum Heizen verwendet. Die Arbeit der GTZ besteht u.a. darin, sie zu überreden, statt des Saxaulholzes Briketts aus Viehdung zu verwenden. Ihnen wurden dafür spezielle Öfen für die Jurten zur Verfügung gestellt, die von den Schmieden heute nachgebaut werden. Die Viehzüchterfamilien mußten nicht lange agitiert werden: Sie stehen inzwischen selbst an vorderster Front des Naturschutzes im Nationalpark Gurvansaikhan, der 5,4 Millionen Hektar umfaßt.

Nach der „demokratischen Revolution“ 1989 wurden alle Kolchosen im Land aufgelöst und jeder Mongole bekam 100 Stück Vieh – egal, ob er als Friseur, Fahrer oder Buchhalter gearbeitet hatte. Viele dieser „Ich-AGs“ gaben bald auf – besonders nach den zwei harten Wintern 1999 und 2000, da Millionen Tiere verhungerten. Die übriggebliebenen Viehzüchter wurden von der GTZ motiviert, sich zu Kollektiven – „Communities“ – zusammen zu schließen. Wenn von der GTZ hier die Rede ist, sind damit deutsche und mongolische Förster, Dolmetscher, Biologen und Geographen gemeint – hauptsächlich Frauen. Und bei den Nomaden sind es sogar fast auschließlich die Frauen gewesen, die Schulungen in ressourcenschonender Weidewirtschaft besuchten und die (geringen) finanziellen Hilfen in Anspruch nahmen, um z.B. holländische Spinnräder oder Milchverarbeitungsgeräte anzuschaffen.

Über 80 Viehzüchter-Kooperativen gibt es inzwischen in der Südgobi – mit einer eigenen Zeitung, den „Community News“, die von der GTZ in Ulan Bator gedruckt wird. Die Viehzüchter-Communities in der Gobi benutzen teilweise schon für ihre Umzüge Jeeps bzw. Motorräder mit Anhänger. „Die nomadische Wirtschaftsweise ist eine ökologische Notwendigkeit,“ erklärte uns der GTZ-Projektleiter, „d.h. sie sollen ziehen und nicht auf der Stelle treten, um Überweidung zu vermeiden.“ Wo das noch nicht in ausreichendem Maß geschieht, sprechen Mongolenforscher wie der FU-Professor Janzen von „Neuen Nomaden“ – so wie anderswo von „Neuen Russen“ oder „Neuen Tschechen“ die Rede ist – seit 1990. Das häufigste neue Delikt ist seitdem der Viehdiebstahl, erfahren wir von einem Juristen in Dalanzadgad. Hinzu kam anfänglich noch die „Armuts-Wilderei“, die jetzt jedoch – in der Gobi zumindest – von der „Neureichen-Wilderei“ übertroffen wird. Die Ärmeren haben sich dagegen auf das halblegale Goldschürfen verlegt, was besonders wegen der dabei verwendeten giftigen Chemikalien ein Problem ist. Diese „Ninjas“ will man jedoch nicht bestrafen, sondern wie z.B. in Indonesien ebenfalls in Communities und Genossenschaften organisieren.

Während die deutsche und holländische Entwicklungshilfe bei den Ärmsten unter den Viehzüchtern ansetzte, pickt sich die amerikanische die wenigen Reichen heraus, um sie gemäß des neoliberalen „Trickle-Down-Effekts“ derart zu unterstützen, dass sie seßhafte Viehbarone werden, deren Herden von lohnabhängigen „Cowboys“ umgetrieben werden. Eine der Genossenschaftsvorsitzenden erklärte uns: „Nach 1990 war jede Familie auf sich selbst gestellt, und sie wanderte so gut wie gar nicht. Das konnte nur durch die Communities gelöst werden. Das sind Kollektive wie im Sozialismus, aber diesmal bestimmen wir selbst, was zu tun ist. Etwas 2000 Viehzüchter haben sich bisher hier zusammengeschlossen. Schon im ersten Jahr 1999 haben wir das Positive daran gemerkt. Nach sieben Jahren können wir nun sagen, dass es richtig war. Wir haben uns kundig gemacht, wie die negative Entwicklung zustande kam. Außerdem haben wir jetzt bessere Möglichkeiten, unsere Produkte zu vermarkten. Wir bekommen bessere Preise für Kaschmirwolle und Leder, die Schafwolle verarbeiten wir selbst. Die Wilderei hat völlig aufgehört und keine Familie sammelt mehr Feuerholz. Wir wissen heute, wie die Natur zu verbessern ist. Außerdem waren wir drei Mal im Ausland, haben viel gesehen und sind auf neue Ideen gekommen.

Es gibt eine starke Landflucht in der Mongolei, aber bei uns nicht, da sich unser Lebensniveau verbessert hat. Auch die Qualität unserer Herden. Es gibt wieder eine Veterinärbetreuung für die Tiere, das machen die Japaner. Die Community-Unterstützung durch die deutsche GTZ wird demnächst von den Neu-Seeländern fortgeführt. Auch wir sind international geworden, so arbeitet z.B. eine Frau in der ‚World Alliance of Mobile Indigenous People‘ mit.“

Eine GTZ-Mitarbeiterin ergänzte dies aus ihrer Sicht: „Man darf nicht als Experte auftreten und muß hier vor allem immer buchstäblich von der ‚Graswurzel‘ aus denken. Das Problem am Anfang war, dass die Frauen nicht zu den Gemeindeversammlungen in die Bag-Zentren gingen, sondern bei den Jurten blieben. Die GTZ hat deswegen Info-Jurten aufgestellt, wo sie sich treffen konnten. Inzwischen sind schon 80% der Community-Leader Frauen.“

Ein Viehzüchter meinte: „Früher wurde alles von oben organisiert, dann kam plötzlich die Marktwirtschaft. Wir sind die ersten in der Mongolei, die aus dem Dunkeln rausgekommen sind. Unser Beispiel macht inzwischen Schule. Früher hockte jede Familie auf einer Stelle, jetzt ziehen wir in der Regel vier mal im Jahr um.“

Eine Viehzüchterin erzählte: „Es gibt auch große Veränderungen im Verhältnis zwischen Mann und Frau. Die Frauen waren vorher immer nur zu Hause mit Kindern, haben wenig untereinander geredet. Und die Männer waren nicht gut genug ausgebildet, um die richtigen Entscheidungen treffen zu können, sie haben viel gegessen und getrunken. Bereits das erste Meeting mit dem Naturschutzprojekt, wo die Idee des Zusammenschließens begründet wurde, hat uns die Augen geöffnet. Seitdem hat es viele Veränderungen in unserem Leben gegeben. Ich bin selbst ein Beispiel dafür: Obwohl eine einfache Viehzüchterin habe ich mich in den letzten Jahren sehr verändert und mein Leben verbessert. Wir sind 35 Familien, 144 Menschen und haben 7000 Tiere. 1999 ging es nur sechs Familien gut, der Rest war arm. Wir hatte keinen Zugang zu Informationen und waren zerstreut.“

Eine andere Viehzüchterin erinnert sich: „Den Anfang haben fünf Frauen gemacht – sie sind raus aus den Gers [das mongolische Wort für Jurten]. Dann kamen mehr dazu. Wir haben Einfluß auf die Männer genommen. Und mit ganz kleinen Sachen angefangen, uns gegenseitig zu helfen. Das war ein langsamer Prozeß. Wir haben z.B. Zäune gemeinsam repariert, die Weiden von Tierkadavern gesäubert, mit Behörden verhandelt, Kurse im Gemüseanbau für uns organisiert…Dann haben wir im Bag-Center für Geld gearbeitet und den Armen dafür Vieh gekauft. Unser Fähigkeit zu kooperieren hat sich immer mehr verbessert.. Gleichzeitig mußten wir die Balance zwischen Familie und Kollektiv finden.“

Ein älterer Viehzüchter erklärt uns abschließend: „Die Frauen haben die Ideen, die Männer setzen sie um.“

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https://blogs.taz.de/hausmeisterblog/2008/08/07/genossenschaften_7/

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kommentare

  • Zu den Nomaden-Genossenschaften in der Mongolei seit noch ein Satz aus den „Bewässerungsromanen“ des ansonsten von mir sehr geschätzten Odessaer Schriftstellers Konstantin Paustowski nachgetragen. Er stammt aus „Kara-Bugas“ oder „Die Wolga fließt ins Kaspische Meer“:

    „Nomaden!“, schrieb er darin, „brecht eure Zelte ab. Stoppt eure Wanderungen durch die tote Wüste und werdet endlich Arbeiter!“

    Selten hat jemand so viel Scheiß in einem Satz geschrieben:
    1. ist die Wüste nicht tot („Die Wüste lebt“ hieß schon ein wunderbarer Disney-Naturfilm)
    2. Wenn die Nomaden ihre Wanderungen stoppen, dann erst wird die lebendige Wüste tot.
    3. Arbeiter zu werden – um wohlmöglich Waren zu produzieren, am laufenden Band, das ist ja wohl die beschissendste Perspektive, die man jemandem anbieten kann. Schlimm genug, dass der Kapitalismus im Westen Millionen und Abermillionen von Bauern und Nomaden durch Enteignungen zwang, Arbeiter zu werden, Paustowski will im Schwung der nachholenden Kapitalisierung/Modernisierung der Sowjetunion auch noch, dass die Nomaden dabei mithelfen – und freiwillig ihre bisherige Lebensweise aufgeben, um Arbeiter zu werden, also dass sie sich selbst verblöden und verelenden. Was für ein Staats-Idiot!

  • Die NZZ berichtete über eine Kibbuz-Ausstellung, die so ganz anders ist als die, über die die taz 18 Jahre vorher berichtete (s.o.):

    Unlängst öffnete im Helena-Rubinstein-Pavillon des Tel Aviv Museum die Kunstausstellung «Gemeinschaftsübernachtung – Gruppe und Kibbuz im kollektiven israelischen Bewusstsein» ihre Pforten. Nostalgische Erinnerungen an die sozialistischen Gemeinschaftssiedlungen, die über Jahrzehnte das Image Israels in Europa beeinflussten und jedes Jahr Hunderte Freiwilliger anzogen, werden durch die Präsentation jedoch kaum geweckt. Stattdessen wird der Besucher mit den Traumata von Künstlern konfrontiert, die im Kibbuz aufwuchsen und ihre ersten Lebensjahre im kollektiven «Kinderhaus» verbrachten. Dutzende Handtücher vor der Gemeinschaftsdusche, dicht gereihte Teller auf einem langen Tisch im Speisesaal, zehn Mädchen, die – vernetzt durch ein rot gestrichenes Metallrohr – über Springseile hüpfen, erwecken beklemmende Gefühle. Ihren Titel gab der Ausstellung eine fünf Meter lange Skulptur von Ziv Ben-Dov – sechs liegende Menschen, die derart miteinander verwoben sind, dass die Füsse einer Person auf der Brust der nächsten ruhen und alle sechs einen einzigen Körper bilden. Mit ihrer Hauptaussage, die Kibbuzmitglieder seien nicht zu wahrer Kollektivität, sondern zu einer grauen Masse bar jeder Individualität sozialisiert worden, entspricht die Ausstellung durchaus dem Zeitgeist.
    Mythos Kibbuz

    Das sozialistische Experiment ist – auch in Israel – gescheitert. Die heutige Dämonisierung des Kibbuz jedoch richtet sich nicht nur gegen seine kritikwürdigen Extreme – etwa das «Kinderhaus». Die Vision vom gleichberechtigten Zusammenleben der Menschen widerspricht grundsätzlich einer Welt, die durch Konsumorientierung, Medienmanipulation und Egoismen vielfältiger Art geprägt ist – durch Beschwörung einer Individualität, die letztlich, mehr als der Kibbuz, eine konforme und uniformierte Masse zeugt. Nicht alle Besucher sind mit der durch die Ausstellung vermittelten Botschaft einverstanden. Im Gästebuch, in verschiedenen Tageszeitungen und im Internet regt sich heftiger Widerspruch.

    Die Kibbuzbewegung entsprach den Vorstellungen und Erfordernissen ihrer Entstehungszeit. Beeinflusst von utopisch-sozialistischen Ideen und zionistischer Agrar-Romantik, begannen jüdische Zuwanderer aus Osteuropa während der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts in Palästina genossenschaftlich organisierte landwirtschaftliche Siedlungen – Kibbuzim und Moschavim – zu errichten. Sie erblickten in ihnen die produktive Möglichkeit, den Boden in Besitz zu nehmen, sich wehrhaft im Land zu verwurzeln und den Chaluz, den körperlich tätigen «neuen» Menschen, als Gegenbild zum Diaspora-Juden zu formen. Die Gemeinschaftssiedlungen modifizierten in der Folgezeit nicht nur die demographischen und wirtschaftlichen Strukturen Palästinas. Sie brachten auch eine weltlich geprägte jüdische Kultur und Bildung hervor. Nicht wenige jüdische Migranten – Holocaust-Überlebende und Angehörige späterer Zuwandererwellen – fanden auch nach 1945 im Kibbuz die erste Heimat in Israel.

    Die Kibbuzmitglieder verstanden sich als Teil der israelischen Arbeiterbewegung. Als Ziel definierten sie «die Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft, die auf wirtschaftlicher und sozialer Gleichheit basiert». Privateigentum und Lohnarbeit waren verpönt. Anstehende Arbeiten wurden nach dem Rotationsprinzip verrichtet, die Erlöse der gemeinsamen Arbeit zu gleichen Teilen unter den Mitgliedern verteilt. Beschlüsse fasste nur die Vollversammlung. Die Mahlzeiten wurden gemeinschaftlich im Speisesaal eingenommen; die Kindererziehung oblag jahrzehntelang dem Kollektiv. Erst während der achtziger Jahre wurden die meisten Kinderhäuser geschlossen bzw. in «normale» Kindergärten verwandelt.

    Um im Konkurrenzkampf der Wirtschaftssektoren und der Exportorientierung bestehen zu können, musste sich der Kibbuz immer wieder dem sich verändernden gesellschaftlichen Rahmen anpassen. Bald beschränkten sich viele Gemeinschaftssiedlungen nicht mehr auf die Landwirtschaft; sie errichteten Industriebetriebe bzw. Serviceunternehmen und stellten Lohnarbeiter ein. 1993 resultierte bereits ein Drittel ihrer Einnahmen aus nichtagrarischer Tätigkeit. Die Abkehr von der Landwirtschaft setzte sich im folgenden Jahrzehnt in schnellem Tempo fort.
    Ein Kunstmuseum wider den Zeitgeist

    Drei Generationen – die ideell hoch motivierte, sozialistisch inspirierte Gründergeneration, die Kinder der Pioniere, denen individuelle Werte und das Leben in der Familie bereits wichtiger erschienen denn kollektive Bezüge, und die durch Mediengesellschaft und Konsumdenken geprägten Enkel – haben die Kibbuzidee verwirklicht bzw. wurden durch sie geformt. Insbesondere die dritte Generation verwandelte die Genossenschaft von einer landwirtschaftlichen Kommune zu einer vorwiegend von industrieller Produktion, Tourismus und anderen Dienstleistungen lebenden Kooperative. Heute dominieren Privatisierungs- und Auflösungstrends den Kibbuz, und viele Genossenschaften verwandeln sich in «normale» dörfliche Gemeinden.

    Aus der Kibbuzbewegung ging ein bedeutender Teil der sozialistisch-zionistischen Elite Israels hervor, die über Jahrzehnte die Geschicke des Staates lenkte. Neben hochrangigen Politikern und Militärs durchliefen auch nicht wenige israelische Künstler das «Kinderhaus» und lebten bzw. leben in Kibbuzim. Zu ihnen gehören die Schriftsteller Nathan Schacham und Amos Oz, die Kinderbuchautorin Fania Bernstein, die Dichter Nathan Jonathan und Abba Kovner, die bildenden Künstler Moshe Kupfermann, Yechiel Shemi, Ori Resman und viele andere. Sie gaben mit ihrem Schaffen vielfältige Impulse für die Ausformung der heutigen israelischen Kultur.

    Vor dem skizzierten Hintergrund verwundert es nicht, dass das drittgrösste Kunstmuseum des Landes in einem Kibbuz, in Ein Charod, beheimatet ist. Es wurde 1937 durch den Maler Chaim Atar, einen aus der Ukraine zugewanderten jüdischen Anarchisten, gegründet. Wie seine derzeitige Direktorin, Galia Bar-Or, betont, ist das Museum wider den Zeitgeist geschaffen worden. Seine Initiatoren verstanden Kunst und Kultur als Medium und Klammer zwischen Stadt und Land bzw. zwischen Industrie und Landwirtschaft.
    Plädoyer gegen Individualismus

    Auch heute wolle das Museum nicht in erster Linie «normale israelische Kunst» präsentieren, sondern spezifische Aspekte künstlerischer Kreativität, die in den staatlichen Galerien von Tel Aviv und Jerusalem unterbelichtet blieben, in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rücken. Die jetzige Ausstellung traditioneller palästinensischer Keramik aus Hebron oder die «Luftaufnahmen aus Gaza» von Nurit Gur Lavy (Karni) gehören ebenso dazu wie die Ausstellung des in Ein Charod lebenden Fotografen Schai Aloni, der 70 jüdische «Kämpfer» porträtierte.

    Die Kibbuzausstellung im Tel Aviv Museum charakterisiert Bar-Or als «einseitig». Die in Ein Charod geborene und aufgewachsene Kunstwissenschafterin wendet sich insbesondere gegen den Untertitel der Ausstellung, mit dem die Traumata kollektiver Erziehung auf die gesamte israelische Gesellschaft übertragen werden: «In dem Augenblick, in dem eine konkrete Erscheinung aus ihrem gesellschaftlichen Kontext gelöst wird, wird sie leicht zur Karikatur.»

    Mit ihrem Plädoyer gegen die in Israel – und in der westlichen Welt – zunehmenden Auswüchse des übersteigerten Individualismus und für eine solidarisch orientierte Gesellschaft steht Bar-Or zweifellos im Gegensatz zum aktuellen Zeitgeist – wie auch der Kibbuz Ein Charod, der nach wie vor schwarze Zahlen schreibt und bisher Privatisierungsmassnahmen nicht in Erwägung zieht. Die auf dem Gelände der Gemeinschaftssiedlung befindlichen zwei Museen, der produktive Kunstverlag, ein gewinnträchtiges Architektenbüro und ein Open-Air-Theater sind – ebenso wie die landwirtschaftlichen und industriellen Anlagen – Gemeinschaftseigentum; die annähernd 400 Kibbuzmitglieder erhalten weiterhin kein Gehalt. Ein «Kinderhaus» freilich – so erzählt eine ehemalige Kindergärtnerin – habe es in Ein Charod nur in den schweren ersten Jahren gegeben. Individuelle Talente und Biografien seien stets gefördert worden. In der Kombination von Kollektivgeist und individueller Selbstverwirklichung liege letztlich der Schlüssel zum Erfolg – auch in Ein Charod.

    Angelika Timm

  • Der Israel-Korrespondent der taz, Georg Baltissen, berichtete 1997 zuletzt über einen Kibbuz:

    Im Kuhstall des Kibbuz Pelekh arbeitet ein ehemaliger Basketballspieler von ZSKA Moskau. Die Gründerfamilie der landwirtschaftlichen Genossenschaft stammt aus Wolgograd, dem ehemaligen Stalingrad. Die Aushänge im Kibbuz Pelekh, das auf einem abgelegenen Hügel im Norden Galiläas liegt, tragen kyrillische Schriftzeichen. Untereinander können sich die Einwohner des Kibbuz alle mühelos auf russisch unterhalten. Denn sie alle sind russische Einanderer. Pelekh ist der erste und bislang einzige rein „russische“ Kibbuz in Israel.

    Der Kibbuz selbst, von dem man einen traumhaften Blick auf die Hafenstadt Haifa genießen kann, hat eine wechselhafte Geschichte. Viele Versuche, das Genossenschaftsleben hier wieder zum Leben zu erwecken, scheiterten. Die jungen Leute zog und zieht es immer noch in die großen Städte. Der Streit darüber, ob unterschiedliche Arbeiten unterschiedlich bezahlt werden sollten, spaltete diesen Kibbuz wie zahlreiche andere auch. Manche Kibbuzniks unterhielten Bankkonten, die sie vor den anderen Mitgliedern geheim hielten. Wegen Fehlinvestitionen und unrentabler Produktionen sind auch die Kibbuzdachverbände in Israel zum Teil hoch verschuldet.

    „Wir haben keine feste Ideologie“, sagt Theresia Tarasiuk, Gründerin, Managerin und Sekretärin des „russischen“ Kibbuz. Und so haben sie beschlossen, den Privatbesitz von Autos zuzulassen. Das vor allem auch deshalb, weil längst nicht alle Einwohner in der Landwirtschaft arbeiten wollen. 90 Prozent der russischen Kibbuzniks haben einen Universitätsabschluß. Einige haben sich schlicht geweigert, in der Landwirtschaft zu arbeiten. Insbesondere bei der Milchproduktion und -verarbeitung mangelt es an Arbeitskräften. „Wir suchen nicht nach den idealen Kibbuzniks“, sagt Tarasiuk, „es genügt, wenn niemand hier dem Kibbuz Schaden zufügt.“

    1991 entschlossen sich die Tarasiuks, die den Zusammenbruch des vorherigen Kibbuz erlebt hatten, zur Gründung eines eigenen, selbstgeleiteten Kibbuz. Der Kibbuzverband Artzi schaltete Anzeigen in der russischsprachigen Einwandererpresse, um weitere Familien zu gewinnen. Dreizehn Einwandererfamilien zog es danach in den Norden Galiläas. Fünf Jahre nach der Gründung honorierte der Kibbuzverband die einmalige Initiative und baute Steinhäuser für die heute rund zwanzig Familien, ließ den Kuhstall erweitern und auch eine Hühnerfarm bauen. Für den Verband war es immerhin der erste Kibbuz in den vergangenen zwölf Jahren, der neu aufgenommen werden konnte.

    Auch wenn sie grundsätzlich nicht gegen die Aufnahme neuer, auch „israelischer“ Mitglieder sind, wollen die „Russen“ vorerst lieber unter sich bleiben. Schon beim Essen unterscheiden sie sich. Im eher kargen Speisesaal mit Plastikstühlen und blanken Tischen gelten Borscht und Hering als Lieblingsspeisen. Besonderes Markenzeichen in Pelekh ist eine riesige Satellitenschüssel, die nach Moskau ausgerichtet ist und das russische Fernsehen empfangen kann. Und den Platz vor dem aus Fertigbauteilen konstruierten Verwaltungsgebäude haben die Einwohner „Roter Platz“ getauft. Mit Heimweh nach dem untergegangenen sowjetischen Imperium hat dies nichts zu tun. Die Einwohner im Kibbuz Pelekh haben gelernt, Initiativen zu ergreifen. Das Sprichwort aus kommunistischen Zeiten: „Jede Initiative findet ihre eigene Strafe“, gilt für sie längst nicht mehr.

  • „Natürlich haben wir uns das nicht so vorgestellt“, sagt Aviva Weisgal. Die 52-jährige Therapeutin mit den wilden roten Locken sitzt in ihrer Küche im Kibbuz Harel. Mit „wir“ meint sie die Pioniere der Jugendbewegung HaSchomer HaZair, mit denen sie vor mehr als 30 Jahren aus Amerika in ihr ländliches Kollektiv kam. Sie war damals, mit 19 Jahren, aus eigener Sicht eine „professionelle Zionistin“, die an die Kibbuz-Ideale glaubte.

    Gegründet wurde Harel 1948 zwischen Jerusalem und Tel Aviv. Lange Zeit war er ein klassischer Kibbuz mit Speisesaal, Kinderhaus, regelmäßigen Versammlungen, hauptsächlich landwirtschaftlicher Arbeit für die Mitglieder und Löhnen in Form eines kleinen, einheitlichen Taschengeldes. Eine Gemeinschaft, in der es kaum Privateigentum gab und in der Zusammenhalt alles bedeutete. Im Kinderhaus schliefen und lebten die Kleinen getrennt von ihren Eltern. Heute erinnert daran nur noch der Name. Auch die gemeinsamen Mahlzeiten sind Geschichte.

    Der Kapitalismus ist eingekehrt. Der Kibbuz bezieht heute seine Haupteinnahmen aus Tourismus, Kinderbetreuung und der Vermietung von Wohnraum. 15 Familien leben in einigen der kleinen Häuser mit Terrassen und grünen Gärten, ohne direkt Mitglied der Kibbuz-Gemeinschaft zu sein.

    Viele der 50 Mitglieder, Kibbuznikim genannt, wiederum arbeiten außerhalb des Kibbuz, während nun thailändische Gastarbeiter Harels Felder bewirtschaften. Vor zwei Jahren wurde außerdem das egalitäre Entlohnungsprinzip abschafft: Nun wird jeder entsprechend seiner Leistungen bezahlt. Ein Wäschereimitarbeiter beispielsweise verdient weniger als die Leiterin des Kinderhauses. Auch ihr Privatleben gestalten die Kibbuzmitglieder heute individueller als früher.

    So berichtete Isabelle Nguyen in „Die Welt“ über einen Kibbuz – im Mai 2008. Ähnlich klingen die meisten Reportagen über Kibbuzim in den letzten Jahren.

    Weil viele sich auf den Tourismus konzentriert haben, findet man jetzt die meisten Kibbuzim auch im Internet – mit eigenen Webpages, um Gäste zu acquirieren.

  • Auf der genossenschaftswissenschaftlichen Tagung in Köln im Oktober 2008 referierte auch ein israelischer Wissenschaftler, der sich auf genossenschaftliche Betriebswirtschaft spezialisiert.

    Er hatte zunächst in Israel an einem Kibbuz-Forschungsinstitut studiert. Dieses wurde und wird jedoch immer mehr abgewickelt bzw. umpositioniert. Er ging daraufhin an die Agrarfakultät der TU München nach Weihenstephan. Hier hatte der Rektor der TU ebenfalls die genossenschaftswissenschaftliche Forschung in den Jahren nach der Wende immer mehr zurückgeschraubt. Mit dem wieder gestiegenen Interesse an Genossenschaften, Wir eGs, Kollektivbetrieben etc. wurde jedoch auch das diesbezügliche Forschungsinstitut in Weihenstephan jetzt wieder reattraktiviert bzw. ausgebaut.

    Der israelische Wissenschaftler arbeitet derzeit an seiner Doktorarbeit in Gießen, wo es ebenfalls eine agrarwissenschaftliche Forschung und dabei auch einen genossenschaftswissenschaftlichen Bereich gibt. Über die anhaltende israelische „Kibbuz-Krise“ meinte er bloß lapidar: „“Das Land hat sich für Hightech-Entwicklung und -Produktion entschieden und verabschiedet sich deswegen langsam aber sicher von der Landwirtschaft.“

    In der Vergangenheit hat es auch immer wieder Kibbuzim gegeben, die neben ihrer Landwirtschaft industrielle Vorstöße in den High-Tech-Bereich wagten. Da sie sich jedoch nun vielerorts auch als Lebensform auflösen, ist nicht mehr damit zu rechnen, dass sie auch in diesem Bereich Vorreiter sein werden.

    Es kann im Gegenteil sogar sein, dass wir es irgendwann bei den Kibbuzim – ähnlich wie bei der DDR – mit einem abgeschlossenen Forschungsgebiet zu tun bekommen.

  • 2004 interviewte die taz israelische Künstlerin Tal Sterngast. Sie wurde 1972 in der Nähe von Haifa, im Kibbuz Hasorea, geboren. Die Agrarkooperative wurde einst von Deutschen, die zur linken zionistischen Jugendbewegung gehörten, begründet, indem sie das Land Arabern abkauften. Die Großeltern mütterlicherseits kamen aus Berlin und hießen Stern, woraus dann im Hebräischen Kochavi wurde. Der Großvater väterlicherseits kam aus Polen und hieß Sterngast. Ihre Mutter war nicht gerade erfreut, als ihre Tochter den Nachnamen wieder rückübersetzte.

    1981 gingen ihre Eltern in die Schweiz, um dort zu arbeiten, sie nahmen Tal mit. Als sie im Alter von 13 Jahren – zunächst allein – nach Hause zurückkehrte, war ihr dort alles fremd geworden: „Die Kibbuzbewegung befand sich in den Achtzigerjahren in einer Identitätskrise – auch ökonomisch: Wie geht es weiter? Es schien, dass man nach all den Kämpfen doch wieder beim Kleinbürgertum angekommen war. Ich ging aufs Kibbuzgymnasium, wo ich mich langweilte.“

    Erst mit 16 Jahren entdeckte Tal Sterngast, dass in Israel auch Araber leben. Das war zu Beginn der ersten Intifada. Sie las damals die Bücher der so genannten neuen Historiker, die sich mit der Geschichte und der Gründung Israels sowie mit dem Palästinenserkonflikt befassten: „Die neuen Historiker haben mit ihrer Demythifizierung der Geschichte das ausgedrückt, was ich damals empfand. Wir hatten als Kinder eine sehr ideologische Ausbildung, es war ein bisschen wie eine DDR-Kindheit. Aber plötzlich wacht man auf – und sieht: Es gibt arabische Dörfer, die nicht einmal einen Namen haben – sie existierten gar nicht.“

    Gleichzeitig stellte der wachsende Einfluss Amerikas Sterngast vor neue Probleme: „Meine Generation geriet direkt in diese Gesellschaftskrise Israels. Im Kibbuzdenken existierte das Individuum nicht.“ Den Kibbuzniks war nur noch die Struktur ihrer Ideologie geblieben, nicht mehr der lebendige Inhalt. Am Ende waren es nur Gebote, an die sich Sterngast heute noch erinnert: „Du darfst nicht extravagant sein, nicht so klug – nicht herausragend …“ Während ihres Studium an der Kunsthochschule in Tel Aviv war es die befreundete Dichterin Effi Mischori, die Sterngasts erste Lesungen und Performances organisierte. Damals kamen gerade die postmodernen Theorien nach Israel, man las Foucault. Daneben beschäftigte sich Sterngast aber auch noch mit jüdischer Philosophie: „Die sozialistischen Zionisten hatten die religiösen Texte lange Zeit vernachlässigt. Aber jetzt, da man auch in einer Glaubenskrise steckte, besann man sich wieder auf die alten jüdischen Denker.

    Ich habe mich gefragt: Warum bin ich in Israel? Meine Mutter aber sagte: ,Wenn du weggehst, dann weiß ich – wir haben dich falsch erzogen.‘ “ 1991 musste Sterngast zum Militär. Sie kam zu einer „Educational Unit“, wo sie Ausbildungsprogramme entwickelte. Zusammen mit zwei anderen Frauen fuhr sie mit einem Van zu den Basen und stellte didaktische Programme zusammen, z. B. zum Thema: Was ist Demokratie? „In der israelischen Armee hat es stets auch soziale und demokratische Ziele gegeben, sie war mit der Zivilgesellschaft eng verknüpft – und an diesen Punkten kamen immer die Frauen ins Spiel“, erinnert sich Sterngast, die in Tel Aviv stationiert wurde.

    Nach dem Militär setzte sie 1994 ihr Kunststudium fort, wechselte aber dann zur Kunsthochschule nach Jerusalem. „Ich wurde dort immer introvertierter. Es gab kaum Kulturtreffpunkte in Jerusalem, und es wurde immer brutaler. Ich spreche nicht über Gewalt. Es wurde in psychologischer und auch finanzieller Hinsicht härter. Es war eigentlich keine Stadt mehr – eher ein Exil, sowohl für Juden wie für Araber. Ich jobbte neben dem Studium als Putzfrau.“

    Für ihre Ausstellungen wählte sie inszenierte Fotos von Frauen in Landschaften. Die Frauen waren uniformiert, z. B. als Krankenschwestern. Weil ihr der künstlerische Weg aber noch unklar war, immatrikulierte sich Sterngast 2001 an der Berliner UdK, in der Klasse von Heinz Emigholz. Dort stand ihr das nötige Film- und Videoequipment zur Verfügung, „und Emigholz unterstützt mich auch heute noch aus der Ferne“. Sie begann mit Dokumentarfilm zu arbeiten, weil dabei ihre Text- und Bildgeschichten allmählich zusammenfanden. Als erstes begleitete sie eine israelische Sängerin mit der Kamera durch Berlin: „Es ging dabei um unsere Beziehung, unsere Familien und über Fremdheit.“ Dann drehte sie eine Serie von Interviews, in denen ihr zehn deutsche Bekannte die Frage beantworteten: „Kannst du mir eine Geschichte erzählen, in der du dich noch immer schuldig fühlst? Und wenn du könntest, was würdest du heute zu dieser Person sagen?“

    Als Sterngast neulich nach Israel zurückfuhr, merkte sie, dass sie gar kein Zuhause mehr dort hat. Ihre Eltern waren in Kanada und sie fand im Kibbuz nicht einmal mehr einen Platz, um ihr Gepäck abzustellen. Im Gegensatz zu ihrem in Israel lebenden Bruder hat sie nun das Gefühl, überall in der Emigration zu sein – und das bereits in der dritten Generation. „Durch meinen Umzug nach Deutschland hat sich jedoch dieses Gefühl der Fremdheit nach außen gestülpt: die fremde Sprache, die hier gesprochen wird, ist real. Aber die Situation als Emigrantin hier bedeutet auch, du machst was die ganze Zeit – auch wenn du nur die Verpackung von Waschpulver liest. Selbst auf eine Party zu gehen ist Mühe.

    Die Emigration – das ist ein Projekt!“ Man merkt diese Veränderung jedoch erst im Nachhinein. Als Sterngast jetzt wieder in Israel war, schien es ihr, „als wäre die Luft dort dünner – ohne viel Widerstand“. Inzwischen ist sie in Berlin verheiratet und hat ein Kind.

  • Die taz berichtete 1987 über ein internationales Land-Art-Symposium, organisiert von der damaligen Kibbuz-Kunstakademie Tel Hai, nahe der libanesischen Grenze:

    Mit uns „Feuilletonisten“ war die Auslandsredakteurin der „tageszeitung“ nach Israel gereist. Sie wollte nicht die Kibbuzkünstler, sondern einige palästiensische Politaktivisten interviewen. Während wir alle Gast-Privilegien des Staates genossen und in allen möglichen Kibbuzim übernachteten, wurde sie derart offensichtlich beschattet, dass sie schließlich ihre Reise abbrach.

    Zunächst waren Maimon, Penny, Elidor, Neta, Shoshi, Uri und Yossi nur wegen ihrer flotten Ar- beitsweise aufgefallen. Die Land- wirtschaftsbrigade,die sich bald nur noch das ,,A-Team“ (- eine TV-Serie aus den USA, hier war damit jedoch das ,,Avocado-Team“ gemeint) nannte, konnte einfach am schnellsten die Plantagen durchkämmen, die Fruchtreife am sichersten feststellen und am, gründlichsten abernten. Obgleich die Arbeit am Avocado nicht gerade zu den angenehmsten gehört, wollte keiner die Gelegenheit zur Versetzung in weniger anstrengende und allgemein beliebtere Tä- tigkeiten (wie Gartenpflege, Kinderhege, Verwaltung oder Tourismus), wahrnehmen.

    Suspekt wurde das den übrigen Kibbuzniks aber schon eher, als sie sich einer saisonal bedingten Aufgabenzuweisung unter fadenscheinigen Vorwänden verweigerten. Nun begann man auch das (im Grunde völlig normale) allabendliche Zusammenglucken des A-Teams argwöhnisch zu beäugen. Ihr Geselligkeitstribut an die Gemeinschaft hatte sich seit Wochen auf den freitäglichen Besuch der Bunkerkneipe beschränkt (diese friedenszeitgemäße Umnutzung eines besonders verwinkelten Schutzraumes als Bar war im Zuge des Kibbuz-„Contests ‚Unser Bunker soll schöner werden'“ 1986 eingerichtet worden), Aber selbst nach reichhaltigem Genuß des ,,Macabears“, einer nach dem Macabäer-Stamm benannten obergärigen Biersorte, war aus den Avocado-Professionals nichts herauszuquetschen außer lapidaren Bekenntnisssen zum Plansoll und ziemlich verschwafelten Phrasen zur ,,Kreativität der Natur“ oder der ,,organischen Symbolstrukturierung“.

    Hanina, die Frau von Yossi, reichte beim Wochenplenum eine Beschwerde ein: ihr Mann höre ihr überhaupt nicht mehr zu, er sei völlig vernagelt und vernachlässige auch die Kinder. Maimons Freundin Rena schloß sich Haninas Antrag auf Bewilligung gtrennter Appartements an – ,,die spinnen doch irgenwas aus, ich mach das nicht länger mit“. Noch während das Mitgliedergremium über die Familien-Schlichtungsstrategien beriet, kam es auf unerwartete Weise zum Knall: Der Pilot der Pflanzenschutzmittel-Spritz-Truppe hatte bei einer unbotmäßigen Luftschleife eine für ihn verstörende Entdeckung gemacht. Der Produkivitätspragmatiker glaubte seinen Augen nicht zu trauen. Die Pflanzungen verliefen im Slalom, nein, im akkuratesten Zick-Zack, genauer gesagt – im ,,Zick-zack a double zick-zack“. Aus der Überfliegerperspektive ergaben die minimalistisch angewinkelten Parallelen eine Textur, ein Fischgrätmuster, das je nach Anflugrichtung in verschiedenen Grünphasen changierte. Je tiefer er die Plantage überflog, desto schneller schienen ihm die Farbflecken zu implodieren. Im letzten Moment riß er die Maschine nach oben.

    Die Abweichung vom linearen Prinzip der Anpflanzung konnte nicht weiter verborgen bleiben; schließlich wurden mühsam eingeführte Traditionen in Zweifel gezogen; wiederholt fiel das Wort ,,Generationskonflikt“. Hatten die Pionierältesten nicht bereits in der Frage der Kinderaufzucht nachgeben müssen? Nicht allein, daß vor einem halben Jahr das Recht auf Privatkinder rehabilitiert worden war — und infolgedessen die gesamten Paarwohnungen einer baulichen Vergrößerung bedurften, die Kinderhäuser dafür zu Hobbywerkstätten umfunktioniert werden konnten –, man mußte auch noch einer Re- naissance der Heiraterei bei den eigenen Kindern tatenlos zusehen. Massenhaft drückten vor allem die jungen Frauen den Wunsch aus, ihre Blagen selbst aufzuziehen – ein Luxus.auf den die Erste Generation mit guten Gründen verzichtet hatte, ganz abgesehen von seiner damals materiell-existentiellen Undenkbarkeit. Separatistische ,,Stalinisten“ auf hoffnungslosem Posten stellten immer wieder die ,,Ver- kleinbürgerlichung des Kibbuzes“ an den Pranger. Gemäß der Kibbuzstatuten der Vereinigten Kibbuzbewegungen, § 66, aber ließ sich keine Ablehnungsgrundlage finden: ,,Der Kibbuz sorgt für alle materiellen, sozialen und kulturellen Bedürfnisse, soweit dies in seiner Macht steht, wobei die wirtschaftliche Entwicklung… nicht außer acht gelassen werden darf.“

    Im Fall des A-Teams dachte man nach dem ersten Kulturschock an Sanktionen, statuierenswerte Exempel, bald an integrative Maßnahmen, um das unkontrollierte Phänomen der Regelstörung wieder auf die Reihe zu kriegen. Andererseits war vom leistungsorientierten Standpunkt eben nichts gegen die Parallelverschiebung in der Geometrie der Avocado-Kultur einzuwenden.

    Schließlich vertraute man sich dem Urteil des ,,Mountainmans“ an, mit dessen unkonventionellen Vorschlägen man schon mehrere heikle Situationen gemeistert hatte. Der in Johannesburg gebürtige David Fine, Kibbuznik der ersten Stunde in Mayan Barruch und ein mit Staatsaufträgen geadelter Bildhauer, attestierte dem A- Team künstlerische Talente. Und obgleich es den Genossen an Ehrfurcht und Ahnung vor ,,Kunstwerken“ gebrach, wurden die befremdlichen Handlungen nunmehr ohne Einwendungen geduldet, wenn auch auf Widerruf. Die Jugendlichen des Videokreises bekamen sogar die Erlaubnis, inmitten der Haupterntezeit eine Dokumentation zu drehen, die dann unter großem Applaus an Roshana, dem jüdischen Neu- jahrsfest gezeigt wurde. Das pfiffig gemachte A-Team-Video lief fast der eigentlichen Sensation in der feierlichen Jahreschronologie den Rang ab: dem Chicken-Catcher, einer mechanischen Hühn- cheneinfangvorrichtung.

    In der Art eines ,,behutsamen Resozialisierungskonzeptes“ wurde das A-Team ehrenhalber mit der Umgestaltung des Befestigungs-Grünstreifens beauftragt. Mit der Toleranz, bald Anerken- nung, solch zweckfreier Agrikultur-Ästhetizismen mußte man zu- nehmend den Anträgen einiger Individualisten auf Privilegien statt- geben. Ein Kibbuz mit ca. 700 Bewohnern/300 Mitgliedern leistet sich derzeit durchschnittlich den Luxusvon 2 Vollkünstlern. David Fine setzte diese Freiräume mit jahrelanger Überzeugungsarbeit durch: Nach den ersten nationalen Erfolgen wurden ihm zunächst einer, dann zwei Wochentage zur Kunstausübung gewährt, in einem ungenutzten Lagerschuppen durfte er sich ein veritables Atelier einrichten: Nicht ganz unabhängig vom finanziellen Ertrag seiner Skulpturen, die dem Kibbuz zukommen, nahm das wohlwollende Interesse zu, obgleich einige der Altvordersten eindringlich vor Neoparasitismus warnten. Ein schlechtes Gewissen darüber, eine für den Kibbuzorganismus nicht notwendige Arbeit zu leisten, sei immer latent vorhanden — meinten fast alle der ambitionierten Teilzeitkünstler. Das stundenlange Im-Schatten-Sitzen und Vor-sich-hin-Grübeln, während die übrigen Kibbuzniks die verschiedensten Felder bestellen, stößt nicht auf allzu großes Verständnis. Aber in jeder Künstlerbrust selber hat das Fleißethos seinen unbestechlichsten Zensor: Man will etwas von Bestand schaffen, und dafür arbeitet man gerne und schwer. Spitzfindige Belanglosigkeiten oder postmoderne Divertissements befremden das gesunde Kunstempfinden des Gemeinsinns denn doch: Zur Besinnlichkeit hat David Fine, der mittlerweile nur noch am Sabbath die Kühe melkt und versorgt, kaum mehr Zeit.

    Als Direktor der ,,Kibbuz Artist Association“ ist er Anlaufstelle für alle Künstler(aspiranten), die er betreut, berät, beschwichtigt und in ihren Forderungen nach stufenweiser Freistellung und Materialien unterstützt. Zugleich ist er Knotenpunkt zu den wirtschaftlichen Interessen des Kollektivs, die er auf der Gegenseite vermitteln muß. Um dem Selbstbewußsein der Kibbuzkünstler Aus- und Nachdruck zu verschaffen, wurde 1980 das erste ,,Contemporary Art Meeting“ auf Initiative von Mrs. und Mr. Baumann veranstaltet — mit Geldern des Regional Council of Kibbuz Organisation und dem Verwaltungsapparat des Art Colleges in Tel Hai (Aussiedlerhof und Vorposteninstitut der Universität Haifa), an dem die diesjährigen Mitorganisatoren David Fine und Igaal Meron Kunstunterricht geben. Das Kuratorium für das nun- mehr dritte Art-Meeting war Flor Bex vom Antwerpener Museum an- getragen worden, um regionalistische Cliquenwirtschaft zu unterbinden und dem Ereignis internationalen Rang zu geben. Und tatsächlich sprachen einige Skulpturenboulevard-geschulte Israelis von einer ,,Middle East Documenta“ — wobei solch Urteilsvermögen durch starke Sonnen- und Sozialstrahlung euphemisiert war. Ein zum Abschluß-Symposium geladener Kritiker aus Jerusalem flammredete allerdings gegen das Hinterwäldlerische, mit dem hier die heile Natur zum Kunstthema gemacht werde: ,,Art has to deal with socialised and defined nature!“- was keiner der 32 beteiligten Künstler aus dem In- und Ausland ernstlich bestreiten wollte. Man hörte, der aufgekratzte Städter sei bloß als intellektueller Stimmungsmacher hier, quasi zur Verlängerung des Theater- und Performance-Begleitprogramms ins Diskursive. Der kommunikative Faktor ,,war das Wichtigste“ – darin sind sich die geschlauchten Organisatoren wie die ,,müden, aber glück- lichen“ Künstler mit den rund 20.000 Besuchern in vier Tagen einig.

    Arthur Goldstein, Jerusalemer Architektursoziologe, der gerade aus Aspen kam, warf in die Abschlußdiskussion noch ein, daß es in Amerika mehr und mehr um die Auftrittsästhetik als um Sinnladung gehe. Was geschah vor Ort „Tel Hai liegt am Arsch der Welt, aber es ist sehr hübsch da“, sagten alle nach dem Weg befragten Taxifahrer in Tel Aviv. Man kann mit dem Linienbus in 3 1/2 Stunden nach Quirat Shimona fahren, die paar Kilometer von der Endstation trampt oder läuft man leicht. Hier gehört es sich noch, Anhalter mitzunehmen; die meisten sind Wehrpflichtige auf dem Weg von oder zu ihrer Einheit, die ,,fröhlichste und jugendlichste Armee der Welt“ hitchhiked ihren Weg.

    Zunächst fahren wir den Jordan hoch zu seinem dreiarmigem Ur- sprung, sein breites, fruchtbares Tal entlang, durch die Ebene der seit 20 Jahren trockengelegten Hula-Sümpfe und des -Sees, an computergesteuerten Fischproduktionsteichen vorbei, aus denen die schlachtreifen Fische mit Förderbändern rausgeholt werden. Die satte Agrikultur erinnert an mediterrane Gartengeometrien – Baumwolle, Orangen, Avocados. Nur an den Rändern träfe Mark Twains Beschreibung des gelobten Landes (von 1867) noch zu: ,,Palestine is desolate and unlovely. Even the olive and the cactus, those friends of a worthless soil. had almost deserted the country.“

    Mittlerweile streckt sich das Jordantal wie ein feist-fruchtiger Zeigefinger in die Kartografie: im Osten von den Golanhöhen be- grenzt, im Norden bis zum Berg Hermon, der Burg Nimrod, dem alttestamentarischen Anfang der Welt und mittelalterliche Kreuz- , ritterbastion, imOsten zu den libanesisch beunruhigten Höhenzügen, im Süden, auf dem Weg zum offenen Meer, der See Genezareth, wo das echte Paradies gewesen sein muß. Am Fingernagel, kurz vor der Landesgrenze, liegt das Art College Tel Hai und ein zur künstlerischen Nutzung freigegebener, landwirtschaftlich unergiebiger Hügel des Kibbuz Kefar Giladi.

    Ein vom Ausstellungsgremium abgelehnter Künstler stellt sein Objekt aus drei Blechfahnen mit Eroberergestus am Straßenrand auf. Eine bleierne Präsenz und lächerlich einsame Inbesitznahme des ersehnten ,,Homelands“. 1907 als Außenposten und Pioniersiedlung angelegt, wurde Tel Hai — ,,hill of life“ — nach einer dubiosen Araberattacke von 1920, bei der sechs Männer und zwei Frauen, darunter der Held Joseph Trumpeldor, den Tod fanden, zu einem Symbol des jüdischen Heimatkampfs. Heute ist der ehemalige Gerichtshof zum Geschichtsmuseum aufbereitet und im Innenhof eine provisorische Bühne eingerichtet worden. Ein Tanztheater aus Belgien führte eine ,,, lustig-melancholische“ Zweipersonen-Collage auf, bei der man sich befremdlich an Weill’sche Akkordrhetorik erinnert fühlte. Ein Intermezzo im Vergänglichen. Doch das Art-Meeting sollte über den kommunikativen Happeningcharakter hinaus durchaus auch bleibende Werte setzen.

    Den ausgewählten 18 israelischen Skulpteuren, davon acht aus ei- nem Kibbuz, sowie den eingeladenen Künstlern aus Belgien, Holland, USA und der BRD war die Bildung wetterfester Kunstwerke ans Herz gelegt worden. Bollwerke aus Kultur: ,,here we are“. Die artifizielle Form des Wehrdorfes greift auf die Urform der Landkultivierung zurück. ,,Es geht“, laut David Fine, ,,nicht um Natur, vielmehr um Kunst in einer kultivierten Landschaft“. Die erscheint zunächst monumental, selbstherrlich, oftmals rücksichtslos hingeklotzt: graniterne Brückenmetaphern (Bernie Fink), tönerne Tunnel (Hava Mehutan) und symbolische Barrieren aus Gußbeton (Ilan Keter). Die karge, felsige, stachelige Landschaft wird zum Park mehr oder minder unbequemer Fragezeichen. Von romantischem Respekt vor der Natur kann nicht die Rede sein. . Am Hang, der den Mischwald begrenzt, ironisierte der Franzose Patrick Raynaud die absurde Konstellation aus Kunst und Natur. Behutsamer und verspielter gingen die BRDler mit dem Auftrag um. Der wald- schrätige Nils Udo verweigerte sich zum Ärgernis der Veranstalter gänzlich dem Ewigkeitsdiktat, indem er betont vergängliche Freiluft-Inszenierungen aus Grashalmen und ·wasserlöslich-bemalten Steinchen arrangierte. Der Hannoveraner Tautologien- und Erst-Ideen-Manufakturist Timm Ulrichs installierte ontop of the hill die heilige Schrift aus Marmor, zwischen dessen Zeilen wiederum die Natur selbst in Gestalt junger Olivenbäume zu Wort kommen solle. Am Anfang war das Zeilenmaß. Der Rheinländer Joachim Baridau schürfte vorsichtig – und wie ein guter Zahnarzt alle potentiellen Schmerzorte kennend – in den fremden Felsboden hinein. ,,Die ungeheure Schwere der Luft“( Lenz) senkte sich in die Höhlungen. Mit eisernen Pflastern versiegelte und markierte er die Wunden – wuchtig und präzis, neben ihm wirkten die europäischen Schöngeister leicht deplaziert in der Landschaft. Die meisten ließen sich ihre Objekte von drusischen Handwerkern mit schweren Baumaschinen aufrichten. Die flämische Delegation umspielte zwei extreme Auffassungen vonLand-Art. Paul Gees integrierte ein stilisiertes Blätterbündel aus Metall an einem sieben Meter langen, sanft geschwungenen Holzstengel in einen Eukalyptus- baum. Eine vorsichtige Synthese aus Kunst und Natur zur Preisung der letzteren. Kalkwerklnt., Ludwig Vandervelde, installierte ein quadratisch eingezäuntes Terrain mit drei tonnenartigen Black-Boxes und zwei Rosensträuchern. ,,Show me the land you’ve wasted“. Bewußt wird der aggressive Eingriff in die Natur thematisiert, das Kunstobjekt ist Katalysator einer Begrifflichkeit der zerstörten Natur. Das in den Rosen verknospte Verlangen nach Harmonie erscheint nur noch als Zitat, uneinlösbar. Das ,,A-Team“ hat damit keine Probleme.

  • Eine Zeitung, die immer mal wieder gerne über Kibbuzim berichtet, ist „Der Rabe Ralf“ der Grünen Liga Berlin. Zuletzt in der August-September-Ausgabe 2008 über die „Öko-Landwirtschaft im Kibbuz Kturah in der Negevwüste“

    Zuvor hatte die „Umweltzeitung“ einen Text von Meinhard Creydt aus Streifzüge Nr. 35, November 2005, Wien; Sozialistische Hefte, Nr. 9, Köln, 2005; Graswurzelrevolution, Nr. 305, 34. Jg., Münster 2006 übernommen, in dem der Autor am Schluß seines Textes auch auf die Kibbuzkrise zu sprechen kam:

    Manche sprechen von einem „Niedergang der Kibbuzim“ (Kapeliuk 1995). Die Zahlen sind nicht eindeutig: Die Kibbuz-Bevölkerung hat sich zwischen 1992 und 1998 um 14.000 bzw. 11 % verringert. Von 1998 – 1999 stieg sie um 2300 Personen (Feingold-Studnik 2002, 46). Busch-Lüty (1989, 124f.) berichtet von einer „durchschnittlichen Abwanderungsquote von 40 bis 50 % junger Kibbuzniks in den letzten Jahren“ und von einer durchschnittlichen Zuwanderung in den 70er Jahren von 1000 neuen Kibbuzmitgliedern aus der israelischen Gesellschaft. In den 80er Jahren habe es durchschnittlich jährlich 2000- 3000 Neueintritte gegeben bei einem Verbleib in den Kibbuzim von 60 – 70%.

    Über die Höhe der Einkommen in den Kibbuzim gibt es unterschiedliche Angaben. Die Differenz resultiert möglicherweise aus den verschiedenen zugrundegelegten Zeitpunkten. Heinsohn spricht davon, die Einkommen im Kibbuz lägen „im oberen Sechstel der übrigen israelischen Einkommenspyramide“ (1982a, 344). Feingold-Studnik hält demgegenüber fest, „der Durchschnittslohn eines Kibbuznik im Industriesektor betrug 1999 rund 76.400 Schekel und liegt damit weit unter dem eines Beschäftigten im restlichen Israel, der durchschnittlich 89.700 Schekel erhielt. 1999 arbeiteten 72.400 Personen in den Kibbuzim, das entspricht zwei Dritteln von deren Gesamtbevölkerung; das verbleibende Drittel setzt sich aus Kindern, Soldaten und älteren Leuten zusammen“ (2002, 49). Die Arbeitszeit in den Kibbuzim ist länger als die in der israelischen Gesellschaft: 6-Tage-Woche mit jeweils 8 Stunden plus „verschiedene zusätzliche Pflichten laut Dienstplan (beim Abendessen, im Kinderhaus, Viehversorgung am Sabbath und an Feiertagen und überdies Wachdienst), die durch die kollektive Lebensweise begründet sind“ (Rosner 1982,128). Allerdings befreien die Kollektiveinrichtungen die Kibbuzmitglieder von Hausarbeit und den materiellen Aspekten der Kinderbetreuung. Es „ist die Eltern-Kind-Beziehung von Nützlichkeitsaspekten fast frei. Die Eltern müssen weder Essen zubereiten für die Kinder, noch sie waschen oder für andere Bedürfnisse sorgen. … Die Eltern können diese Dinge erledigen, soweit sie es wünschen“ (Rosner 1982, 129f.).

    Ein gravierendes Problem der Kibbuzim besteht in der Lohnarbeit, die mit der Industrialisierung der Kibbuzim an Umfang gewonnen hat. Die Zahl der Nicht-Kibbuz-Mitglieder, die (hauptsächlich im Industriebereich) im Kibbuz arbeiten, hat sich von 10.800 1991 auf 26.400 1999 erhöht (Studnik-Feingold 2002, 41). In der den Kibbuzim positiv gegenüberstehenden Literatur wird der Rückgriff auf externe Lohnarbeit daraus erklärt, dass – die für Fabriken notwendigen Größendimensionen unterstellt – kibbuzintern nicht genug „Personal“ vorhanden ist (Heinsohn 1982a, 345, Barkai 1982, 31). [5]

    Die basisdemokratische Struktur der Kibbuzim ist ebenfalls einem Wandel unterworfen, der auch (aber nicht nur) mit der Größenausdehnung der Kibbuzim zu tun hat. „Rationalisierung und Spezialisierungen nahmen dem obersten Entscheidungsgremium der Generalversammlung einige seiner Entscheidungskompetenzen“ (Feingold-Studnik 2002, 67). Zahlreiche Entscheidungen wurden in Ausschüsse verlagert. „Auch die Rotation ist nur noch bedingt verwirklicht, vor allem auf der obersten Leitungsebene wird sie immer seltener realisiert“ (ebd.). Der Gefahr, dass sich aus Hierarchien „Vorgesetzte-Untergebenen-Verhältnisse“ entwickeln, „wirkt man insofern entgegen, dass es weder monetäre Ausgleiche für ‘höhere Jobs’ gibt, noch gehören die Vorgesetzten einer höheren Gesellschaftsschicht an. So müssen auch die Vorgesetzten im Anschluß an die normale Arbeitszeit allgemeine Aufgaben des Kibbuz erfüllen (z. B. Wache halten oder im Chadar ochel arbeiten“ (Feingold-Studnik 2002, 108), dem Speisesaal des Kibbuz.

    Kapeliuk (1995) berichtet von einer Aufhebung der Lohngleichheit in den Kibbuzim. Feingold-Studnik schreibt über ihre Untersuchung in zwei Kibbuzim: „Obwohl eine Gehaltseinführung immer mehr Thema ist, wird sie von den Kibbuzim als Mittel der Steigerung der Arbeitsmotivation oder erhöhter Arbeitszufriedenheit abgelehnt. Nach wie vor ist die Arbeitsmotivation intrinsischer Natur und ideell gelenkt“ (136). Die Autorin resümiert ihre Untersuchung: „Das Prinzip der Gleichheit ist nach wie vor vorhanden; alle Chawerim (Plural von Chawer, dem Kibbuzmitglied – Verf.) haben den gleichen Lebensstandard. Jedoch ist die ehemals mechanische Verteilung von Konsumgütern einer bedürfnisorientierten gewichen“ (ebd. 98).

    Auch wenn in Bezug auf Gleichheit und Hierarchie in den Kibbuzim Aufweichungserscheinungen zu beobachten sind, so schließt dieser (selbst empirisch genauer zu befragende) Befund nicht die Interpretation aus, derzufolge das Projekt Kibbuz immerhin jahrzehntelang den Beweis für nützliche und vergleichsweise human gestaltete Arbeit unter der Voraussetzung von Gemeinschaftsbesitz und -leben sowie Ämter- und Arbeitsrotation erfolgreich ‘erbracht’ hat. Die Kibbuzim sind ein Gegenbeispiel zum Dogma, nur durch materielle Stimuli, Konkurrenz und wirtschaftliche Ungleichheit sei Leistung und Effizienz möglich. Und dieses praktische Beispiel zählt um so stärker, als es unter gesamtgesellschaftlichen Bedingungen erbracht wurde, die von den Maßgaben des Kibbuzim abweichen bzw. ihnen entgegenstehen. Die ‘Aufweichungserscheinungen’ würden dann nicht unmittelbar für die Unverträglichkeit von sozial sinnvoller Arbeit mit Gemeinschaftsbesitz und -leben sowie Verzicht auf Hierarchien und Arbeitsrotation sprechen, sondern gegen eine isolierte Maximierung von Effizienz, Spezialisierung und Wirtschaftswachstum. Die Aufweichungserscheinungen in den Kibbuzim in puncto Gleichheit und Hierarchie weisen dann eher auf den Umschlagpunkt hin, an dem die isolierte Maximierung von Effizienz, Spezialisierung und Wachstum ihre sozial abträglichen Effekte zeigt. Zwar erweisen sich Effizienz, Spezialisierung und Wachstum gegenwärtig in kapitalistischen Ländern als Pseudonyme, hinter deren sachlich-allgemeinmenschlicher Gestalt sich spezifische kapitalistischen Ursachen und Eigendynamiken verstecken (vgl. Creydt 2000). Das Kibbuz verdeutlicht, dass nachkapitalistische Sozialformen auf der Produktivkraftebene nicht mit Steinzeitkommunismus gleichzusetzen sind, zeigt aber auf vergleichsweise hohem Produktivitätsniveau den für nachkapitalistische Sozialformen existierenden Zielkonflikt zwischen Effizienzkriterien des Wirtschaftens und Kriterien der Arbeits-, Lebens- und Gestaltungsqualität.

  • Etwas voreilig titelte die deutsch-israelische Gesellschaft e.V. 2003 auf ihrer Webpage: “Kibbuz – Das Ende”
    – und wagte einen “stolzen Rückblick und einen nüchternen Ausblick”:

    Der Kibbuz ist ans Ende seines Weges gelangt. Diese Entwicklung ist nüchtern und realistisch zu betrachten, ohne Empfindungen von Versagen oder Tragik. Mit Stolz können wir auf unsere Vergangenheit blicken, aber unser Heute und unser Morgen sollten wir ganz nüchtern prüfen.
    Schon länger als ein Jahrzehnt werden die meisten Kibbuzim von einer schweren ökonomischen und sozialen Krise erschüttert. Dies hat uns in eine nicht minder ernste demografische Krise geführt, aus deren Würgegriff wir uns nicht befreien können. Die Betrachtung der juristischen und ökonomischen Fragen wie Aufteilung des Grundbesitzes, Anteilberechnung der Aktiva oder Kalkulation von abgestuften Gehaltstabellen möchte ich anderen überlassen. Einzig die spirituellen und emotionalen Aspekte will ich hier beleuchten.

    Die Gründerväter des Kibbuzes hissten zwei Banner: Die Flagge der zionistischen Pioniere zur Besiedelung und Aufbau des Landes und das Banner sozialer Gerechtigkeit, Kooperation und Gleichheit. Es war einer jener wunderbaren Augenblicke, die sich im Verlauf der Geschichte ganz selten ereignen, wenn das Sehnen der Einzelnen mit nationalen Bestrebungen und Idealen verschmilzt und sie füllt mit universellen gesellschaftlichem Inhalt. Die Kibbuzgründer haben die wichtigen Prozesse, die ihre Generation durchlebte, klug gewürdigt, sie nahmen Anteil an ihnen und vollendeten sich selbst in deren Verwirklichung.
    Zweierlei kann mit den Träumen der Menschen geschehen. Entweder werden sie wahr oder sie werden zerschmettert. Beides ist mit dem Kibbuztraum passiert. Der Aufbau dieses Landes innerhalb bestimmter Grenzen hat sich erfüllt.

    Doch der Traum, die Natur des Menschen zu verändern, wurde zerstört, wohl weil dies von vornherein nicht realistisch war. Nach der Gründung des Staates wurde sein Grenzverlauf festgelegt. So wurde die Bedeutung der Siedlungen als der Faktor, der Land und Grenzen bestimmt und garantiert, nach und nach immer geringer. Heute ist Besiedlung das private Lehen der West Bank-Siedler. Der zerschmetterte Traum bleibt Teil der Werte, auf denen der Kibbuz errichtet wurde und wie sie im Ehrenmal der Kibbuzbewegung nahe Degania mit knappen Worten in Stein gemeißelt sind: “Das Band von Brüderlichkeit, Zusammenarbeit und Gleichheit – In Arbeit, Besitz und Leben”.

    Der größere Teil dieser Werte hat der steinharten Realität nicht standgehalten. Mit den Jahren sind sie verkümmert, wurden verzerrt und verschmutzt; heute sind sie anachronistisch und irrelevant. Es wäre zwecklos, für ihren Fortbestand zu kämpfen. Wahrhaftig, es war ein so schöner Traum – nun ist er vorbei! Wir müssen schlicht und einfach zugeben, dass wir nicht im Stande waren, einen neuen Menschen zu schaffen, ja dass es unmöglich ist, die menschliche Natur zu verändern. Auch wir, die Mitglieder der Kibbuzim, sind menschliche Wesen und teilen all die Schwächen und Begehrlichkeiten der Menschheit. Wir sind ganz normale Sterbliche, die zu allererst interessiert sind an der eigenen Familie, am Gelderwerb und an einem hohen Lebensstandard. Und wir wollen im Stande sein, unseren Kindern etwas Eigenes zu vermachen. (Nein – ich kann ja kaum glauben, dass ich das geschrieben haben soll!)

    Diejenigen, die die Kibbuzidee entwickelten, haben sie nicht bis zum Ende durchdacht. Sie war maßgeschneidert für die Bedürfnisse einer Gruppe sorgenfreier junger Leute, nicht aber für eine vielschichtige Gemeinschaft mehrerer Generationen. Die ideologische Glut ist bei den Kindern und Enkeln der Gründer sowie bei den vielen, die nach und nach im Kibbuz ihr Zuhause fanden, längst abgekühlt. Die Mehrheit ist entweder wegen des bequemen und qualitätvollen Lebens im Kibbuz geblieben oder weil man sich den höheren Lebensstandard außerhalb ganz einfach nicht leisten kann.

    Der Kibbuz ist weder ein göttlicher Imperativ noch auch das Wort Gottes an Moses auf dem Sinai! Sobald er für die Probleme der Menschen, die hier leben, keine adäquaten Lösungen mehr bietet und wenn die Mehrzahl seiner Kinder nicht mehr zu ihm zurück kehrt, hat er seine historische Aufgabe erfüllt. Dann haben seine wesentlichen Werte nicht länger Gültigkeit. Der Kibbuz ist an sein Ende gekommen. Das ist der Lauf der Welt!

    Länger als ein Jahrzehnt hat mich das Geschehen um den Kibbuz nun schon schmerzlich gequält, lange habe ich es bedacht und daran geschrieben. Aus meinem Innersten habe ich diese Gedanken herausgerissen. Mein Weg, dem Kibbuzgedanken Adieu zu sagen, war unendlich lang und qualvoll, steinig und voller Pein, zum Verzweifeln traurig. Und immer noch steh ich da, in Tränen und Verwunderung.

    Heute habe ich die letzte Teilstrecke erreicht, meine Trauer zu verarbeiten. Heute schreibe ich das Schlusskapitel: “Kibbuz – Das Ende”. Die Erzählung hat keine Gewinner oder Verlierer. Keine Helden oder Schurken. Das Leben des Kibbuz hat sich ganz einfach erfüllt. Heute kann ich ohne jede Einschränkung, ohne Furcht oder Verlegenheit und ohne die Wahrheit zu beschönigen, aufrichtig, klar, offen und zuversichtlich feststellen: “Der Kibbuz ist an sein Ende gelangt!”. Doch gerade deshalb spüre ich heute mehr denn je die Notwendigkeit und das Bedürfnis, die Summe zu ziehen aus meinem eigenen Kibbuzleben. Aus unserem Kibbuzleben. Ich will Inventur machen. Ich will Gewinn und Verlust bilanzieren und das Haus meiner Emotionen für ein Weiterleben in Ordnung bringen.

    Ich fasse die Kibbuzvergangenheit zusammen und sage uns allen, den Gründern, die noch unter uns sind, ebenso wie ihren Kindern und Enkeln – Welch ein Privileg, an einem so gewaltigen historischen Unternehmen mitgewirkt zu haben! Wir waren erfüllt vom Geist einer nationalen und sozialen Mission, die unserem Leben einen visionären Inhalt gab. Wir wussten, wie man mit Entbehrungen, mit materieller Einfachheit und körperlichen Beschwerden fertig wird. Wir lebten bescheiden und unter enormem sozialem Druck. Wir ertrugen Einsamkeit, Isolation und Angst in den entlegensten Siedlungen an Israels Grenzen. Materiell waren wir arm, aber reich an Taten und Werten. Der Yishuv, die jüdische Gemeinschaft vor der Staatsgründung, sah uns als Elite und zollte uns Respekt für all unsere freiwilligen Entbehrungen. Im Zusammenhalt des Kibbuz war etwas Magisches: Das großartige Gefühl, Teil von etwas Wichtigem und Erhabenem zu sein, Teil einer Gemeinschaft, der du von dir gabst und die dich dafür spirituell und emotional reich machte.

    Befrage ich mich nach den lebhaftesten und anrührendsten Erinnerungen meines Kibbuzlebens, nach dem, was ich am allermeisten geliebt habe, so steigen stets zwei Bilder in mir auf. Beide zeigen das besondere Gewicht des Gemeinschaftslebens im Kibbuz. Beide sind mir sehr kostbar, das erste aus der Kindheit in meinem Geburtsort Beit Zera, das zweite aus den frühen Jahren in Ein Gedi, wo ich mein Zuhause gefunden habe. Ich habe die wirbelnden Kreise der Hora-Tänzer vor Augen: Ohne Pfennig kamen wir / die Armen von gestern / haben dem Schicksal vertraut / mit den Millionen von morgen. Und die Gemeinschaft stimmt leidenschaftlich ein: Schau und sieh / wie groß ist der Tag! So ein Auftrieb für die Seele ist ohne jeden Vergleich, ist Teil unseres Privilegs, das uns niemand nehmen kann.

    Heute möchte ich meinen Enkeln in die Augen sehen. Ihnen und der gesamten Generation, die vom Kibbuz nichts mehr kennt, will ich erzählen, dass wir, die Mitglieder der Kibbuzim, Anteil hatten an der Ehrfurcht gebietenden zionistischen Leistung von Geburt und Aufbau einer Nation. Dass wir stets bestrebt waren, die ersten und besten zu sein, und dass wir dabei oft auch erfolgreich waren. Dass unsere Hände stets ausgestreckt waren, um zu geben, nicht um zu nehmen. Ich will ihnen erzählen, dass wir Teil eines der aufregendsten Experimente waren, das jemals von der Menschheit insgesamt und vom wiedergeborenen Staat Israel im Besonderen angepackt wurde. Es ist kaum vorstellbar, was aus diesem Land, aus seinen Werten und seinen Grenzen ohne die Kibbuzbewegung geworden wäre.

    Aber jetzt, fast hundert Jahre nach der Gründung des ersten Kibbuz, erfährt das Leben im Kibbuz sehr weit reichende Veränderungen und nähert sich langsam seinem Ende. In wenigen Jahren wird die Mehrzahl der Kibbuzim zu normalen Gemeinschaftssiedlungen unterschiedlicher Art geworden sein. Dieser Prozess ist eine evolutionäre Entwicklung im Verlauf der Geschichte ohne Anzeichen von Misserfolg oder Tragik, die nüchtern und realistisch zu betrachten ist. Wir müssen die Tatsache, dass der Kibbuz an sein Ende gekommen ist, akzeptieren und haben die Periode des Übergangs zügig und weise, effizient und verantwortungsvoll zu gestalten, vor allem aber in fairem, kameradschaftlichem Geist. Meine liebe Mutter, lieber Vater, euch und der ganzen Gründergeneration, die ihr nicht mehr bei uns seid und die ihr unserem Leben in diesem Land die Richtung gewiesen habt – in Degania und Kinneret, in Ayelet Hashachar, Ein Schemer und Beit Alpha -, euch will ich versichern, dass wir die Jahrhundertfeier der Kibbuzbewegung im Jahr 2010 stolz und mit erhobenem Haupt begehen werden. Wir werden mit Stolz auf die Vergangenheit zurückblicken und werden die Gewissheit, etwas für unser Land geleistet zu haben, als Frucht unseres Lebens entgegennehmen. Wir werden etwas Bleibendes hinterlassen, weil wir in Eure Fußstapfen getreten sind mit der Erfahrung jenes besonderen Geheimnisses von Zusammengehörigkeit, ohne das dies alles nicht möglich gewesen wäre. Ich will euch versprechen, dass wir dafür Sorge tragen, diese großartige Saga, genannt “Der Kibbuz”, in größtmöglicher Freundschaft abzuschließen.

    Wenn es noch einmal sein wird, so lass es genau so sein!

    Ich wurde geboren, ich wuchs heran, traf meine Wahl, heiratete, gebar, kam in die Jahre, ich wurde begraben – im Kibbuz. Kein anderer Platz für mich!.

    Aus dem Englischen von Wilderich F. v. Boeselager
    Erschienen in “Hakibbutz” und “Haaretz”

    von Ayala Gilad

    (Ayala Gilad ist 1940 im Kibbuz Zera geboren. Ihre Eltern waren 1924 aus Polen eingewandert. 1960, während des Militärdienstes in der Hahal-Einheit – “zufällig” stationiert in Ein Gedi – lernt sie hier ihren zukünftigen Mann kennen und bleibt im Kibbuz Ein Gedi. Sie ist Mutter von vier Kindern und hat acht Enkelkinder. )

  • In der heutigen Le Monde Diplomatique findet sich ein Beitrag des Jerusalemer Historikers Schlomo Sand über die Bibel als Grundbuch:

    Wie das jüdische Volk erfunden wurde

    Für einen Israeli besteht kein Zweifel, dass das jüdische Volk existiert, seit es auf dem Sinai von Gott die Thora1 empfing und dass er selbst dessen direkter Nachkomme ist. Er glaubt auch, dass sich dieses Volk, aus Ägypten kommend, im „gelobten Land“ niederließ, wo das ruhmvolle Königreich Davids und Salomos entstand, das sich später in die Reiche Judäa und Israel teilte. Und er weiß, dass es zweimal vertrieben wurde – im sechsten vorchristlichen Jahrhundert nach der Zerstörung des Ersten Tempels und im Jahr 70 n. Chr., nach der Zerstörung des Zweiten Tempels.

    Darauf folgten knapp zweitausend Jahre des Umherirrens. So verschlug es das jüdische Volk in den Jemen, nach Marokko, nach Spanien, nach Deutschland, Polen und bis weit nach Russland hinein. Doch es gelang ihm stets, die Blutbande zwischen seinen versprengten Gemeinden zu bewahren. Deshalb blieb seine Einzigartigkeit erhalten. Ende des 19. Jahrhunderts reiften die Bedingungen für seine Rückkehr in die uralte Heimat heran. Ohne den Völkermord der Nazis hätten Millionen Juden nach und nach und in aller Selbstverständlichkeit Eretz Israel (das Heilige Land: die geografische Region Israel) wieder besiedelt, denn davon träumten sie seit zwanzig Jahrhunderten.

    Unberührt lag Palästina da und wartete auf sein ursprüngliches Volk, auf dass es das Land wieder zum Erblühen brächte. Denn es gehörte ihm, nicht dieser geschichtslosen Minderheit, die der Zufall dorthin verschlagen hatte. Gerecht waren also die Kriege, die das verstreute Volk führte, um sein Land wieder in Besitz zu nehmen; und kriminell war der gewalttätige Widerstand der ansässigen Bevölkerung.

    Diese Deutung der jüdischen Geschichte ist das Werk versierter Vergangenheitskonstrukteure, deren blühende Fantasie seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus Versatzstücken der jüdisch-christlichen Religionsgeschichte eine ununterbrochene Stammesgeschichte für das jüdische Volk erfand. Die reichhaltige Geschichtsschreibung des Judentums kennt zwar auch andere Sichtweisen. Diese kamen jedoch über akademische Kontroversen nicht hinaus und tangierten auch nicht die Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelte essenzialistische Geschichtsauffassung.

    Erkenntnisse, die nicht ins Bild einer linearen Vergangenheit passten, verhallten weitgehend ungehört. Mit zusammengebissenem Kiefer duldete der nationale Imperativ keinen Widerspruch. Zu dieser eigenartigen Halbseitenlähmung beigetragen haben auch die Fachbereiche für die „Geschichte des jüdischen Volkes“, die an israelischen Universitäten unabhängig von den Fachbereichen für „Allgemeine Geschichte“ arbeiten. Auch die im Kern juristische Debatte über die Frage „Wer ist jüdisch?“ hat diese Historiker nicht weiter beschäftigt: Jüdisch ist für sie jeder Nachfahre des Volkes, das vor zweitausend Jahren ins Exil gezwungen wurde.

    An der Ende der 1980er-Jahre von den „neuen Historikern“ ausgelösten Kontroverse beteiligten sich die „autorisierten“ Vergangenheitsforscher nicht. Zu Wort meldeten sich vor allem Wissenschaftler aus anderen Fachrichtungen: Soziologen, Orientalisten, Linguisten, Geografen, Politologen, Literaturwissenschaftler und Archäologen stellten neue Überlegungen zur jüdischen und zionistischen Vergangenheit an. Akademiker aus dem Ausland schlossen sich ihnen an. Die „Fachbereiche für jüdische Geschichte“ hingegen reagierten nur zaghaft und konservativ, verbrämt mit dem apologetischen Geschwafel aus alten Vorurteilen.

    In den letzten sechzig Jahren hat sich die israelische Nationalgeschichtsschreibung also kaum weiterentwickelt, und daran wird sich auf absehbare Zeit wohl auch nichts ändern. Die von der Forschung zutage geförderten Fakten stellen indessen jedem ernsthaften Historiker Fragen, die auf den ersten Blick verblüffend erscheinen mögen – und doch sehr grundsätzlicher Natur sind.

    Kann man die Bibel als Geschichtsbuch lesen? Die ersten jüdischen Historiker der Neuzeit wie Isaak Markus Jost (1793-1860) und Leopold Zunz (1794-1886) hätten diese Frage mit Nein beantwortet. In ihren Augen war das Alte Testament ein theologisches Werk. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts fanden sich Historiker (insbesondere Heinrich Graetz, 1817-1891), die eine „nationale“ Lesart der Bibel entwickelten: Abrahams Aufbruch nach Kanaan, den Auszug aus Ägypten, das vereinigte Königreich Davids und Salomos stellten sie als Berichte über eine wahre nationale Vergangenheit dar. Die zionistischen Historiker beten seither diese „biblischen Wahrheiten“ nach, die zum täglichen Brot im israelischen Bildungs- und Schulwesen gehören.

    In den 1980er-Jahren erschütterte ein Erdbeben die Gründungsmythen: Nach neueren archäologischen Erkenntnissen kann im 13. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung gar kein großer Exodus stattgefunden haben. Auch konnte Moses die Hebräer nicht aus Ägypten heraus- und ins „gelobte Land“ führen – einfach weil dieses sich damals in den Händen der Ägypter befand. Darüber hinaus findet sich nirgends ein Hinweis auf einen Sklavenaufstand im Reich der Pharaonen noch auf eine rasche Eroberung des Landes Kanaan durch irgendwelche Eindringlinge.

    Vom prachtvollen Königreich Davids und Salomos gibt es keine Überreste. Die Entdeckungen des vergangenen Jahrzehnts zeigen, dass damals zwei kleine Reiche existierten: das mächtigere Israel im Norden und der Zwergstaat Judäa im Süden. Dessen Bewohner, die Judäer, wurden jedoch nicht im sechsten vorchristlichen Jahrhundert vertrieben: Nur die geistigen und politischen Eliten mussten sich in Babylon niederlassen, wo sie die persischen Kulte kennenlernten – und aus dieser folgenreichen Begegnung entwickelte sich der jüdische Monotheismus.

    Aber wie steht es mit der Vertreibung des Jahres 70 unserer Zeitrechnung; hat sie tatsächlich stattgefunden? Erstaunlicherweise hat sich die Forschung mit diesem wichtigen identitätsstiftenden Ereignis noch nie beschäftigt, und zwar aus einem ganz einfachen Grund: Die Römer haben an der gesamten Ostküste des Mittelmeers nie ein Volk ins Exil geschickt. Mit Ausnahme der versklavten Gefangenen lebten die Judäer auch nach der Zerstörung des Zweiten Tempels auf ihrem Land.

    Eine Minderheit unter den Judäern konvertierte im vierten Jahrhundert zum Christentum. Und nach der arabischen Eroberung im siebten Jahrhundert schloss sich die Mehrheit dem Islam an. Das war den meisten zionistischen Denkern durchaus bekannt: Noch 1929, im Jahr des großen Palästinenseraufstands, schreiben darüber Jitzchak Ben Zwi, der 1952 nach Ezer Weizmans Tod Israels zweiter Präsident wurde, und Staatsgründer David Ben Gurion. Beide erwähnen mehrfach, dass die in Palästina ansässigen Bauern die Nachfahren der Bewohner des antiken Judäa seien.(2)

    Woher kommen also die zahlreichen seit der Antike rund um das Mittelmeer ansässigen Juden, wenn es keine Deportation aus dem römisch besetzten Palästina gab? Hinter dem Vorhang der nationalen Geschichtsschreibung verbirgt sich eine erstaunliche historische Realität: Vom Makkabäeraufstand im zweiten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung bis zum Bar-Kochba-Aufstand von 132 bis 135 n. Chr. war das Judentum die erste Bekehrungsreligion.

    Schon die Hasmonäer hatten die südlich von Judäa ansässigen Idumäer und die dem „Volk Israel“ einverleibten Ituräer zwangsbekehrt. Von diesem jüdisch-hellenistischen Reich breitete sich das Judentum über den gesamten Vorderen Orient und die Mittelmeerküste aus. Im ersten nachchristlichen Jahrhundert entstand im Gebiet des heutigen Kurdistans das jüdische Königreich Adiabene – es blieb nicht das letzte Reich, das sich, neben Judäa, „judaisierte“.

    Nicht nur die Schriften von Flavius Josephus legen Zeugnis vom Proselyteneifer der Juden ab. Zahlreiche lateinische Schriftsteller, von Horaz bis Seneca, von Juvenal bis Tacitus, äußern eine Furcht vor jüdischer Bekehrung. Mischna und Talmud(3) erlauben den Übertritt – obwohl die Talmudgelehrten angesichts wachsenden Drucks durch das Christentum Vorbehalte äußern.

    Mit der konstantinischen Wende zu Beginn des vierten Jahrhunderts, die dazu führte, dass das Christentum im Jahr 380 Staatsreligion wurde, ist die Ausbreitung des Judentums zwar nicht zu Ende, doch wird der jüdische Bekehrungseifer damit an die Ränder des christlichen Kulturraums zurückgedrängt. So entsteht im fünften Jahrhundert im Gebiet des heutigen Jemen das starke jüdische Königreich Himjar, dessen Nachkommen auch nach dem Sieg des Islam bis in die Neuzeit hinein an ihrem Glauben festhielten.

    Arabische Chronisten berichten uns auch von Berberstämmen, die im siebten Jahrhundert zum Judentum übertraten: Dem Vormarsch der Araber nach Nordafrika versuchte die legendäre jüdische Berberkönigin Dihya al-Kahina entgegenzutreten. Judaisierte Berber beteiligten sich an der Eroberung der iberischen Halbinsel. Es war der Beginn der jüdisch-muslimischen Symbiose, die sich in Spaniens maurischer Kulturgeschichte widerspiegelt.

    Die bedeutsamste Massenbekehrung ereignete sich im achten Jahrhundert in der Region zwischen dem Schwarzen und dem Kaspischen Meer: Die Chasaren traten geschlossen zur jüdischen Religion über. Die Ausbreitung des Judentums vom Kaukasus bis zur heutigen Ukraine ließ zahlreiche Gemeinden entstehen, die erst die Mongolen im 13. Jahrhundert nach Osteuropa abdrängten. Dort bildeten sie gemeinsam mit den aus den südslawischen Regionen und dem heutigen Deutschland zugewanderten Juden das Fundament der großen jiddischen Kultur.

    Bis in die 1960er-Jahre hinein tauchen diese Fakten noch in der zionistischen Geschichtsschreibung auf. Später werden sie zunehmend an den Rand gedrängt und verschwinden schließlich ganz aus dem öffentlichen Bewusstsein Israels: Im Jahr 1967 konnten die Eroberer der Stadt Davids natürlich nichts anderes sein als direkte Nachfahren seines mythischen Königreichs und nicht etwa, Gott bewahre, die Abkömmlinge von Berberkriegern oder chasarischen Reitern. Seitdem gelten die Juden als ein spezifisches ethnos, das nach zweitausend Jahren Exil und Wanderschaft endlich in seine Hauptstadt Jerusalem zurückgekehrt ist.

    Die Verfechter dieser linearen Erzählung mobilisieren nicht nur den Geschichtsunterricht, sondern holen auch die Biologie ins Boot. Seit den Siebzigerjahren setzen „wissenschaftliche“ Forschungen alles daran, die genetische Verwandtschaft der Juden aus aller Welt zu beweisen. Die „Herkunft der Völker“ ist inzwischen ein akzeptiertes und beliebtes Forschungsfeld der Molekularbiologie, und bei der eifrigen Suche nach dem gemeinsamen Ursprung des „erwählten Volks“ leistet sich das Y-Chromosom einen Ehrenplatz an der Seite einer jüdischen Klio.(4)

    Das eigentliche Problem ist, dass diese Geschichtsauffassung die Grundlage der Identitätspolitik des Staates Israel bildet: Aus dieser ethnozentristischen Definition des Judentums erfolgt die strikte Abgrenzung von Nichtjuden – von Arabern ebenso wie von russischen Zuwanderern und Arbeitsmigranten.

    Sechzig Jahre nach seiner Gründung weigert sich Israel, eine Republik für alle seine Bürger zu sein. Da knapp ein Viertel der Staatsbürger als Nichtjuden gelten, ist dieser Staat dem Geist seiner Gesetze nach nicht der ihre. Umgekehrt tritt Israel stets als der Staat der Juden in aller Welt auf, auch wenn diese keine verfolgten Flüchtlinge mehr sind, sondern mit allen Rechten ausgestattete Staatsbürger der Länder, in denen sie leben.

    Es ist kein leichtes Unterfangen, eine neue jüdische Geschichte zu schreiben, denn die Juden sind keine durch einen gemeinsamen Ursprung vereinte, in zweitausendjähriger Wanderschaft über die Welt verstreute Ethnie, sondern haben schon immer, meist durch Konversion, in verschiedenen Gegenden der Welt Religionsgemeinschaften gebildet.

    Für die Entwicklung der Geschichtsschreibung sowie überhaupt für den Prozess der Modernisierung spielt bekanntlich die Erfindung des Nationalstaats eine herausragende Rolle. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts zerplatzten die mit dem Nationalstaat verbundenen Träume. Immer mehr Wissenschaftler analysieren, sezieren, dekonstruieren die großen nationalen Erzählungen und vor allem den von den Chronisten hochgehaltenen gemeinsamen Ursprungsmythos – auf dass an die Stelle der Identitätsalbträume von gestern neue Träume treten können.

    Fußnoten:

    (1) Die Thora – die hebräische Wurzel jara bedeutet „lehren“ – ist der Gründungstext des Judentums.
    (2) Vgl. David Ben Gurion und Jitzchak Ben Zwi, „Eretz Jisroel in fergangenheit un gegenwart“, New York 1918, und Jitzchak Ben Zwi, „Unsere Bevölkerung im Land“ (auf Hebräisch), Warschau, Exekutivkomitee der Jugendunion und Jüdischer Nationalfonds, 1929.
    (3) Die Mischna, die als das erste Werk der rabbinischen Literatur gilt, wurde im zweiten Jahrhundert n. Chr. abgeschlossen. Der aus Mischna und Gemara („Kommentar“) bestehende Talmud versammelt die rabbinischen Debatten über das Gesetz, die Bräuche und die Geschichte der Juden.
    (4) Klio ist in der griechischen Mythologie die Muse der Heldendichtung und der Geschichtsschreibung.
    Aus dem Französischen von Barbara Schaden

  • „Das Kollektiv ist eine schlechte Mutter“, so resümiert die Rezensentin des israelischen Films „Sweet Mud“ heute in der Süddeutschen Zeitung ihre Sicht auf den Kibbuz, so wie er in diesem Film des ehemaligen Kibbuzniks Dror Shaul dargestellt wird. Sein Film läuft hierzulande gerade an.

    „Shaul findet drastische Bilder für die Machtstrukturen im Kibbuz, wo das Prinzip der Gleichheit beschworen wird, es am Ende aber doch wieder darum geht, welcher Rüde welches Weibchen bespringen darf….Das ist – konsequent ohne Privateigentum – Dominanzverhalten, reduziert auf seine biologischen Ursprünge.“

    Was um Himmels Willen will uns die SZ-Rezensentin damit sagen – im Zusammenhang dieser filmischen Abrechnung mit dem Kibbuz?

    Dass erst das Privateigentum uns aus der Ersten Natur befreit – und seine Aufhebung uns auf diese frühe Stufe (der Urhorde) zurückfallen läßt?

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