Wenn ich morgens an der Hecke des taz-Cafégartens die als Unkraut abgetanen Blumen (über die ich heuer meine Hand halte), und die deswegen mit ihren großen Blättern eine kleine Wiese inzwischen bilden, gieße, lachen sie mich an – bejahend nicken sie sogar, und das nicht nur, weil der Wasserstrahl sie schwanken läßt.
Die „Westfälischen Nachrichten“ schreiben über eine Öko-Plastik von Harald Klingelhöller:
Mit dem Titel „Die Wiese lacht…” bezieht sich Klingelhöller auf den Philosophen Hans Blumenberg (1920-1996). Der Metaphern-Meister aus Münster gründelte dem nach, was eine Metapher wie „Die Wiese lacht“ zu leisten vermag. Zu den Eigenschaften einer Wiese zählen schließlich weder Lippen noch Zähne, und es gehört ziemlich viel Fantasie dazu, auch nur die Konturen eines Antlitzes im Gras- und Blumen-Meer zu erkennen. Aber allein der Mensch kann Bedeutung geben, wenn er will. Das ist seine unfassbare Macht. Das ist eine Macht, die ebenso groß ist wie die Liebe. Oder wie hieß es neulich in einer Kontaktanzeige: „Der Sommer kommt, die Wiese lacht.“ Das versteht jede(r) . . .
Andreas Hetzel schreibt in „Die Wirksamkeit der Rede“:
Die Metapher sagt Neues, indem sie, wie Blumenberg angesichts der Quintilianischen Metapher „pratum ridet“ (Die Wiese lacht) ausführt, den Bereich des Sinnhaften um etwas Fremdes und Sinnloses supplementiert. Diese Supplimentierung läuft nicht auf die Integration des Sinnlosen ins Sinnhafte hinaus, sondern auf eine Transformation des Sinnhorizonts. „Was in den Eigenschaften einer Wiese unter objektivem Aspekt nicht vorkommt, wird von der Metapher festgehalten. Sie leiste dies, indem sie die Wiese dem Inventar einer menschlichen Lebenswelt zuweist, in der nicht nur Worte und Zeichen, sondern die Sachen selbst ‚Bedeutungen‘ haben.“ Das Sinn-Inventar der Lebenswelt wird durch die lachende Wiese nicht nur ergänzt, sondern auch disloziert. „Die Metapher ist ‚Widerstimmigkeit‘. „
Karl-Heinz Göttert und Oliver Jungen schreiben in ihrer „Einführung in Stilistik“:
Schon für Aristoteles war es keine Frage: Zum Denken gehört das Vorstellen…Denken ist schwer, Sehen ist leichter, also präparieren wir das Denken mit Sichtbarkeit. Aristoteles hat dazu ein hübsches Beispiel gegeben. Er prüft den kleinen Satz:
Die Wiese blüht
Das kann jeder sagen, es ist irgendwie abstrakt, unbestimmt, unanschaulich – und niemand hört zu. Besser, ich iritiere den Leser/Hörer etwas und zwinge ihn zur Anschauung, etwa so:
Die Wiese lacht.
Das ist unpräziser, aber man hört (vor allem beim ersten Mal) hin. Natürlich, die Wiese ist herrlich in dieser Gegend, sie ist wie ein Mensch, der uns nicht griesgrämig anschaut, sondern anlacht. Jawohl, die Wiese lacht – wir haben verstanden.“
In dem Aufsatz von Rüdiger Zill „Was ist eine Metapher?“ heißt es – ausgehend vom Gräzisten Bruno Snell, dem der Griechenforscher Friedrich Kittler viel verdankt, noch kurz vor seinem Tod ließ er sich aus Snells Buch „Die Entdeckung des Geistes: Studien zur Entstehung des europäischen Geistes bei den Griechen“ vorlesen:
Snell verallgemeinert die Form der Gleichheit, die den Homerischen Gleichnissen zugrunde liegt, und erklärt sie zum Paradigma menschlichen Verstehens überhaupt. Diese Gleichheit ist aber keine, die sich simpel mit Hilfe eines tertlum comparationis ergäbe, sie ist das Produkt der Interaktion zweier Akteure. Es handelt sich jedoch nicht um Interaktion im Sinne einer Übertragungsabfolge, in deren Schritten sich der Sinn sukzessive anreichert. Vielmehr beschreibt Snell eine Art Spiegelungsfunktion. Der äußere Gegenstand hat nur katalysatorische Funktion. Er dient dazu, daß ich auf ihn etwas von mir selbst projiziere, um mich auf diese Weise besser erkennen zu können. »Daß der Mensch sich selbst nur s o im Echo hören und verstehen kann, i s t grundlegend für das Verständnis des Gleichnisses. « Wie die Stimme, die sich an der Felswand bricht und von dort zu uns zurückkehrt, spiegelt sich im Gleichnis unser Bild, das wir selbst entworfen haben: zu Echo gehört Narziß. Sein Schicksal aber 1st bekannt. Eine noch stärkere Form der Rückwirkung spricht Hans Blumenberg an. Er nimmt Quintilians Metapher: »Die Wiese lacht.« und bemerkt, das »Lachen« sei nicht nur auf die Wiese übertragen worden, sondern, weil e s in der Lebenswelt wiederkehre, auch selbst »angereichert und erfüllt«166 worden. Aber auch diese Bemerkungen bleiben letztlich zu vage, sind sogar in Gefahr, als eine Bedeutungserweiterung des fokalen Ausdrucks in der Metapher gelesen zu werden.
Man spricht von Pollergrün: Bei allen 1,45 Millionen Pollern in Berlin bildet sich mit der Zeit durch Verwehung und durch den Schutz des Pollers eine winzige Wiese rund um diese Straßenbegrenzungspfähle.
Um diese Wiesenbildung ging es mir bei meiner Phototour durch die Stadt. Ich hatte mir dazu ein Bestimmungsbuch gekauft: „Berliner Pflanzen – Das wilde Grün der Großstadt“ von Heiderose Häsler und Iduna Wünschmann. Aber ich war zu früh dran: Wegen der langen Kälteperiode waren die Pflanzen an den Pollern und nicht nur dort, erst gerade dabei, sich an Luft und Licht zu entfalten. Das machte ihre Bestimmung so gut wie unmöglich. Kam noch hinzu, dass fast alle meine Photos unscharf und blaustichig gerieten. Bei denen von Katrin Eissing (die letzten drei in diesem Eintrag) war es dann etwas besser, aber sie war nicht so motiviert wie ich, von Pollerfuß zu Pollerfuß zu kucken, so dass sie erst einmal nur ein paar Bilder machte. Dieser blog-eintrag ist damit also erst einmal nur die Idee eines Eintrags – ohne die Benamung der Pollerflora. Dazu hatte ich zuvor einen der Wissenschaftler im Botanischen Garten gefragt, ob bei den Benamungen noch das System des Ahnherrn der modernen Botanik, Linné, zur Anwendung komme?
“Ja und nein”, wurde mir geantwortet, “es ist mit der Zeit modifiziert worden. Linné hatte die immer länger werdenden Bezeichnungen verkürzt – auf den Namen der Gattung und der Art, und darunter folgte dann die Beschreibung der Pflanze, bis heute auf Lateinisch. Das Ganze hat er dann in einem System angeordnet. Nicht nur die Pflanzen, auch die Tiere, bis zum Menschen, homo sapiens. Übrigens hat er ihn schon den Schimpansen zugeordnet – lange vor Darwin. Pflanzensysteme gab es auch schon vorher. Linné hat ein sogenanntes Sexualsystem verwendet, d.h. er hat die Gestalt der Blüten zur Klassifizierung benutzt. Er hat bereits gewußt, dass das ein künstliches System ist. Linné ging davon aus, dass alle Lebewesen unveränderlich sind, d.h. es gibt so viele Arten wie Gott geschaffen hat. Inzwischen wissen wir, dass das nicht so ist, dass die Lebewesen veränderlich sind, dass es eine Evolution gibt. Das hat zwei Konsequenzen für das Linnésche System: wenn wir jetzt im Laufe unserer Forschungen feststellen, dass wir die Gattungen teilen müssen, d.h. wenn wir bei einigen Pflanzen Eigenschaften finden, die sie einer anderen Gattung zugehörig werden lassen, oder dass wir Gattungen zusammenlegen müssen – z.B. Azaleen und Rhododendron – beim Vergleichen ihrer verwandtschaftlichen Beziehungen … Es kommt also immer wieder zu Veränderungen in der Zuordnung und damit zu Umbenamungen. Die natürlichen Verwandtschaften waren damals noch nicht erforscht. Linné hat nachgeguckt, wieviel Staubblätter hat eine Pflanze?, und wieviele Blütenblätter?, sind sie verwachsen? usw.. Im gleichen Verwandtschaftskreis kann es aber z.B. Pflanzen mit verwachsenen und mit freien Blütenblättern geben.
Das Linnésche System ist also insofern künstlich, als damit etwas in Schachteln gepackt wird – nach, ich möchte mal sagen, zufälligen Merkmalen. Die zwar gut sichtbar sind, sofern die Pflanzen gerade blühen, die aber keine natürlichen Verwandtschaften darstellen, und das wollen wir heute haben. Das hat auch schon bald nach Linné angefangen. Zum Beispiel hat Adalbert von Chamisso, der hier eine Zeitlang Aufseher über das Herbarium war, für die Berliner Schulen ein Buch über die nützlichen und schädlichen Gewächse herausgegeben. Chamisso hat darin bereits davon gesprochen, dass er die natürlichen Verwandtschaftsverhältnisse der Pflanzen verwenden möchte, die aber seien noch kaum bekannt, deswegen verwende er das Linnésche System, aber an den Stellen, wo er weiß, wie die Pflanzen zusammenhängen, da nehme er die natürliche Verwandtschaftsordnung. Inzwischen ist das immer weiter erforscht worden. Man arbeitet da z.B. mit dem Raster-Elektronen-Mikroskop, mit dem sich neue Merkmale im Bereich der Oberflächenstruktur erschließen lassen. Es werden also immer mehr Gestalt-Merkmale hinzugenommen – das geht bis in die Zellen und die Anzahl der Chromosomen hinein. In unserem Museumsführer ist z.B. eine Illustration aus einer Monographie über die Kakteegattung Pereskia abgebildet. Das ist ein Kaktus, der normale Blätter hat, woran man dann schon sehen kann, daß es Gott sei Dank so etwas noch gibt, und wovon man schon lange ausging: dass die Kakteen sich aus normalen Pflanzen entwickelt haben. Die Pereskia wäre also ein Zwischenglied zwischen Kaktus und Baum. Ähnlich vielleicht wie die Archäoperyx das missing link zwischen Reptil und Vogel war. Wir haben keine lückenlosen Stammbäume, das muß man gleich dazu sagen. Am Anfang der Samenpflanzen, da ist das noch recht offen. Mit Hilfe der Fossilfunde konnten nur einige Lücken geschlossen werden. Es bleiben noch eine Menge, um die Samenpflanzen an Moose, Farne usw. anschließen zu können. Sie haben sich daraus entwickelt, aber wie genau läßt sich nicht belegen.”
Am letzten Wochenende im Juni fand erneut wie alle zwei Jahre ein Dichtertreffen auf der „Kaltem Buche“ in der Rhön bei Bischoffsheim statt. Dabei handelt es sich um eine „Jungviehweide“ auf einem Vulkanplateau. Zur „Provinzlesung“, wie der Organisator, der Verleger Peter Engstler, seine Veranstaltung nennt, traten rund 20 Dichter vor etwa 80 Literaturinteressierten an. Wie immer gab es Anklänge und Erinnerungen an Beatpoetry und Punklyrik, aber auch gesellschaftskritische Reflexionen und Reiseberichte zu hören, daneben weitere Einzelheiten über das Autistendorf des Antipsychiaters Fernand Deligny in den Chevennen, dessen Schriften Peter Engstler verlegt. Da diesmal, seinem Verlagsprogramm entsprechend, die Berliner aus der Kneipe „Rumbalotte“ besonders stark vertreten waren, hielt Bert Papenfuß es für geboten, darauf hinzuweisen, dass es zwei Dichterschulen in Ostberlin inzwischen gibt: Zum Einen die sogenannten „Prenzlauer Berger“ – vertreten durch Florian Günther, zum Anderen die „Weissenseeer“, die zahlreich erschienen waren und gerade ein Literaturfestival in mehreren Ostberliner Kneipen hinter sich gebracht hatten. Auf der Jungviehweide boten sie zudem Sascha Anderson mit zwei Kurzgedichten auf. Beeindruckender war jedoch die Lesung von Ann Cotten, die Papenfuß als „überregional, nicht zu einer der beiden ‚Schulen‘ gehörend“, bezeichnete. Ich wollte etwas Allzuregionales beisteuern und konzentrierte mich deswegen auf den Austragungsort des Dichterstreits – die Wiese:
Wir können uns keine „lachende Wiese“ – pratum ridet – mehr vorstellen. Behaupte ich. Sie ist über Homer und dann das latinisierte Griechisch, schließlich das christianisierte Latein zu uns gelangt – als Paradebeispiel für eine Metapher. Den Poetiken und Rhetoriken des Mittelalters galt ihr Lachen als „uneigentliche Rede“, dahinter verbarg sich die „eigentliche“: eine blühende Wiese – pratum floret. Der Philosoph Friedrich Kittler, dem es darum ging, „Das Nahen der Götter vor[zu]bereiten“, wie der Titel seines letzten Buches heißt, erklärte dazu in einer seiner Vorlesungen über Griechenland 2002:
Daß Odysseus und seine Gefährten auf dem Schiff guten Grund hatten, jedem Schluck Süßwasser als einer göttlichen Nymphe oder Muse zu danken, fiel faulen dicken Mönchen, diesen Gefangenen in Kloster- und Universitätszellen, nicht mehr ein. Hinter der Harmlosigkeit lachender Wiesen verbargen sich also die schönen, für Christen jedoch bedrohlichen zwei Möglichkeiten, daß entweder die Götter auf Wiesen anwesen oder aber die heidnischen Dichter Wiesen zu Göttinnen verzaubern können.“
Und so wurden aus den Nymphen, den jungen Mädchen – als Personifikationen von Naturkräften, bloße Metaphern.
Ähnliches geschah mit der griechisch-heidnischen „Mimesis“ – Nachahmung, das die Scholastiker mit „imitatio“ bzw. „repraesentatio“ übersetzten – was bei Thomas von Aquin z.B. heißt, daß jemand (ein Dichter) etwas (z.B. eine Metapher) für jemand (einen Hörer oder Leser) darstellt. Was bedeutete nun aber „Mimesis“ ursprünglich? Dazu wieder Kittler:
„Denken Sie von den Göttern nicht zu abstrakt…Ohne Götter, die miteinander schlafen, gäb es keine Sterblichen, ohne Eltern, die miteinander Liebe machten, keines von uns Kindern. So bleiben einzig Dank und Wiederholung. Nichts anderes heisst Griechen, solang sie dichten, Mimesis, Tanz als Nachvollzug der Götter“ bzw. „göttlicher Liebestaten“.“
Denn auch beim Geschlechtsverkehr ahmen wir laut Kittler die Götter nach. Er erwähnt dazu gerne einen Song von Jimmy Hendrix: „And the Gods made love“. Die Popstars haben uns seiner Meinung nach die Götter wieder nahegebracht. Bei einem Popkonzert in Kopenhagen z.B. brachte ein Junge seine Freundin anschließend Backstage zum Sänger: „Der hat die Nacht mit ihr verbracht und am nächsten Tag ging die Liebe zwischen dem Mädchen und ihrem Freund weiter.“ Ähnliches passierte 1986 laut dem Musikkritiker Robert Mießner auch der Punkband „Freygang“ nach einem Konzert in Bitterfeld. Für Kittler sind das Beispiele „einer uneifersüchtigen Variante des Amphytrion-Stoffes, so wie auch Amphytrion nicht ernsthaft zu Alkmene sagen kann: ‘Ich verbiete dir, mit Zeus zu schlafen!’“
Als die Wiesen noch lachten – zu Beginn unserer Zivilisation – war noch alles voller Götter und Göttinnen, Musen, Nymphen, Halbgötter und Heroen. Letztere stiegen gelegentlich in den Olymp auf. Umgekehrt konnten alle Götter sich in Tiere, Menschen, Pflanzen, Wolken, Stürme und Nebel verwandeln – wenn es z.B. galt, ein Jungfrau zu verführen: aus Lust und um neue Helden zu zeugen. Bei dem „musenverlassensten Volk Europas“, den Römern, wurden die Götter erst entsexualisiert und schließlich im Christentum auf Einen reduziert. Dazu noch einmal Kittler:
„Menschen können nur machen, daß Laute andere Dinge bedeuten, als der Wortlaut besagt. Dichter tun das, wenn sie das Blühen einer Wiese ihr Lachen nennen, aber nur Gott ist jener einzigartige Dichter, der mit Dingen wie mit Metaphern um sich werfen kann. Und zwar einfach deshalb, weil er sie alle geschaffen hat.“
Bei den Griechen waren Mensch und Tier noch ungetrennt: „zoon“. Der Begründer der modernen Zoologie – Jean-Baptiste de Lamarck – postulierte 1809 in seiner „Philosophie zoologique“: An der Komplexität heutiger Lebewesen könne man abschätzen, wann sich deren Urzeugung vollzogen hat. Was bedeutet, dass der Mensch als das Lebewesen mit der höchsten Komplexität, das älteste Lebewesen auf der Erde wäre.
In der Bibel ist dagegen das Wiesengras sehr viel älter als der Mensch, denn dieser wurde erst an Gottes letztem Werktag geschaffen – indem er ihn sich, wie überhaupt die ganze Welt, einfach vorstellte und wollte, was er uns später sogar schriftlich gab – nämlich: „Laßt uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei, die da herrschen über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über die ganze Erde und über alles Gewürm, das auf Erden kriecht.“
Aber dann, mit der Aufklärung, kam Charles Darwin, er änderte zwar nichts an der gottgegebenen und für uns so vorteilhaften Hierarchie der Arten, aber der Naturforscher in ihm bestand doch darauf, dass sie nicht in sechs Tagen, sondern – evolutionär, durch mühsame – selektiv wirkende – Konkurrenzkämpfe entstanden sei. Zuletzt zweigte sich auf diese Weise von einem „Uraffen“ die Entwicklung der heutigen Affen und die des Menschen ab, der dann mit Feuer und Schwert und Schrift – schlußendlich – aus der Natur heraustrat, was zu den Trennungen von Subjekt und Objekt, Natur und Kultur sowie Fakt und Fetisch führte.
Als erste Organismen – am Anfang: bei der Lamarckschen „Urzeugung“ – entstanden die „Archaebakterien“, die im derzeit gültigen Evolutionsschema eine eigene Art bilden – mit der vor ungefähr 3,5 Milliarden Jahren alles Leben begann.
Die darauf folgenden Bakterien erfanden bereits die Fermentierung, die Photosynthese, die Stickstoffbindung und das Rad – in Form eines „Drehmotors“ an ihren Flagellen, Bei den staatenbildenden Insekten, Bienen und Termiten, seien in diesem Zusammenhang noch ihre Architekturen, Agrikulturen und Lüftungssysteme erwähnt, bei den Webervögeln und anderen die Flechtkunst, mit der sie ihre Nester bauen, und bei den Laubenvögeln in Neuguinea und Australien ihre Fähigkeit, plastische Gemälde zu entwerfen. Das alles ist heute in etwa State of the Art.
Nun gibt es schon lange keine Griechen mehr, wohl aber noch Reste von anderen heidnischen Völkern, die manchmal nur noch ein Dutzend Menschen umfassen. Was sie, die sogenannten „Naturvölker“, jedoch eint, ist ein anderes Weltbild – und damit gegebenenfalls auch ein anderes Verständnis von lachenden Wiesen.
Der brasilianische Ethnologe Eduardo Viveiros de Castro erklärt uns das so: Im Westen ist ein „Subjekt“ – der herrschenden „naturalistischen Auffassung“ gemäß – „ein ungenügend analysiertes Objekt.“
Zu denken wäre dabei z.B. an unseren hochgeschätzten „Freien Willen“, der sich mit Hilfe der Technik der Gehirnforschung in physikalische und chemische Vorgänge auflöst.
In der animistischen Kosmologie der amerikanischen Ureinwohner ist laut de Castro das Gegenteil der Fall: „Ein Objekt ist ein unvollständig interpretiertes Subjekt.“
Also selbst ein Stein wäre demnach beseelt. Der Schriftsteller Martin Mosebach erwähnt einen Schamanen, der behauptete, dass ein Stein, der aus dem Boden gegraben wurde, sich darüber jahrelang nicht beruhigen könne. “Mehr Empathie in der Weltwahrnehmung ist kaum möglich. Extremer Animismus,” nennt dies der Chefredakteur von „Sinn und Form“ Sebastian Kleinschmidt, für den auch Goethe noch zu ähnlicher Empathie fähig war, indem er z.B. “Experimente, bei denen man das Licht durch ein Prisma bricht, als obszön” empfand. Für Goethe war es „unanständig, das Licht so zu behandeln.” Die Dichter der „Weimarer Klassik“ wähnten sich dem Olymp nahe – und so schrieb Goethe nicht mehr für die geschätzten Kollegen – sondern „für Mädchen“, wie er sagte. Bereits in seiner frühen „Genielyrik“ versuchte er dabei hinter die Metaphern zurück zu gelangen: „Wie herrlich leuchtet/Mir die Natur!/Wie glänzt die Sonne!/Wie lacht die Flur!“ heißt es in seinem Gedicht an ein geliebtes Mädchen: „Maifest“.
Zu der Umdrehung von Subjekt und Objekt im „wilden Denken“ gehört laut de Castro auch noch die „so gut wie universelle indianische Vorstellung“, dass Mensch und Tier ursprünglich ungeschieden waren, ihr gemeinsamer „Urgrund“ war jedoch keine Tierheit, sondern die Menschheit. Das scheint mir ziemlich lamarckistisch gedacht.
Wenn sich aber nun die Natur irgendwann in der Frühzeit von der Kultur trennte – dann doch wohl aus gutem Grund. So behaupten z.B. die Eingeborenen, die in nächster Nähe zu den afrikanischen Schimpansen und zu den Orang-Utan auf Borneo und Sumatra leben, dass diese „Scheinmenschen“ bzw. „Waldmenschen“, wie sie sie nennen, sprechen können. Sie würden jedoch lieber nichts sagen, um nicht arbeiten zu müssen. Angeblich soll der französische Kardinal Melchior de Polignac zu dem im Jardin du Roi erstmalig ausgestellten Orang-Utan gesagt haben: „Sprich – und ich taufe Dich!“ Der Affe blieb jedoch stumm – und mithin ungetauft!
Lamarck fand in seiner „Zoologischen Philosophie“ nur traurige Gründe für die Sprachlosigkeit dieser „Bimanen“ (Zweihänder) – wobei er sich auf den Bericht eines französischen Marineoffziers über Schimpansen in Angola stützte: Lamarck zufolge unterschied sich der Mensch dadurch vom Affen, dass ersterer ein Affe mit einem besonderen, ausgefallenen Bedürfnis ist: dem „Bedürfnis zu herrschen und zugleich weit und breit um sich zu sehen, sich anstrengend, aufrecht zu stehen“. Und dieses Tier mit dem Bedürfnis zu Herrschen, entwickelte sich deswegen so rasant bis zur Sprache, weil die armen Affen „von allen Seiten verfolgt, zurückgedrängt an wilde, öde, selten ausgedehnte oder an elende und unruhige Orte, werden sie beständig gezwungen zu fliehen und sich zu verbergen. Unter diesen Verhältnissen verschaffen sich diese Tiere keine neuen Bedürfnisse mehr, erhalten keine neuen Gedanken, haben deren nur sehr wenige und beschäftigen sich immer mit denselben. Unter diesen Gedanken gibt es sehr wenige, die sie den anderen Individuen ihrer Art mitzuteilen brauchten. Sie brauchen also nur eine kleine Zahl verschiedener Zeichen, um sich ihresgleichen verständlich zu machen.“
In Gefangenschaft hat man ihnen jedoch einige hundert neue Zeichen beibringen können – in der amerikanischen Taubstummensprache ASL. In den Gesprächen damit kam u.a. heraus, dass Menschenaffen lügen, indem sie z.B. auf den Teppich kacken und anschließend gegenüber ihrem Sprachlehrer den Pfleger beschuldigen. Ein Schimpansenweibchen namens Washoe argumentierte gelegentlich olfaktorisch statt optisch, indem sie z.B das Wort „Blume“, als sie es gelernt hatte, auch für Pfeifentabak und Küchengerüche benutzte. Eine Zwergschimpansin namens Lana, der man beigebracht hatte, mit Hilfe von Symbolen auf einer elektronischen Tastatur zu kommunizieren, tippte den traurigen Satz „Bitte, Maschine, kitzle Lana!“
Auch die Mimesis, wie die moderne Biologie sie erforscht, entbirgt Überraschendes. Peter Berz erwähnt in einem seiner antidarwinistischen Texte den Entomologen Paul Vignon. Er studierte Laubheuschrecken und hat nachgezeichnet, wo sich die Heuschrecken von ihrem Vorbild lösen und selbständige Formen entwerfen – bis er ihnen schließlich „une mission d’art ou de science“ zuschrieb. Diese Mission, die sich auch anderswo findet (bei allokryptischen Krebsen, Gottesanbeterinnen, Buckelzikaden und Laternenkäfern z.B.), hat laut Vignon in den Laubheuschrecken ihre vornehmsten Botschafter. Er nennt sie „Heuschrecken der Kunst“.
Der Biologe argumentiert hierbei ähnlich wie der Soziologe Roger Caillois – in seinem Buch „Méduse & Cie“, in dem er die Mimesis von ihrer darwinistischen Verklammerung mit der „Nützlichkeit“ gelöst – und sie als ästhetische Praxis begriff: So versteht er z.B. die falschen Augen auf den Flügeln von Schmetterlingen und Käfern als „magische Praktiken“, die abschrecken und Furcht erregen sollen – genauso wie die „Masken“ der so genannten Primitiven. Und die Mimese überhaupt als tierisches Pendant zur menschlichen Mode, die man ebenfalls als eine „Maske“ bezeichnen könnte – die jedoch eher anziehend als abschreckend wirken soll. Wobei das Übernehmen einer Mode „auf eine undurchsichtige Ansteckung gründet“ und sowohl das Verschwinden-Wollen (in der Masse) als auch den Wunsch, darin aufzufallen, beinhaltet. So oder so stellt die Mimese jedenfalls einen Überschuß der Natur dar.
Alle Photos von der Jungviehweide: Katrin Eissing
Ähnliches geschieht bei der sexuellen Selektion – „Survival of the Prettiest“ auch genannt, das für Darwin neben der Natürlichen Selektion bei der Entwicklung der Arten wesentlich war. Der Literaturwissenschaftler Winfried Menninghaus entwarf daraus in seinem Buch „Wozu Kunst? Ästhetik nach Darwin“ eine neue Soziobiologie – indem er einen Bogen vom Rad schlagenden Pfau zu dem seinen Körper bunt bemalenden Neandertaler und darüberhinaus bis zu uns heute schlug. In einer Rezension hieß es dazu: „Menninghaus erwähnt den Trojanischen Krieg, wenn es darum geht, dass Tiere in blutigen Kämpfen um Weibchen konkurrieren, die dann ihre Wahl treffen.“
Laut dem Biologen Adolf Portmann brachte jedoch „vor allem die Beobachtung keinerlei einwandfreie Beweise für eine Wahl seitens der Weibchen.“ Darwin hatte, wie auch viele andere Biologen, anscheinend zu „rasch verallgemeinert“, wobei er „begreiflicherweise besonders beeindruckt war von Vögeln mit starkem Sexualdimorphismus“ (d.h. bei denen man deutliche Unterschiede zwischen Männchen und Weibchen erkennen kann). „Doch gerade mit den imposantesten Beispielen dieser Art, dem Pfau und dem Argusfasan, hatte er Pech: hier gibt es keinerlei Wahl durch die Weibchen,“ schreibt der Tierpsychologe Heini Hediger. Ähnlich sieht es bei den Paradiesvögeln, Webervögeln und Seidenstaren aus, die mitunter „ganz für sich allein balzen“. Die Kampfläufer dagegen, die Hediger ebenfalls erwähnt, balzen zwar in Gruppen, aber zum Einen sind die „spektakulären Kämpfe“ der Männchen „harmlose Spiegelfechtereien“ und zum Anderen nehmen die Weibchen keinerlei Notiz davon: „Nicht einmal hinschauen tun sie.“ Ihr Erforscher, G. Dennler de la Tour, beobachtete zudem, dass es ganz antidarwinistisch der im Duell unterlegene Kampfläufer ist, der, sobald er sich erholt hat, zu den Weibchen geht und sie nacheinander begattet, während die Sieger davonfliegen.
Nun ist der Darwinismus – folgt man Karl Marx – bloß eine Projektion der schlechten Angewohnheiten der englischen Bourgeoisie auf die Natur, so dass man sich fragen darf, wie es denn unter diesen Menschen mit dem „Survival of the Prettiest“ aussieht. Bei ihnen geht es laut der Kulturwissenschaftlerin Ingelore Ebberfeld, die das „Balzverhalten“ von Frauen in Discotheken und Clubs erforscht hat, eher zu wie bei den wachtelähnlichen Laufhühnchen, auch Kampfwachteln genannt: „Hier trägt das deutlich größere Weibchen ein Prachtkleid, balzt vor dem Männchen und treibt sogar Vielmännerei,“ wie der Tierbuchautor Herbert Wendt schreibt. „Das unscheinbar gefärbte Männchen hockt auf dem Boden und stößt leise, kläglich klingende Töne aus. Die Laufhenne aber rennt im Kreis um den Hahn herum, gurrt und brummt, pfeift und trommelt, trampelt und scharrt mit den Füßen, bis der Hahn ihren Werbungen nachgibt.“
Diese antidarwinistische Umdrehung der sexuellen Selektion scheint mir bei den Menschen jedoch noch Zukunftsmusik zu sein. Damit gebe ich das Lesepult hier auf der blühenden Wiese frei. Vielleicht bringt der nächste Dichter sie zum Lachen.
Der Greek Turn
Es gab schon so manche „Wende“ – erwähnt sei die Aufkündigung des Sozialismus und der „Iconic“ bzw. „Visual Turn“, über den die Zeitschrift „Gegenworte“ der Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften 2009 eine ganze Ausgabe herausbrachte. Der Emeritus und Mitbegründer der Akademie, Conrad Wiedemann, lästerte darin allerdings über diese ganzen „Imagologen“ – ob ihrer Bemühungen um saubere Bilder und der Etablierung einer eigenen „Bildwissenschaft“. Ihm war und ist der „Turn“-Begriff zutiefst verdächtig: Als man noch von „Protest“ sprach und damit „starke Bewegungen“ lostrat, war ihm wohler. Damals wie heute ging es um die „Deutungshoheit“, aber „68“ gab man das wenigstens noch zu. „Ich habe das Gefühl, dass eine Emanzipation in diesem Fall gar nicht gelingen kann, auch und erst recht nicht, wenn [in dieser „Gegenworte“-Ausgabe] mehr als „30 mal“ von einem „Iconic Turn“ gesprochen wird.
Noch relativ neu ist der „Animal Turn“, als einer Unterart der „Gender Studies“. Überall entstehen aber schon diesbezügliche Plattformen, „Netzwerke“ und Initiativen für Institutsgründungen. „Sag Du zum Gnu“ titelte die Zeitschrift „Cicero“ darob. Die „Jungle World“ sieht das jedoch kritischer: Erst mal müssen die Menschen durchstudiert und aufgeklärt werden, die Befreiung der Tiere – das ist dann „Aufgabe der Geschichte, und zwar einer Geschichte, an der das Tier im Mensch beteiligt ist, wie auch der Mensch die Tiere mit in die Geschichte nimmt.“ Dunkle Worte!
Aber schon klar: Erst mal müssen wir Revolution machen – denn was ist Geschichte anders? Schon bahnt sich jedoch, wenn ich die Zeichen richtig deute, eine neue „Wende an: der „Greek Turn“, obwohl der jüngst verstorbene Philosoph Friedrich Kittler ihn bereits um das Jahr 2000 herum ankündigte – zum Schrecken seiner Schüler, den „Kittler-Jungs“ in der Humboldt-Universität. Bei seinem Griechen-Turn bezog Kittler sich empirisch-positiv vor allem auf die – fast noch mutterrechtlich beeinflußten – Vorsokratiker (die Phytagoräer, Spartaner, auf Homer und Sappho) – als die Götter noch mehr waren denn bloße Ideen: Zu Zeiten, als die mit der Eisenzeit seßhaft gewordenen „Griechen“ die bronzezeitlichen Nomadenkrieger ringsum besiegten und dem Gott der Schmiedekunst, Hephaistos, dabei viel zu verdanken hatten.
Zeus versprach ihm deswegen seine „Kopfgeburt“ – die Göttin des Kampfes: Athene, die dann Schutzgöttin der Athener wurde. „Als Hephaistos sich mit ihr „vereinigen wollte“, verschwand Athene jedoch, und der Samen fiel auf die Erde.“ Weiter heißt es im Wikipedia-Eintrag: „So wurde Erichthonios, (aus eris – Streit und chthon – Erde) der legendäre Held der Athener, von [der Erdgöttin] Gaia geboren,“ der dann König von ganz Attika, mit dem Hauptort Athen wurde. Das männliche Ejakulat, das entbirgt sich beim „Greek Turn“, war also durchaus fruchtbar damals noch, was man vom „weiblichen Ejakulat“ nicht mehr sagen konnte und kann. Denn es wird bis heute nicht einmal, wie das männliche Ejakulat – als harter Fakt, sondern von der Wissenschaft und großen Teilen der Öffentlichkeit als reine Fiktion begriffen.
Davon zeugt nicht nur der aktuelle Streit bei Wikipedia über den entsprechenden Eintrag: Dabei versuchen die Korrekturen und Rekorrekturen von Frauen sich gegen die von Männern zu behaupten. Die Wahrheitsfindung in diesem Machtdispositiv läuft aber wohl darauf hinaus, dass sich das Verhältnis zwischen Fakt und Fiktion (wieder) umdreht. So wie ja auch die Personifizierung der Erde – die Göttin Gaia – vor einigen Jahren bereits wiederkehrte – in Form der „Gaia-Hypothese“. Sie besagt, laut ihren Begründern Lynn Margulis und James Lovelock, „dass die Erde und ihre Biosphäre wie ein Lebewesen betrachtet werden kann, insofern die Biosphäre – die Gesamtheit aller Organismen – Bedingungen schafft und erhält, die nicht nur Leben, sondern auch eine Evolution komplexerer Organismen ermöglichen.“ (Wikipedia)
Die Nachrichtenlage
Das Facebook quillt über vor „Neuigkeiten“ aus Istanbul, wo fünf Tage lang etwa 100.000 Demonstranten gegen die Planierung einer kleinen Parkanlage mit einer „lachenden Wiese“ in der Mitte neben dem zentralen „Taksim“-Platz zugunsten eines Einkaufszentrums kämpften. Es gab mindestens eine Tote, über Tausend wurden verhaftet, zuletzt überließ die Polizei jedoch den empörten Massen die Straße – und den Park, um den es schon lange nicht mehr geht, wie ein Demonstrant sagte: „Die Leute wollen die Revolution!“
Ähnliches hörte man in Frankfurt, wo am Wochenende erneut gegen die Macht und Machenschaften des Finanzkapitals demonstriert wurde. Hier kesselte die Polizei jedoch die etwa 10.000 Demonstranten z.T. ein und konnte sie letztlich zerstreuen,die Bilder, die dabei entstanden und veröffentlicht wurden, vermitteln nun laut taz eine „klare Botschaft, die von den anderen europäischen Staaten nachgeahmt werden soll: Protest ist unerwünscht – und wird notfalls niedergeknüppelt.“
Die FAZ titelte über die Biennale von Venedig, auf der erstmals viele unbekannte Künstler mit ihren Arbeiten vertreten sind: „Wenn alle mitmachen, steht eine Revolution bevor.“ Also auch da grummelt es an der jungen Basis – ähnlich wie derzeit in vielen arabischen Ländern…Das Bild, das die FAZ von der Biennale auswählte, um den Artikel zu illustrieren, stammt vom britischen Künstler Jeremy Dellers und zeigt den Maler und Dichter William Morris, wie er die Privatyacht des in London lebenden russischen Öl-Millardärs Roman Abramowitsch im Meer versenkt.
Dieser verfügt jedoch laut „Guardian“ über zwei weitere Yachten, die allesamt zu den größten der Welt zählen, hinzu kommen noch zwei private U-Boote und zwei Schlösser auf dem Festland.
Während sich in Berlin-Kreuzberg etwa 4000 Leute zu einer Solidaritätsdemonstration mit den Istanbuler Parkverteidigern zusammenfanden, kam via Facebook die Meldung: „Madonna: Stop the Violence in Turkey. Start a Revolution of Love!“
Das ist aber noch nicht alles – die SZ vermeldet auf Seite 1: Ein Ingenieur aus San Francisco hat für seine Freundin einen Verlobungsring gebastelt, der mit kleinen Leuchtdioden besetzt ist. Für sich hat er ein spezielles Armband konstruiert, das ein magnetisches Wechselfeld zu dem Ring aufbaut, so dass dieser aufleuchtet, wenn er seiner Freundin nahe kommt.
Das ist aber noch gar nichts gegenüber der Erfindung eines hessischen Ingenieurs, der schon seit längerer Dildos entwirft – und verkauft. Wie eines seiner Werbevideos zeigt, läßt sich seine neueste Dildo-Kreation über das Internet steuern. Auf diese Weise, so erklärt er, kann der Mann, wenn er auf Montage oder im Auslandseinsatz ist, über seinen Laptop den Dildo in der Vagina seiner Frau steuern: mal schneller, mal langsamer.
Dass es weit weniger Deutsche und Berliner sowie in Deutschland lebende Ausländer gibt – als angenommen, zeigt das „Ergebnis des Zensus 2011“; die FAZ illustrierte diese Nachricht mit dem Photo eines Gemäldes von Caspar David Friedrich, das gerade im Louvre auf der Ausstellung „De l’Allemagne“ gezeigt wird, für die Bundeskanzlerin Angela Merkel „Schirmherrin“ ist. Das Bild zeigt eine Frau in langem Kleid und mit hochgesteckten Haaren auf einer Wiese „vor der untergehenden Sonne“. Ihr offenen Handflächen hält sie dem Licht entgegen – so wie Anhänger des islamischen Glaubens, wenn sie beten. Huldigt die Frau dem Sonnengott Aton, der laut Freud durch den Pharao Echnaton und seiner Hauptfrau Nofretete den Monotheismus vorwegnahm; die Büste von Nofretete wurde vor rund 100 Jahren von Ludwig Borchardt ausgegraben und heimlich nach Berlin verbracht, wie der Spiegel berichtete.
Im Forum „Tierbefreiung“ erzählte die Herausgeberin der Zeitschrift „Tierstudien“, Jessica Ulrich, ihrem Interviewer: „Ich hab z.B. Paviane in Südafrika beobachtet, die jeden Abend gemeinsam schweigend auf Bäumen gesessen haben und den Sonnenuntergang über einem Fluss betrachtet haben. Keine Ahnung, was ihnen dabei durch den Kopf ging. Vielleicht hatten sie ein Gefühl der Erhabenheit, das auch bei uns aufkommt, wenn wir ein großartiges Kunst- oder Naturschauspiel sehen, oder sie fanden es einfach schön.“
Neue Sprachen
Auf dem internationalen „Planet Diversity“-Kongreß, der 2008 in Bonn stattfand, ging es neben dem Erhalt der Vielfalt von Saatgut und Arten auch um den Erhalt der noch rund 6500 „lebenden“ Menschensprachen, von denen etwa die Hälfte vom Aussterben bedroht ist.
Aus Potsdam kam im Jahr darauf jedoch die gute Nachricht, dass es nunmehr eine neue Sprache gibt. Erforscht hatte sie die Potsdamer Sprachforscherin Heike Wiese. Dabei handelt es sich um eine von den Jugendlichen in den Westberliner Migrantenvierteln entwickelte „Kiez-Sprache“, deren „Witz“ die Forscherin gegen ihre lehrerhafte Diffamierung als „doppelte Halbsprachigkeit“ ins Feld führte. Als Beispiele dafür sei hier die Drohung „Isch mach disch urban!“ erwähnt (mit Urban ist das Kreuzberger Zentralkrankenhaus in der Urbanstraße gemeint) sowie der Satz: „Ja, isch aus Wedding“. Diese „Kanak Sprak“ besteht in der Unterhaltung auch nicht aus zwei, sondern aus drei Sprachen: Türkisch/Arabisch, Hochdeutsch und Berlinisch. Wobei sie letztere en passant auch noch „rettet“, denn diese wird ebenfalls diffamiert. So bekam z.B. eine Marzahnerin keine Anstellung bei der Polizei, weil sie angeblich „zu sehr Berlinern“ würde. Schon seit der Reichsgründung 1871 wurde der Berliner Dialekt und sein Witz bekämpft – vorneweg von Gymnasiallehrern und Professoren: Wer berlinerte, galt als ungebildet! Albert Lortzing sprach von einem „ekelhaften Dialekt“, nach der Wende tat man ihn im Westen al „Proletendeutsch“ ab.
Einige amerikanische Sprachforscher haben nun noch eine weitere neue Sprache entdeckt – in Australien. Sie setzt sich ebenfalls aus drei anderen zusammen: aus dem Warlpiri der Aborigines sowie aus Englisch und Kriol. Letztere entstand im Kontakt zwischen englischen Siedlern und den Ureinwohnern. Die neue Sprache nun – „Light Warlpiri“ genannt – wird vor allem von den Jugendlichen der Kleinstadt Lajamanu in den Northern Territories gesprochen. Die Süddeutsche Zeitung schreibt, dass sie grammatische Formen aufweist, die sich in keiner der drei Quellsprachen finden. So bedeute der Ausdruck „yu-m“, dass jemand in der Vergangenheit und der Gegenwart sei (abgeleitet vom englischen „I am“ = Ich bin, übertragen auf die Person „you“). „Die Kinder und Jugendlichen von Lajamanu hätten demnach die zuvor unbekannte Zeitform der ,Nicht-Zukunft‘ erfunden.“ Warum, verstehe ich zwar nicht, aber das hört sich jedenfalls nicht gut an.
Das Gegenteil – nämlich voller Zukunft – ist eine weitere neue – geradezu antiregionale – Sprache, die von zwei New Yorker Soziologen erforscht und in der neuen Ausgabe der Zeitschrift „Merkur“ vorgestellt wurde. Es handelt sich dabei um das „International Art English“ (IAE), eine Sprache, die sich durch Substantivierungen auszeichnet – aus „visual“ wurde „visuality“, aus „global“ wurde „globality“, statt „reality“ heißt es „the real“, und der „space“ (Raum) wird mit Präfixen – para-, proto-, post-, and hyper- – verfielfacht. Im Übrigen zeichnet sich diese neue Sprache dadurch aus, dass mit ihr immer mehr gesagt wird als gemeint ist. Es ist also schlichte Angeberei und Hochstapelei. In Berlin gibt es inzwischen kaum noch einen Künstler, der seine „Performances“ oder „Exhibitions“ nicht in IAE annonciert. Forciert wird diese Scheißsprache von US-Galeristen, die fordern, der Berliner Kunstbetrieb solle gefälligst Englisch sprechen, alles andere sei provinziell. Sogar die deutsche Leitung der Max-Planck-Forschungsinstitute forderte unlängst ihre Mitarbeiter auf, in Englisch zu diskutieren und vor allem zu publizieren. Da fast alle, die sich diesen Befehlen beugen, dem Lernen von Fremdsprachen eher abhold sind, kommt dabei fast immer IAE raus: „schwülstiges Geschwafel“.
So wie die Potsdamer Erforscherin der deutsch-türkisch-arabischen „Kanak Sprak“ seit ihrer Entdeckung mit Schmähungen überhäuft wird, weil sie diesem scheußlichen Gestammel die Weihen einer wirklichen neuen Sprache verpaßte, wird auch die Arbeit der beiden US-Soziologen über das IAE von allen Seiten kritisiert, denn – wie der Philosoph Gilles Deleuze sagte, bei der heutigen Kunst gibt es wenig zu sehen, aber viele Worte drumherum. Und diese bestehen eben aus hochgestochenem Quatsch, den selbst englische Muttersprachler nicht verstehen, der aber Eindruck machen soll. Neu ist daran nur, dass er wegen der Unmenge von Künstlern in Berlin und der allgemeinen intellektuellen Unterwerfung unter den verblödenden US-Imperialismus sich hier zu einer fast flächendeckenden Sprache entwickelt hat.
Dabei ist das Angloamerikanische sowieso schon eine „Killersprache“, man spricht dabei auch von „Glottophagie“, „gemünzt ist der Ausdruck ‚Killersprache‘ auf die Kolonialsprachen,“ schreibt die FAZ, diese hätten in vielen Regionen die „Sprachenwelt dezimiert“, das Deutsche u.a. das Jiddische – indem man dabei die Sprecher gleich mit „dezimierte“.
Dafür gibt es heute eine „Gesellschaft für bedrohte Sprachen“, die sich um „siechende Sprachen“ – wie Sorbisch und Friesisch – z.B. kümmert, weil – so die „Gesellschaft“ – mit ihrem Verlöschen auch ein „Mittel der Welterschließung“ zerstört wird. Allein zwischen 1950 und 2005 starben 230 Sprachen aus. Es gilt laut FAZ dem Schwachsinn entgegenzutreten, „dass es ein menschheitsgeschichtlicher Fortschritt sei, wenn die ganze Welt schlechtes Englisch spräche.“
Zweite Chance
Im Mauerpark sah ich an einem Postkartenstand, wie ein etwa Vierzigjähriger Mann aus Stuttgart, ein Ingenieur vielleicht, kurz zögerte, aber dann doch eine Karte mit der Aufschrift „Berlin liebt Dich“ kaufte. Er schien diesen an sich ja sauverlogenen Spruch erst auf sich bezogen zu haben – im Sinne von: „Ja, hier bekomme ich nun meine Zweite Chance.“ Wie ein Staubsauger zieht die neue Hauptstadt Midlifekrisen aus Nah und Fern an, die hier noch mal neu anfangen wollen. Dann fiel dem „Ingenieur“ jedoch ein, dass die Postkarte ja zum Wegschicken da war. Und man sah richtig, wie er überlegte, wem er sie schicken könnte. Zuerst fielen ihm einige weibliche Adressaten ein – wohl weil er statt „Berlin“ seinen Namen dort gelesen hatte: August Meier (oder wie immer er hieß) liebt dich. Komm zu ihm nach Berlin. Aber dann erinnerte er sich an einen guten Freund aus alten Stuttgartzeiten, der dort noch immer in einer Midlifekrise steckte – und dringend eine Zweite Chance brauchte. Ihm würde er die Karte schicken.
Die FAZ berichtete heute ausführlich über einen Bestatter namens Quasthoff, der eigentlich ein betrügerischer Leichenentsorger war und deswegen in Moabit vor Gericht stand. Er hatte die Urnen Verstorbener u.a. ins Wuppertaler „DHL-Depot für unzustellbare Sendungen“ abgestellt. Sein früherer Chef, ein „Discount-Bestatter in Köpenick“, der ihn angelernt hatte, war stets mit einem Kofferraum voller Urnen in die Schweiz gefahren, wo er sie in „stillen Forsten“ entsorgt hatte. Es gibt dort bei Zürich angeblich ganze Fluren voller Köpenicker, die nach der Wende starben – und irgendwie billig entsorgt werden mußten. Besagter Quasthoff nun will sich selbst eine „Zweite Chance“ geben, wie er vor Gericht ausführte. Dazu habe er bereits „ein Fernstudium Marketing und Controlling in Stuttgart begonnen“.
Einen ganz ähnlich Fall aus den USA vermelden die Medien – ebenfalls unter der Überschrift „Zweite Chance“. Dabei geht es um den Bestsellerautor Jonah Lehrer, der sich in seinem Buch „Imagine“, das von den „Berufsgeheimnissen der Kreativen“ handelte, die „Weisheiten“ von Bob Dylan selbst ausgedacht hatte. Als das rauskam, rief sein Verlag das Buch aus den Läden zurück, er verlor seinen Job beim „New Yorker“ und seine „Einnahmen als Intellektuellendarsteller im Vortragstourneezirkus.“ Nun will ihn jedoch ein anderer Verlag erneut ins Rennen schicken – mit der Begründung: „Wir glauben an Zweite Chancen“. Josuah Lehrer soll einen weiteren „populärwissenschaftlichen Bestseller“ schreiben. Diesmal über die „Macht der Liebe“ – auf der „Basis verhaltenspsychologischer Erkenntnisse einerseits und autobiographischer Bekenntnisse andererseits“.
Auch der Mitarbeiter der bayrischen Hypo-Vereinsbank Gustl Mollath bekommt eine zweite Chance – d.h. sein Fall wird neu aufgerollt: Er hatte u.a. seine Frau, die in der selben Bank wie er arbeitete, wegen Schwarzgeldgeschäfte mit Schweizer Banken angezeigt. Stattdessen wurde jedoch er wegen „schwerer Körperverletzung gegenüber seiner Frau, Freiheitsberaubung und Sachbeschädigung“ angeklagt – und für 7 Jahre in einer Irrenanstalt weggesperrt.
Keine Zweite Chance bekam dagegen ein Angestellter des Kantons Zürich, den man entlassen hatte, weil er Aufträge an eine Firma vergab, an der er selbst beteiligt war. Seine Ehefrau hatte ihn angezeigt. Er machte geltend, dass er den Kanton dabei nicht geschädigt hätte. Das Gericht wies nun jedoch seine Klage auf Wiedereinstellung ab – mit der Begründung, dass schon der Verdacht auf ein solches Vergehen ausreiche, um das „Vertrauen der Öffentlichkeit in ein unabhängiges staatliches Vergabewesen nachhaltig zu erschüttern.“ Es fügte hinzu: „Im Falle einer Weiterbeschäftigung bestünde zudem Wiederholungsgefahr, da dem Entlassenen jegliche Einsicht fehle.“
Müßte ich ein Fazit aus diesen hier nachskizzierten Fällen ziehen, würde ich sagen: Man muß verdammt einsichtig sein, damit Berlin einen liebt.
Wohnen bei Hölderlin
– Nah wohnen, ermattend auf Getrenntesten Bergen,
– Will einer wohnen, / So sei es an Treppen. Und wo ein Häuslein hinabhängt Am Wasser halte dich auf.
– Das Wohnen »am sichern Gestade«
– Oder geduldig auch wohl im furchtsamen Banne zu wohnen
– An den Äther. … Wohnen und spielen vergnügt in der ewigen Halle des Vaters! Raums genug ist für alle.
– Zu wohnen einsam, jahrlang, unter Dem entlaubten Mast, wo nicht die Nacht durchglänzen Die Feiertage der Stadt, Und Saitenspiel und eingeborener Tanz nicht.
– Das von Liebe nicht läßt, wie gern würd ich unter euch wohnen
– Denn eher muß die Wohnung vergehn,
– Hier aber wollen wir bauen. Denn Ströme machen urbar Das Land.
– Will aber niemand wohnen, wo wir bauten, unsre Schuld und unser Schaden ist es nicht. Wir taten, was das unsre war.
– Den Hunger nennt ihr Liebe, und wo ihr nichts mehr seht, da wohnen eure Götter. Götter und Liebe?
– Und einsam ist der Göttliche, Froh nie, Denn ewig wohnen sie, des Aethers Blühende Sterne, die Heiligfreien.
– Freilich ist das Leben arm und einsam. Wir wohnen hier unten wie der Diamant im Schacht. Wir fragen umsonst, wie wir herabgekommen, um wieder den Weg hinauf zu finden.
– O Erde! o ihr Sterne! werde ich nirgends wohnen am Ende?
– Ja! im grünen Dunkel dort, wo unsre Bäume, die Vertrauten unsrer Liebe stehn, wo, wie ein Abendrot, ihr sterbend Laub auf Diotimas Urne fällt und ihre schönen Häupter sich auf Diotimas Urne neigen, mählich alternd, bis auch sie zusammensinken über der geliebten Asche, – da, da könnt ich wohl nach meinem Sinne wohnen!
– Der neue Geisterbund kann in der Luft nicht leben, die heilige Theokratie des Schönen muß in einem Freistaat wohnen, und der will Platz auf Erden haben und diesen Platz erobern wir gewiß.
– Ulrich Knoop: Dort wohnen die Menschen, und sie schüren das Feuer im Herd, dessen Rauch sichtbar werden kann: „und es blühet / An Dächern der Rauch, bei alter Krone / Der Thürme, friedsam.“
– Die Aussicht: Wenn in die Ferne geht der Menschen wohnend Leben
– Glücklich wohn ich in dir.
– Und liebt er nicht, so ist er eine dunkle Wohnung, wo ein rauchend Lämpchen brennt.
– Aber fraget mich eins, was sollen Götter im Gasthaus? Dem antwortet, sie sind, wie die Liebenden, feierlich seelig, Wohnen bräutlich sie erst nur in den Tempeln allein…
– An Neckars Weiden, am Rheine, Sie alle meinen, es wäre Sonst nirgend besser zu wohnen. Ich aber will dem Kaukasos zu!
– Im Finstern wohnen Die Adler und furchtlos gehn Die Söhne der Alpen über den Abgrund weg
– Zu Tigern fliehn, zu Schlangen Gerechtigkeit, Und Kannibalenrache des Kindes Brust Entflammen, und Banditentrug im Himmelsgewande der Unschuld wohnen.
– Bezogen auf das Gedicht »In lieblicher Bläue« stellt Martin Heidegger an die Zeilen Hölderlins die Frage, ob „im heutigen Wohnen noch Raum bleibt für das Dichterische“.
– Frankfurt: In diesem Haus befindet sich oben rechts eine Wohnung, in der seit 1987 Hölderlin-Forscher einige Wochen lang unentgeltlich wohnen und arbeiten können
– Stuttgart: Im August 2008 ist es soweit, die Hölderlin Suite ist fertig und kann ab September bezogen werden
– Essen: Das besondere an dem Wohn-Komplex „HÖLDERLIN 2“ ist, dass die Firma ALLBAU nicht nur die Wohnräume vermietet.
– Übersicht zu einer Philosophie des Wohnen: Für Heidegger wurden in jener Epoche seines Schaffens die Sprachschöpfungen Friedrich Hölderlins zur Inspirationsquelle, der von einem dichterischen Wohnen des Menschen sprach. Immerhin, so lässt sich mit Heidegger verbinden, kann und muss das Wohnen im Zusammenhang eines allgemeinmenschlichen Daseinsverständnisses und Weltgefühls bzw. Gestimmtseins gefasst werden.
– Der Hölderlin e.V. Hamburg berät, … Anthroposophie, Depression, Soziotherapie, Betreutes Wohnen, Hölderlin…
– Hölderin teilt Jung mit: Im Sommer gemeinsames Wohnen vor den Toren der Stadt.
– »Dichterisch wohnen« heißt für Hölderlin: in der Gegenwart der Götter stehen…
– Das Hölderlinquartier: Eine neue Perle im Zentrum Nürtingens. Es erwartet Sie ein attraktives Gebäudeensemble mit sieben Mehrfamilienhäusern, die alle nach Süden ausgerichtet sind.
– Fellbach: Durch das kommunale Förderprogramm wird das auch ökologisch zukunftsweisende Baukonzept des HÖLDERLIN CARREES mit „Familienstartgeld von 4000 Euro für jedes Kind unter 16 Jahren gefördert.
– „Das Geviert bei Hölderlin und Heidegger: Entfaltung eines mythischen Raumes“ – Vortrag zum Thema „Bauen Wohnen Denken“ von Karl-Ludwig Diehl.
– FAZ: Vor rund 200 Jahren eilte der Dichter Friedrich Hölderlin – von Sehnsucht getrieben – nach Frankfurt am Main, um seine Geliebte Susette Gontard heimlich zu treffen. Und am gleichen Tag zurück nach Bad Homburg. Sie war die Frau eines angesehenen Bankiers. Er hatte ihre Kinder unterrichtet, bis der Hausherr von dem Liebesverhältnis erfuhr und ihn des Hauses verwies. Seit Juni 2008 verbindet der Hölderlinpfad Frankfurt am Main mit Bad Homburg.
– Heidegger über „DAS WOHNEN DES MENSCHEN“: Hölderlins Wort: »Voll Verdienst, doch dichterisch, wohnet der Mensch auf dieser Erde« wird kaum gehört, ist noch nicht gedacht.
– Schüler des Hölderlin Gymnasiums in Heidelberg nach ihrem Austauschprogramm mit Polen: „Einige Familien wohnen in einer Zweizimmerwohnung, andere in einer Villa mit riesigem Grundstück.“
– Rilke „An Hölderlin“: O du wandelnder Geist, du wandelndster! Wie sie doch alle wohnen im warmen Gedicht, häuslich, und lang bleiben im schmalen Vergleich.
– Heidegger: »Wohnen« ist technisch praktisch gesehen das Innehaben einer Unterkunft… Hölderlin spricht von den »Asylen«, den Ruhestätten der Menschen…
– Gerhard Falkner, Hölderlin Reparatur: Droben wohnen. Die Nächte werden immer kleiner. Immer teurer. Droben wohnen. Ruhig sein?
– Wiss. Hausarbeit: Die von Heidegger zitierten Verse aus dem Gedicht Hölderlins stellt das Dichterische nicht nur neben das Wohnen, sondern hier wird vom menschlichen Wohnen, was ja ein Grundbestandteil des menschlichen Lebens ist, ausgesagt, dass es dichterisch sei.
– Aus Georg Kreislers Dankesrede für den Friedrich-Hölderlin-Preis der Stadt Bad Homburg: Ich konnte mir gerade leisten, in einem Hotel zu wohnen, das drei Dollar im Tag kostete und dementsprechend aussah. An eine Wohnung war nicht zu denken, woher hätte ich das Geld für Möbel nehmen sollen? Alles kein Vergleich mit Hölderlin, der nie hungrig war und immer einen Schlafplatz hatte.
– Stuttgart – zu vermieten: Aussichtsreiches Ein-Zimmer-Apartment. Es befindet sich in der sechsten Etage des Hölderlin-Hochhauses.
– Die Berliner Schaubühne – Hölderlins „Hyperion“: Auf der Bühne ist eine bürgerliche Wohnung aufgebaut – mit Sitzgruppe.
– Nymphen wohnen in Grotten, Bäumen und Quellen oder sie sind deren Seele. Dies teilen alle Nachschlagewerke zu Hölderlins Zeit und später mit.
– Wo sich Chamisso und Hölderlin treffen… „(…) Ich bin ja … O Erde! o ihr Sterne! werde ich nirgends wohnen am Ende?
– Universität Oldenburg: Die Dissertation behandelt die Beziehung zwischen der hölderlinschen Kritik der Vernunft und der Möglichkeit eines dichterischen Wohnens, um dem dichterischen Wohnen Bestimmungen zu geben.
– Es ist bekannt, dass Hölderlin 36 Jahre in Tübingen im so genannten „Hölderlin-Turm“ wohnte. In dieser Zeit war er angeblich schon schwer psychisch erkrankt und mehr oder weniger sozial isoliert. Zeitdokumente belegen, dass er zuvor in einer psychiatrischen Anstalt lebte. Aufgrund verschiedener Zeitzeugenberichte liefert Hölderlin eine Bandbreite und Koexistenz verschiedener psychiatrischer Diagnosen in einer Person. Interessant erscheint die Entstehung und Veränderung seiner Symptome im Kontext seiner sich verändernden Lebenssituationen. Aber auch der Ansatz, dass seine gesellschaftliche Ausgrenzung politischen Zwecken diente, bzw. auf individuelle personelle Machtspiele beruhte, inspiriert uns zur institutionellen Identifikation und Namensgebung von „Hölderlin&Co“. Unser Team arbeitet an dem Ziel des gesamten Unternehmens prenzlkomm: Die vollständige Genesung der Klienten im Kontext ihrer Lebenssituation. prenzlkomm gGmbH Abteilung Hölderlin&Co. Schönhauser Allee 161 A, 10435 Berlin.
– Stuttgart Immo Scout: Hier finden Sie Mietwohnungen in Hölderlinplatz von lokalen Anbietern sortiert nach Preis und Aktualität.
– Heidegger über Heimkunft und Hölderlin: „Es ist nahe. Aber das Gesuchte ist noch nicht gefunden, wenn »finden« heißt, den Fund zu eigen bekommen, um in ihm als dem Eigentum zu wohnen.“
– Philosophieblog: Vor allem in seinen späteren Hymnen gründet Hölderlin ein neues Denken, ein neues Wohnen des Menschen auf der Erde…
– Universität Siegen: Angebot für Studenten: Wohnpartnerschaft im Hölderlin-Gebäude.
– Schoenberner an Hölderlin: Man soll, sagte mir Lotte in Marseille / nur in Häusern wohnen / die zwei Ausgänge haben…
– Heideggers Hölderlin WS 1934/35: Das Seyn der Götter ist die „Flüchtigkeit“, die kaum da ist. Ihre Flüchtigkeit soll, weitergewinkt, eine geschichtliche Bahn öffnen, ein Volk vor eine Entscheidung stellen und damit ein bodenständiges Wohnen des Volkes gründen. / Die Dichtung als Stifterin eines bodenständigen, vaterländischen Wohnens bereitet auch das Göttliche für das Volk vor.
– „Die Götter Hölderlins wohnen im hegelschen Begriff“ – Versuch einer Beschreibung dieser göttlichen Wohnstätte. 10.15-10.30. Diskussion.
– WOHNEN IM HÖLDERLIN-HAUS. Das F. X. Mayr-Zentrum ist im Hölderlin-Haus untergebracht. – benannt nach dem Dichter Friedrich Hölderlin, der hier im Juni 1796 glückliche Wochen verbrachte.
– Forschungsprojekt der Hölderlin-Gesellschaft, 72070 Tübingen Hölderlinturm Bursagasse 6: Die wichtigste Arbeit galt der Spurensuche und der Erforschung der Lebensumstände des Dichters Friedrich Hölderlin (1770-1843) in Hauptwil. Warum schreibt er, es sei »eine wenig glückliche Zeit« gewesen? Wo in Hauptwil hat er unterrichtet, wo gewohnt?
– Stefan George – Ode an Hölderlin: Meine weißen Ara haben safrangelbe Kronen, Hinterm Gitter, wo sie wohnen, Nicken sie in schlanken Ringen…
Damit soll es genug sein: Hölderlin-Verse und -Hymen über das Wohnen und Annoncen für Betreutes Wohnen in Immobilien mit dem Namen Hölderlin halten sich in etwa die Waage, würde ich sagen.
Sich entwohnen
Mehr als zwei Millionen Polen suchen im westlichen Ausland Arbeit. Nicht wenige bleiben dort für immer. Viele Mitglieder seiner Gemeinde, die der Arbeit wegen nach Amerika auswanderten, kämen „in Metallsärgen zurück“, berichtete der Priester in Augustow einer Journalistin. Die „Saisonarbeiter“-Berichte und -Romane sind schon fast zu einem eigenen Genre in der polnischen Literatur geworden. Ganze Dörfer pendeln ins nahe Ausland. Die beliebte polnische Schriftstellerin Olga Tokarczuk ist nur noch auf Reisen.
Das Unterwegs-Sein ermöglicht ihr die „größtmögliche Annäherung an das, was unsere moderne Welt zu sein scheint: Bewegung und Instabilität.“ Gleich zu Beginn ihres neuen Romans „Unrast“ heißt es: „Meine erste Reise unternahm ich zu Fuß, quer über die Felder. Meine Abwesenheit wurde lange nicht bemerkt, und so kam ich ziemlich weit.“ Inzwischen zählt sich die Autorin zu den neuen Nomaden – und geht davon aus, „es gibt viele, die so sind wie ich. Entschwundene, Abwesende. Sie tauchen plötzlich im Ankunfts-Terminal eines Flughafens auf und fangen an zu existieren.“ Die Städte sind für sie bald nur noch „Anhängsel der Flughäfen“. Und irgendwann kommt die „Ich-weiß-nicht-wo-ich-bin-Phase“, schließlich die Erkenntnis: „Wohin wir auch reisen, wir reisen immer darauf zu. ,Es ist nicht wichtig, wo ich bin‘. Ich bin.“
Trotz aller Globalisierung hat sich die Industrie noch nicht richtig auf diese neue Lebensweise eingestellt, Olga Tokarczuk bemerkt beim Einkauf von Reisekosmetika, die aus besonders kleinen Packungen bestehen: „Offensichtlich hält die Kosmetikindustrie das Reisephänomen für eine verkleinerte Kopie des sesshaften Lebens, für seine spielerische, leicht infantile Miniatur.“ In einer Flughafen-Apotheke kauft sie eine Schachtel mit einzeln verpackten Binden. „Auf jeder Verpackung stand eine lustige kurze Begriffsdefinition: ,Arachibutyphobie ist die Angst, dass Erdnussbutter am Gaumen kleben bleibt‘. ,Der stärkste Muskel im Körper des Menschen ist die Zunge‘.“ Einmal passierte es ihr, dass ein Flug überbucht war: Zwei Passagiere sollten sich bereit erklären, eine Nacht auf Kosten der Fluglinie im Hotel zu übernachten, außerdem bekämen sie noch 200 Euro Entschädigung. Die Schriftstellerin willigte zusammen mit einer Schwedin ein – dazu bemerkt sie: „Hier tut sich jetzt eine ganz neue Dimension von Arbeit auf, vielleicht ist das die Einkunftsquelle der Zukunft, die Rettung vor Arbeitslosigkeit und Überproduktion von Abfall. Vom Flug zurücktreten, mit der Übernachtung im Hotel ein Tageseinkommen verdienen, morgens vom großen Frühstücksbuffet essen und die reiche Auswahl an Joghurt genießen.“ Nachts an der Hotelbar erzählte Olga Tokarczuk der Schwedin von ihrem unsteten „Wanderleben“, die Schwedin behauptete, „die Welt wirke nur auf den ersten Blick so vielfältig.“ Zudem würden sich gerade die am weitesten voneinander entfernten Orte oft frappierend ähneln.
Früher hat die Schriftstellerin die Orte beschrieben, durch die sie kam, aber nun weiß sie die „schreckliche Wahrheit: Beschreiben heißt vernichten. Deshalb passe man besser auf. Am besten nennt man keine Namen.“ Ähnlich denkt sie inzwischen – als „Bürgerin eines Netz-Staates“ – auch über die „Wikipedia“-Enzyklopädie, das für sie „anständigste der menschlichen Erkenntnis gewidmete Projekt, das es gibt,“ aber es müsste „des Gleichgewichts halber auch noch eine andere Wissenssammlung geben, von dem, was wir nicht wissen – keiner Suchmaschine zugänglich.“ Wo Information gesammelt wird, braucht es auch „Antiinformation“. Sie macht die seltsame Entdeckung: Für Flugängstliche gibt es in Mitteleuropa spezielle Schlafwagen-Züge, die von den Hauptbahnhöfen auf Nebengleisen abfahren und die sehr langsam sind. Man steigt diskret dort ein. Unterwegs machen sich die Reisenden jedoch nachts an der Bordbar ausgiebig miteinander bekannt.
Olga Tokarczuk unterscheidet verschiedene Typen von Reisenden: „Ich kenne Menschen, die Reisen in das Marokko aus Bertoluccis Film, in James Joyce Dublin, in das Tibet aus einem Film über den Dalai Lama.“ Sie ist darüber zu einer Reisepsychologin geworden, betreibt eine „topographische Reise-Psychoanalyse“ – ein Forschungszweig, der sich aus der Flugpsychologie entwickelt hat: „Die Reisepsychologie befasst sich mit dem reisenden Menschen, dem Menschen in Bewegung, und platziert sich damit außerhalb der herkömmlichen Psychologie, die das Wesen des Menschen immer im statischen Kontext, in stabiler Lage und Unbewegtheit untersucht hat.“ Das Leben des Menschen setzt sich jedoch „aus Situationen zusammen“. Man kann nicht zwei Mal in die selbe Situation steigen. Eine andere Reisetheorie besagt: „In Wirklichkeit gibt es keine Bewegung. Wir bewegen uns nirgendwohin, wandern allenfalls zum Innern eines Momentes.“ Viele Menschen reisen planlos herum, um dadurch die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, einmal zur rechten Zeit am rechten Ort zu sein. Manchmal reicht es ihnen aber auch schon, in einem bestimmten Moment auf ein bestimmtes Buch zu stoßen: „Das ist ein den Reisepsychologen unter dem Namen Synchronizität bekanntes Phänomen, ein Beweis für den Sinn der Welt.“ Zu anderen Zeiten stellt sich bei den Reisenden wie aus dem Nichts ein Glücksgefühl ein, „das ganze Stunden, ja Tage anhalten“ kann. Einmal bekam die Autorin in einem „billigen Hotel der Stadt X das Zimmer mit der Nummer neun“ – und dazu einen Schlüssel mit einem Nummernanhänger. „Bitte passen Sie gut auf den Schlüssel auf. Der Neuner geht am häufigsten verloren,“ schärfte ihr der Portier ein. Und tatsächlich entdeckte sie, nachdem sie wegen einer plötzlichen Fahrplanänderung die Stadt X in ziemlicher Hast verlassen hatte, zu ihrem „Entsetzen den Schlüssel in ihrer Tasche“.
Dieses Erlebnis erweitert die vom Wissenssoziologen Bruno Latour zur Erklärung seiner „Akteur-Netzwerk-Theorie“ aufgezeigte Funktionsweise der schweren metallenen Nummernanhänger an den Hotelzimmerschlüsseln – um wenigstens einen weiteren „Aktanten“, der zudem die von Latour angestrebte Indifferenz von Fakt und Fetisch begründen hilft.
Olga Tokarczuk rät den Hotelbesitzern: Statt der Bibel einige Bücher des rumänischen Philosophen der Sinnlosigkeit Cioran in den Zimmern auszulegen. Sie gesteht: „Es freute mich eigentlich nie, wenn ich an einem fremden Ort auf Landsleute stieß. Ich tat so, als verstünde ich die Laute meiner eigenen Sprache nicht, blieb lieber anonym.“ Alle Leute, die unterwegs sind, sprechen Englisch. „Man kann es sich schwer vorstellen“, aber es gibt auch welche, deren „eigentliche Sprache Englisch ist. Oft sogar die einzige. Sie haben nichts, worauf sie zurückgreifen oder sich in Momenten des Zweifels stützen können. Wie verloren müssen sie sich in der Welt vorkommen,“ da alles in ihrer privaten Sprache ist. „Es soll Pläne geben, sie unter Schutz zu stellen, ihnen sogar eine von diesen kleinen ausgestorbenen Sprachen zuzuweisen, die niemand mehr braucht, damit sie auch eine eigene haben, die nur ihnen gehört.“ Ein Eseltreiber und -züchter verrät ihr: „Am schlimmsten sind die Amerikaner, weil sie so übergewichtig sind. Sie wiegen zwei mal so viel wie andere Leute.“ Die klugen Esel sehen das sofort – und „stemmen sich einfach gegen die Arbeit.“
Während Olga Tokarczuk zwischen den Zentren hin und her reist, haben sich einige andere polnische Schriftsteller an der Peripherie gleichsam stillgestellt. Zwei saßen zu sozialistischen Zeiten im Gefängnis: Andrzej Stasiuk und Mariusz Wilk. Ersterer zog 1986 nach Czarne, ein Bergdorf in den Beskiden, und durchstreift seitdem die Landstriche zwischen den Karpaten und Tirana, zwischen dem Schwarzen Meer und Ungarn, die er dann auch beschreibt: „souverän und soghaft konkret“, wie es in einer Rezension heißt. Mariusz Wilk ist ein ehemaliger Solidarnosc-Aktivist, der seit 1989 als Journalist arbeitet – und zwar als Russland-Korrespondent der „Rzeczpospolita“: Erst lebte er etliche Jahre auf der Klosterinsel Solowetzkij im Weißen Meer, dem ersten Arbeitslager der Bolschewiki, und derzeit in dem „verlassenen Dorf Konda Bereschnaja“ am Onega-See. „Statt des Geruchs von Algen nun der Duft wilder Minze“.
Am Rande sei erwähnt, dass es auch seinen Kollegen von der Neuen Zürcher Zeitung, Thomas Brunnsteiner, reportagehalber so oft in den Hohen Norden zog bis er sich dort mit seiner Familie – in Vaattojärvi, einer kleinen finnischen Stadt im Kreis Kolari, nahe der schwedischen Grenze – ganz niederließ. 2007 veröffentlichte der Klagenfurter Wieser-Verlag seine gesammelten Texte unter dem Titel „Bis ins Eismeer“.
Mariusz Wilk hat es sich anscheinend zur Aufgabe gemacht, dem Russland nicht besonders freundlich gesinnten polnischen Publikum zu einer anderen Sichtweise auf das Land zu verhelfen. Darüber ist er inzwischen fast ein polnisch schreibender russischer Schriftsteller geworden. Die dortige Lokalzeitung nannte ihn allerdings einen „russisch schreibenden polnischen Schriftsteller“ und auch seine polnischen Leser beklagen sich gelegentlich über die allzu vielen ihnen unbekannten russischen Worte, die er in seine Texte schmuggelt.
Nachdem Wilk dem Priester der im Nachbarort gelegenen Kirche von Kischi, Batjuschka Nikolai, das Buch „Schwarzes Eis“ – über seinen ersten russischen Wohnort: auf einer der Solowezkij-Inseln – geschenkt und dieser es gelesen hatte, sagte er anerkennend zu ihm: „Welcher russische Schriftsteller von heute schreibt mit solcher Liebe über Russland?“
Wilks neues Buch heißt nun: „Das Haus am Onegasee“. Als Motto wählte er einen Haiku des japanophilen Schweizer Reisejournalisten Nicolas Bouviert: „Wie Wasser fließt die Welt durch dich hindurch,/ und für einige Zeit leiht sie dir ihre Farben…“ Als Wilk mit seiner Frau in dem alten Haus am Onegasee einzog, mußten sie als erstes einen neuen Ofen bauen – auf dem sie seitdem auch den halben Winter verbringen, weil das für die langen dunklen kalten Tage der beste Platz im Haus ist. Ringsum „ausgestorbene Dörfer“. Sie „drohen mit den Stumpen ihrer Häuser, als würden sie zum Himmel rufen, von der Sowchose ,Fortschritt‘ ist nur ein Haufen zerschlagener Hohlziegel geblieben…In dieser Landschaft gibt es keine Spuren früherer Kulturen…Die Nomaden hinterließen keine Spuren, weil das Holz, der wichtigste Baustoff am Onega-See, verfaulte.“
In einem Interview fragte ihn einmal der Chefredakteur der Zeitung „Petrosawodsk“ aus dem gleichnamigen Kreisstädtchen, warum er sich das antue. Er antwortete: „Weil ich der Ansicht bin, dass die Zerstörung des Dorfes das wichtigste Ereignis des 20. Jahrhunderts in Russland war. Nicht die Kriege, nicht die Revolution, nicht einmal der ,Aufbau des Sozialismus‘, sondern die Zerstörung des Dorfes war das Ereignis, das das Antlitz Russlands radikal verändert hat. Und um das neue russische Antlitz genau betrachten zu können, so dachte ich mir, genügt es nicht, die Gesichter der neuen Russen zu sehen, die in den Pubs entlang der Twerska leuchten, in den Gängen des Weißen Hauses oder am Bildschirm des Fernsehens, sondern man muß auch denen ins Gesicht schauen, die am Ort der Zerstörung ausgeharrt haben, ihnen in ihre betrunkenen verrückten Augen schauen.“ Bei Andrzej Stasiuk gibt es streckenweise schon keine Menschen mehr: Da beschreibt er nur noch die fast entleerten Räume. Während Mariusz Wilk über seinen Lehmofen – inzwischen aus eigener Erfahrung – schreibt: „Der russische Ofen ist wie die leibliche Mutter: Er wärmt, und er nährt, und er heilt.“
Sein Buch besteht zum großen Teil aus Tagebucheintragungen. Dem vom 29.12. stellte er ein Zitat des polnischen Literaturnobelpreisträgers Henry Sienkiewicz voran: „…er hörte gleichsam auf, als Person zu existieren und zerfloss immer mehr mit dem, was ihn umgab.“
Man bezweifelt an dieser Stelle nicht mehr, dass Wilk dem nacheifert bzw. das auch für sich reklamieren möchte – im halbverlassenen Norden Russlands (vorher war er Korrespondent in Berlin und Moskau gewesen). Am 25.1. notierte er: „Ich erinnere mich, dass noch zur Zeit der Untergrundzeitschrift ,Konspira‘ Eugeniusz Szumejko scherzte, wir würden uns alle später einmal zwischen Ob und Jenissei wieder begegnen. Es würde mich interessieren, Genja, wo du jetzt steckst.“
Seine sich ausdehnende „nördliche Geschichte“ begann bei Dreharbeiten in längst verlassenen Arbeitslagern zwischen den sibirischen Flüssen Ob und Jenissei. Sie waren der erste Anstoß „für einen Faden aus Stacheldraht“, den er seitdem verfolgt. Ein zweiter „Faden“ war dann und ist immer noch „das schamanische Gespinst“, und ein dritter „der nomadische Faden“. An diesen entlang hofft er, sich im Raum zu verlieren. Ohne sich jedoch groß von der Stelle zu rühren.
Einmal besuchte er mit Freunden im nicht weit entfernten Ort Ust-Jandoma den Kosaken Wiktor und seine Frau Klawa, eine geborene Ust-Jandomianerin, mit der er über Werwölfe redet. „Klawa sagt, ein Werwolf sei jemand, der sich zwischen Sein und Nichtsein befinde.“ Über Werwölfe schrieb mehrmals auch der russische Schriftsteller Viktor Pelewin, den Wilk lobt, er hat alle seine Bücher gelesen. Daneben liest er aber auch den sowjetischen Schriftsteller Andrej Platonow gerne. Insgesamt schätzt er die Belletristik jedoch gering, weil er „keine Erfindungen mag, lieber Texte, in denen der Autor lebt. Das heißt ,Prosa, erlebt wie ein Dokument,‘ um es mit den Worten von Warlam Schalamow zu sagen.“
Nachdem er kurz in Warschau war, notierte er am 23.7.: „Ach, was hat mich dieses Europa verdrossen…“ Endloses Geschwätz, „bis man blöd wird im Kopf“. Die Gesichter der polnischen Politiker kommen ihm „ausgefressen“ vor. Besonders die Medien findet er immer grauenhafter, am Onega-See hat er weder Fernsehen noch Radio. Und „eine gute Axt“ schätzt er dort mehr als seinen „Laptop“. Die Stromleitung mußten er und seine Frau selber legen – auf diese Weise Lenins „Werk“ – die Elektrifizierung der gesamten Sowjetunion – „an diesem Ort vollendend“, auch wenn es die Sowjetunion „inzwischen in Konda Bereschnaja nicht mehr gibt“. Nachdem sie das Dorf mit elektrischem Licht versorgt haben, meint er, sei „es an der Zeit, an die Versorgung mit geistigem Licht für unser Gespensterdorf zu denken.“
Dazu liest er sich in die Geschichte und Kultur Kareliens ein. Daneben widmet er sich seinem Garten, schleppt eimerweise Wasser vom See heran und hackt Holz für den Winter. „Die wunderbare Kraft und herrliche Praxis/ – Wasser zu schöpfen und Holz zu hacken!“ zitiert er dazu Pang Yun. Auch seine Nachbarn – Schenja und Lida Petschugin – arbeiten in dem kurzen nordischen Sommer die ganze Zeit in ihrem Garten, Wilk schätzt sie als wahre „Meistergärtner“ – und beobachtet sie von seinem Fenster aus. „Ich habe den Eindruck, dass sie, wenn sie so reglos stehenbleiben, nicht den Garten bestellen, sondern dass der Garten sie bestellt.“
Die Leiterin der Rezensionsabteilung der Monatszeitschrift „Sewer“, Galina Skworzowa, sie wohnt im Nachbarort Fojmaguba, hat in ihrem Haus eine „Dorfgalerie“ eingerichtet. „Das Projekt ist Teil eines größeren Unternehmens mit dem Namen ,Dorf. Ökologie und Leben im 21. Jahrhundert‘.“ Damit soll die traditionelle dörfliche Kultur in der Onega-Region wiederbelebt und ein Öko-Tourismus angekurbelt werden. „Die grüne Galina“ steht damit gegen die „neuen Russen“, die dort den Wald abholzen „und sich die Vorkommen an Vanadium und Uran unter den Nagel reißen möchten.“ Wilk sieht sich in diesem „Kampf“ eher als Beobachter: Er hält die Dorfkultur Kareliens für eine bloße nomadische Zwischenstation, die sich dem Rückzug der von Verfolgung bedrohten Altgläubigen in diese Region verdankte. „Der Norden eignet sich nicht für eine dauerhafte dörfliche Besiedlung. Hier kann man nur als Nomade leben.“ Auch die jetzigen „Arbeitscamps“ der Holzfäller sind für ihn „eine Form des Nomadentums“. Und seine eigene schriftstellerische Existenz in Karelien ebenfalls – in ein bis zwei Jahren will er noch einmal woanders hinziehen.
Wilk, „Der Narr des Nordens“, wie die NZZ ihn in ihrer Rezension seines neuen Buches nennt, liest neben Michail Prischwin, der über Karelien schrieb, immer wieder Nikolai Klujew, den 1937 ermordeten Dichter der Onega-Region. An einer Stelle zitiert er dessen Zeilen: „Der Hobelspan war für ihn eine geheime Schrift,/ mit dem Beil schuf er sein Gedicht.“ Wie Klujew spricht auch Wilk vom russischen Muschik, und wie der Dichter versucht auch er, diesem Muschik oder das, was noch von ihm übrig ist, nahe zu kommen und gleichzeitig in der Literatur zu bleiben. Ein Doppelleben.
Stasius und Wilk empfinden sich mit ihren Werken wahrscheinlich wie Zwerge – auf der Schulter des Riesen Czeslaw Milosz (1911 – 2004), der in einem litauischen Dorf im Urwald zwischen Polen und Litauen aufwuchs – im „Tal der Issa“, wie sein autobiographischer Roman darüber heißt, der 1955 in einem Pariser Exilverlag erschien – und nun erneut auch auf Deutsch veröffentlicht wurde. Der mit dem Nobelpreis ausgezeichnete Dichter entstammt einer verarmten polnischen Landadelsfamilie. Zu Beginn des Weltkriegs schickte sie ihn in das litauische Dorf Setainiai zu ihren Verwandten. „Der Mensch hat hier bis vor kurzem alles, was er brauchte, zu Hause angefertigt. Genossenschaftsmolkereien und Einkaufszentralen kamen erst nach dem ersten Weltkrieg auf,“ erklärt Czeslaw Milosz am Anfang des Romans. Durch die Gespräche mit der Großmutter erfährt er die Geschichte seiner Familie: Sie war entfernt mit der berühmten Partisanin Emilia Plater verwandt, die 1831 von jenen riesigen Waldgebieten zwischen Polen und Litauen aus, den Aufstand gegen die russische Fremdherrschaft anführte. Czeslaw Miloszs Großvater kämpfte dann 1836 noch einmal gegen die Russen, er mußte dafür einige Jahre in sibirischen Arbeitslagern büßen. Und während der Sohn im Wald aufwächst, zieht auch sein Vater wieder gegen Russland in den Krieg. Miloszs Familie war im 16. Jahrhundert als Kolonisten ins Tal der Issa gezogen. Mit dem Ersten Weltkrieg wurde die Situation des polnischen Landadels im deutsch besetzten Litauen immer prekärer. Zwar hatte das Land schon 1905 seine Autonomie erklärt, aber nach der Republikgründung 1918 beanspruchte Polen die Gebiete um die Hauptstadt Vilnius, die von Polen bewohnt waren und die es 1920 besetzte. „Selbst das Schreiben war zwischen Polen und Litauern verboten“. Vorübergehend wurde dann Kaunas litauische Haupstadt. Trotz oder wegen dieser Auseinandersetzungen erlebte die litauische Kultur in den Zwanzigerjahren eine Blütezeit. Czeslaw Milosz studierte zunächst im polnisch besetzten Vilnius. Als nach dem Hitler-Stalin-Pakt und der Besetzung Polens auch Litauen erneut unter Deutschen Einfluß geriet , schloß er sich den polnischem Partisanen an. Sein Roman endet jedoch bereits 1926 – damit, dass seine Mutter ihn abholt und mit nach Polen nimmt.
Zuvor hatten seine Verwandte in Setainiai einen Teil ihrer Ländereien verloren – er wurde als Bodenreformland an die Dorfarmen verteilt, der weitaus größere Teil wurde jedoch unter den Familienmitgliedern aufgeteilt: Jeder durfte maximal 80 Hektar besitzen. „Von Zeit zu Zeit erschienen litauische Beamte, dann versteckten sich Großmutter Misia und die Tante; denn es schickte sich nicht, sie höflich zu empfangen.“ Auch zwischen den polnischen Landadligen und den litauischen Dörflern kam es bald zu Spannungen, der Autor wird von einem der Bauern beschimpft – „und das alles nur, weil er ein Herr war“. Seine Großmutter klagt: „Welch furchtbare Zeiten haben wir erlebt! Auf jeden Bauernlümmel nimm Rücksicht, streichle ihn. Oh, wie mir das die Seele drückt“. Dennoch geht einer seiner Verwandten dann eine nicht-standesgemäßen Ehe ein.
All das wird in „Das Tal der Issa“ jedoch nur gleichsam am Rande erwähnt, vor allem ist es ein Bildungs- und Entwicklungsroman. Die autobiographisch angelegte Hauptfigur bekommt schon in jungen Jahren eine Ausbildung im Schießen und Jagen. Es ist von ihr in der dritten Person die Rede: Bei seinem ersten selbst erlegten Vogel ist er enttäuscht, aber er sagt sich: „Man muß doch ein Mann sein und die Weinerlichkeit in sich ersticken, wenn man den Titel des Naturforschers und Jägers gewinnen will.“ Ein andern Mal, als er einen Birkhahn verfehlt, ist er völlig niedergeschlagen: „Niemals würde er ein ganzer Mann werden, die ganze Vorstellung von sich selbst, die er sich konstruiert hatte, zerfiel. Gewiß, er war Jäger, wenn es sich darum handelte, zu locken, heranzuschleichen, sich in einen Baum oder Stein zu verwandeln, er zeigte sogar für diese Künste besonderes Talent, es schien ihm, er sei ein guter Schütze aus der Deckung, aber bei dem kleinsten Anlaß, der ihn zum Fiebern brachte, verlor er sich.“ Es kam noch hinzu: „Im Grunde war er sicher gewesen, dass eine magische Verbindung zwischen ihm und dem Wild entscheidet, und das Zielen erschien ihm nur als etwas Zusätzliches, als Ergebnis besonderer Gnade.“ Das Thema des Jagens und Naturforschens zieht sich durch den ganzen Roman. Er betete: „Gott gib, dass ich werde wie alle. Gib, das ich gut schießen kann…“ Der Autor erklärt, dass „verschiedene augenfällige Widersprüche“ in seinen Wünschen „für ihn kein Widerspruch waren. Er beklagte den Tod und das Leid, aber nur als Merkmale einer Ordnung, in die er selbst hineingestellt worden war. Da dies nicht von seinem Willen abhing, mußte er um seine Stellung unter den Menschen besorgt sein, und diese errang man durch die Geschicklichkeit im Töten.“ An anderer Stelle heißt es: Aber „eigentlich sehnte er sich nach einem Einverständnis mit verschiedenen Lebewesen.“
Man könnte Czeslaw Milosz‘ Roman mit den Erzählungen des Psychoanalytikers Paul Parin über „Die Leidenschaft des Jägers“ vergleichen. Auch Paul Parin lernte das Jagen und Angeln als slowenischer Gutsbesitzersohn bereits in jungen Jahren. Als Jude und Linker, die der Jagd eigentlich ablehnend gegenüberstehen, verteidigte er diese Tätigkeiten, die er bis ins hohe Alter ausübte, jedoch eher, als dass er, wie der Katholik Czeslaw Milosz, seinen zwiespältigen Gefühlen dabei nachforschte.
Pharmakologisierung des Alltags
Es gibt U-Bahnwaggons, in denen ausschließlich Werbetafeln für Weiterbildungsmaßnahmen und für Medikamententests hängen. Eine Werbung ist von einer Bio-Firma, die Tester für ein neues Mittel gegen Depressionen auf Johanniskraut-Basis sucht. Eine andere von einer Firma, die im Auftrag eines namhaften Arzneimittelherstellers laufend neue Versuchspersonen rekrutiert. Bei der dritten geht es um das Testen eines neuen Empfängnisverhütungsmittels, und bei der vierten sucht BayerSchering „junge Frauen, Nichtraucherinnen, nach der Menopause“. Die fünfte Firma umwirbt potentielle Versuchskaninchen mit dem zynischen Satz: „Testen Sie schon heute die Medikamente von morgen!“
Bereits in den Siebzigerjahren suchte der Westberliner Pharmakonzern Schering immer wieder Leute, die seine neue Medikamente testeten. In meinem Bekanntenkreis meldeten sich vor allem „Drogenexperten“ zu solchen – gut bezahlten – Versuchen. Einmal, weil sie immer neugierig auf neue Drogen waren und zum anderen, weil sie wegen dieses „Hobbys“ ständig in Geldnot waren. Es ging ihnen dabei um neue psycho-physische Erlebnisse, auch wenn die jeweilige Scheringdroge nicht dafür, sondern eher dagegen gedacht war. Sie wußten sehr wohl, dass „es ein Unterschied ist, ob ein kreativer Mensch, der ein künstlerisches oder wissenschaftliches Ziel verfolgt, Drogen zu Hilfe nimmt, um sein Ziel zu erreichen, oder ob ein Mensch über den Umweg der ärztlichen Verschreibung eine Substanz nimmt, die von Sozialingenieuren der Pharmaindustrie entwickelt wurde, um ihn in eine Stimmung zu versetzen, die ihm hilft, die Realität zu verleugnen beziehungsweise zu verdrängen,“ wie der Drogenaufklärer Günter Amendt das sagte.
Man weiß inzwischen, dass die meisten neuen „Wirkstoffe“ nicht auf bestimmte Krankheiten hin entwickelt werden, sondern diese mittels Tier- und Menschen-Experimente erst noch finden müssen. Das erfolgreichste Mittel in dieser Hinsicht war das US-Medikament „Paxil“ – für das man nach seiner Herstellung den neuen Begriff „Sozialangst“ erfand, gegen das diese Droge wirken sollte. Der Pharmakonzern half dazu Selbsthilfegruppen von „Sozialverängstigten“ zu gründen. Der für das Produkt verantwortliche Direktor bei Glaxo SmithKline verkündete stolz: „Jeder Anbieter träumt davon, einen unbekannten Markt zu entdecken und zu entwickeln. Genau das gelang uns bei der Sozialangst“.
In der Le Monde Diplomatique berichtete der US-Philosoph Carl Elliott über die „Riesengeschäfte“ mit den „klinischen Studien“, in denen man neue Medikamente an Menschen testet. Sie werden mehr und mehr von aus den Konzernen outgesourcten Privatfirmen erstellt. Und diese rekrutieren ihr Menschenmaterial vornehmlich in Osteuropa.
Der Anthropologe Kaushik Sunder Rajan erforschte in seinem Buch „Biokapitalismus“ bereits 2009, dass und wie westliche Pharmakonzerne ihre neuen Medikamente in Indien testen. Bei den Westberliner Medikamententestern aus meinem Mittelschichts-Freundeskreis kann man vielleicht noch von „Freiwilligkeit“ reden – nicht jedoch bei den indischen Arbeitslosen, die zudem meist gar nicht darüber aufgeklärt werden, dass an ihnen ein neues US-Medikament getestet wird. Die Pharmakonzerne und ihre Helfershelfer, die sie als Versuchskaninchen rekrutieren, werden immer dreister: In den USA bezeichnen sie diese „Probanden“ nun sogar als „Helden der Medizin“. Und Bioethiker des „National Institute of Health“ verkündeten, „im Grunde sei die Teilnahme an klinischen Tests für jeden Staatsbürger eine moralische Pflicht.“
Die taz berichtete kürzlich über das soeben in den USA herausgekommene psychiatrische Handbuch (DSM-5) mit den neuesten psychischen Störungen: „Zum Beispiel die „Disruptive Mood Dysregulation Disorder“ – die neue Bezeichnung für Wutausbrüche. Allen Frances hat bei der Vorgängerversion mitgearbeitet. „Wir sollten keine Pillen dagegen nehmen, Menschen zu sein“, sagt er heute. „Neue Diagnosen sind gefährlicher als neue Medikamente“, denn seien sie erst einmal in der Welt, würden sie auch aktiv diagnostiziert werden. So wächst die Zahl der krank gelabelten, derer mit Stigma. „Bevor eine neue Diagnose eingeführt wird, sollte sie eigentlich den gleichen Tests unterzogen werden wie neue Medikamente.“
Der Spiegel berichtete gerade: Bis zum Mauerfall testeten die westdeutschen Pharmakonzerne Bayer und Hoechst ihre neuen Medikamente in der DDR an „mehr als 50.000 Patienten“. Den Versuchskaninchen wurden „die Risiken“ offenbar ebenso „verschwiegen“ wie heute den indischen Arbeitslosen. Hier wie dort gab es dabei „viele Todesfälle“ (2011 in Indien 438). Aber es waren und sind „günstige Teststrecken“. Dies gilt nun anscheinend auch für die Berliner U-Bahn – und ihre inzwischen verarmten Nutzer.
Wissenschafts-Meldungen in kürze
Ökonomie
Nach „Schulden-Gen“ finden Calvinisten endlich Gewinn-Gen
Philipp Köllinger von der Erasmus Universität Rotterdam und sein Team „wirtschaftswissenschaftlicher Genforscher“ macht sich anheischig, jene „Mischung aus verschiedenen Genen“ zu finden, die „Risikofreude und Kreativität“ zu einer „Unternehmerpersönlichkeit“ bündeln. Sie wollten sich nicht länger nur auf Modelle der Spieltheorie und der Statistik verlassen, „sondern tiefer vordringen in die Menschen – bis in ihre Zellen.“ Zuvor hatten zwei Soziobiologen der University of California bereits postuliert, dass Menschen mit einer bestimmten Genmutation ein 14 Prozent höheres Risiko für Kreditkartenschulden haben. Die US-Presse sprach von einem „Schulden-Gen“.
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Mikroorganismen
Alles wird gut, alles wird Energie
Der Fachbereich Bioengineering der FH Campus Wien hat Milchsäurebakterien gefunden, mit denen sich „verunreinigtes Glycerin“, das bei der Herstellung von Biodiesel (aus Raps oder Mais z.B.) anfällt, zu hochwertigem „Propandiol“ umwandeln läßt. Die bisher durch Hydrolyse aus Erdöl gewonnene Flüssigkeit wird als Weichmacher in Kosmetika und Zigaretten verwendet. Mit dem zum Patent angemeldeten Verfahren wird der Anbau nachwachsender Rohstoffe zur Energiegewinnung lukrativer. Dadurch werden jedoch künftig noch mehr Pflanzen als Rohstoff für die Industrie statt zur Nahrungsmittelproduktion angebaut. Die Grünen, die diese Erdöl-Substitution anfangs propagierten, wollen dabei nun detaillierter vorgehen – und speziell den Anbau von Kleegras für Biogasanlagen fördern, wie ihre Bundestagsfraktion gerade verlauten ließ. 2012 gilt jedoch weiterhin laut NZZ wegen der Trockenheit in vielen Teilen der Welt: „Der Preis ist heiß für Mais.“
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Chemie
Kein richtiges Leben auf falschem Mars?
Vor 36 Jahren landete die erste US-Raumsonde auf dem Mars, heraus kam dabei – offiziell: „Es gibt kein Leben auf dem Mars“. Wohl aber Methan, das die Astrologen weiterhin als Indiz für mögliches Leben auf dem Planeten deuteten. Das Max-Planck-Institut für Chemie in Mainz hat nun aber postuliert, dass das Methan nicht bakteriell, sondern in einem geochemischen Prozeß entstand. Die Forscher hatten einen Meteoriten mit einer dem Mars ähnlichen Zusammensetzung analysiert. Und der setzte Methan frei, als sie ihn – quasi „unter Marsbedingungen“ – mit „starkem ultravioletten Licht“ bestrahlten.
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Sozialwissenschaft
Irrationales und Rationales am Ende identisch
Wenn der Soziologe Jürgen Habermas vermutet, Religiosität sei ein Widerstand gegen den „wissenschaftlich-technischen Fortschritt“, dem sich die „Modernisierer“ weiterhin verpflichtet fühlen – dann müsse man aber auch sehen, so der Leiter des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung Wolfgang Streeck in der Zeitschrift „Max Planck Forschung“ in seinem Aufsatz über „Die Macht der Unschärfe“, dass sich wissenschaftliches und politisches Denken gar nicht groß vom religiösen Denken der Massen unterscheidet. Denn – indem die Experten Optimismus verbreiten und Panikmache vermeiden – dämpfen und schönen sie ihre Argumente. Daraus folgt für Streeck: 1. Die „Gesundbeterei kann die soziale Welt tatsächlich heilen“. 2. Durch ihre Verschönerungs- bzw. Beschwichtigungstendenz können sich „Politik und Wissenschaft – und gerade dessen positivistische Spielart – in Magie verwandeln“. 3. „Politiker neigen ohnehin zu einem magischen Weltbild“. Und 4. „Der Abstand zwischen Theorie und Intuition dürfte jedenfalls geringer sein als viele Sozialwissenschaftler glauben möchten.“
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Ornithologie
Gentrifizierung aus der Luft
Nicht nur McDonald’s und Starbucks planen ihre Expansion per Satellit und GPS von oben – auch die Krähen. Berliner „Bird-Watcher“ wollen festgestellt haben, dass diese wehrhaften Fleischfresser die vegetarischen Tauben in der Stadt vertreiben – und auch bejagen. Der Naturschutzbund (Nabu) bestätigt dies insofern, als er davon ausgeht, dass nur noch etwa 10.000 Tauben in Berlin leben, 2001 waren es noch fast 30.000. Lars Lachmann vom Nabu erklärt die Zunahme der Krähen in Berlin mit ihrer „Verstädterung“. Die Bestände würden zwar nicht zunehmen, aber auf dem Land werden die Lebensbedingungen für die in Ostdeutschland verbreiteten Nebelkrähen und die im Westen verbreiteten Rabenkrähen immer schlechter wegen der intensiven Landnutzung.
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Primatenforschung
Affen auf der Höhe der Zeit
Das „Karisoke Research Center“ in Ruanda wurde 1967 von der Gorillaforscherin Dian Fossey gegründet. Sie verteidigte „ihre“ dort im Naturpark wild lebende Gorillagruppe derart rabiat – schoß auf die Kühe der Bauern, verprügelte junge Hirten und zerstörte die Fallen von Wilderern, dass sie 1985 ermordet wurde – vermutlich von Wilderern. Die jetzigen Primatenforscher im „Karisoke Research Center“ beobachteten nun, wie drei männliche Gorillas mehrere Fallen von Wilderern auseinandernahmen – und zwar äußerst fachmännisch. Die Fallen waren für sie als Erwachsene zwar nicht gefährlich, jedoch sei wenige Tage zuvor ein kleiner Gorilla in solch einem „Schnappseil“ zu Tode gekommen, nachdem er sich beim Versuch, daraus zu entkommen die Schulter gebrochen hatte. Das hätte bei der an sich friedlichen Sippe wohl das Faß zum Überlaufen gebracht.
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Botanik
Kooperieren oder Konkurrieren
Mit den Flechten, die nahezu überall auf der Welt vorkommen – bis in die Antarktis, begann (in Russland Ende des 19. Jhds.) die Symbioseforschung: Diese Pflanzen bestehen aus einer Kooperation zwischen einem Pilz und Bakterien (Blaualgen). Inzwischen hat man tausende von Symbiosen – auch zwischen Tieren und Pflanzen (z.B. Orchideen und bestimmte Wespenarten) untersucht, die Flechte bleibt in dieser Hinsicht jedoch der „Nummer-Eins-Modellorganismus“ – und wird weiterhin viel beforscht. Gleichzeitig werden Millionen Euro ausgegeben, um Hausmauern- und Dächer von Flechten zu befreien. Ein Team um Ulrich Pöschl vom Max-Planck-Institut für Chemie in Mainz hat nun herausgefunden, dass Flechten im globalen Stoffhaushalt und für das Klima eine wichtigere Rolle als bisher angenommen spielen. Sie bedecken schätzungsweise 30% der Landflächen und fixieren etwa die Hälfte des Stickstoffs, der an Land auf natürliche Weise gebunden wird, gleichzeitig nehmen sie jährlich so viel Kohlendioxid auf, wie durch Waldbrände und andere Biomasse-Verbrennungen entstehen.
Über die Symbioseforschung von den Anfängen bis zur Gegenwart veröffentlichte der FU-Biologe Ekkehard Höxtermann bereits 2007 eine umfangreiche Aufsatzsammlung: „Evolution durch Kooperation und Integration“.
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Anthropologie
Macht Not gemein oder allgemein?
Zwar beruht der Darwinismus wesentlich auf wirtschaftlicher Selbstsucht, nicht zufällig heißt das berühmt-berüchtigte Buch des „Erzdarwinisten“ Dawkins: „Das egoistische Gen“, aber seit der Dotcom-, der Finanz- und der Euro-Krise kümmern sich die „Life Scientists“ wieder vermehrt um die Erforschung des „Altruismus“ und der „Empathie“ in der Pflanzen-, Pilz-, Tier- und Menschenwelt. Berühmt wurde inzwischen das Leipziger Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie mit ihrer experimentellen Altruismusforschung bei Schimpansen. Im Ergebnis kam dabei heraus, dass sie nur quasi halbherzig, d.h. kurzfristig, ihren Artgenossen helfen. Gründlicher geht der holländische Primatenforscher Frans de Waal den Altruismus bei Menschenaffen an. 2011 veröffentlichte er dazu seine auf Beobachtungen basierende Studie: „Das Prinzip Empathie“. Forscher der Universität Chicago fanden derweil heraus, dass auch Ratten altruistisch handeln: Wenn sie eine Ratte inmitten einer größeren Gruppe in einen Behälter steckten, „lernten die anderen Ratten schnell, die Gefängnis-Tür zu öffnen. Sie halfen ihren Gefährten hinaus, öffneten jedoch nie die Tür für Stoffmäuse oder andere Gegenstände.“ Zuvor hatten sich Schweizer Ökonomen das Thema „Altruismus“ vorgenommen. Zur Begründung ihrer Konferenz hieß es: Vertrauen, Altruismus und Mitgefühl seien in ihren Augen wichtige Bedingungen für Wohlstand und wirtschaftlichen Erfolg. Neuerdings werden auch Kinder auf Altruismus abgeklopft. Das Online-Wissenschaftsmagazin „Plos One“ veröffentlichte dazu eine Studie der US-Anthropologin Jessica Sommerville und des Leipziger Max-Planck-Forschers Marco Schmidt. Zusammengefaßt heißt es darin: „Der Mensch ist gar nicht das egoistische Wesen, für das man ihn lange gehalten hat. Schon im Alter von 15 Monaten haben Babys ein Gefühl für Fairness und Gerechtigkeit.“ Zwar meint die Genetikerin und Nobelpreisträgerin Christiane Nüsslein Volhard nach wie vor, dass „die Natur in gewisser Weise kapitalistisch funktioniert.“ Aber wie lange noch?
Europäische Ethnologie
Migrationsforschung
Am Samstag, den 15.Juni endete das dreitägige „Refugee-Tribunal“ auf dem Westberliner Mariannenplatz mit einer Demonstration durch Kreuzberg und Neukölln. 300 Leute beteiligen sich, die Liste ihrer Forderungen ist lang – aber bekannt. Es geht um eine würdigere Behandlung der Flüchtlinge vor allem aus den afrikanischen und arabischen Ländern: „Wir sind hier, weil ihr unsere Länder zerstört.“ Seit Oktober, im Anschluss an ihren Marsch der Würde, der sie nach Berlin führte, zelten etwa 50 von ihnen auf dem Oranienplatz, wo sie für ihre Forderungen werben: Bleiberecht, Abschiebungen stoppen, Abschaffung der Residenzpflicht, eine bessere medizinische Versorgung in den Flüchtlingsheimen.
Wie zum Beweis, dass die vom Tribunal wegen ihrer „rassistischen Politik“ angeklagte Bundesrepublik sich wirklich bemüht, Ausländern das Leben hier so unangenehm wie möglich zu machen, wurden Flüchtlinge aus einer Halberstädter Asylunterkunft, die an dem Aufmarsch teilnehmen wollten, von einem Polizeiaufgebot in Magdeburg an der Weiterfahrt gehindert. Am Samstag zog die Polizei gleich hinter der Solidaritätsdemonstration auf dem Kottbusser Damm einen Minibus mit einer Romasippe aus dem Verkehr. Wie überhaupt und ständig arabisch oder türkisch aussehende junge Männer von den „Ordnungskräften“ nächtens aus dem Weichbild der Städte herausgegriffen und gedemütigt werden.
Dem Staat, dieses „kälteste aller kalten Ungeheuer“ (Nietzsche), hielten die Tribunal-Teilnehmer die Utopie der „sans papiers“ entgegen: „No Borders – No Nations“. Tatsächlich gab es eine Zeit – bis zum Ersten Weltkrieg -, da man sich ohne Papiere in Europa frei bewegen konnte, der Exilant Stefan Zweig hat daran oft und gerne erinnert. Während des Zweiten Weltkriegs konstatierte Bertolt Brecht in seinen „Flüchtlingsgesprächen“: „Der Paß ist der edelste Teil von einem Menschen. Er kommt auch nicht auf so einfache Weise zustand wie ein Mensch. Ein Mensch kann überall zustandekommen, auf die leichtsinnigste Art und ohne gescheiten Grund, aber ein Paß niemals.“
In der 68er-Bewegung unterschied man zwischen „politischen“ und „Wirtschaftsflüchtlingen“ – nur den ersteren wollte man das volle „Asylrecht“ erkämpfen. „I pitty the poor immigrants,“ sang Bob Dylan. Und nun heißt es: „Die Fackel der Befreiung ist von den sesshaften Kulturen an unbehauste, dezentrierte, exilische Energien weitergereicht worden, deren Inkarnation der Migrant ist.“ So sagte es der Exilpalästinenser Edward Said. Für den englischen Publizisten Neal Ascherson sind die „Flüchtlinge, Gastarbeiter, Asylsucher und Obdachlosen zu Subjekten der Geschichte“ geworden. Der polnische Künstler Krzysztof Wodiczko zog daraus den Schluss: „Der Künstler muß als nomadischer Sophist in einer migranten Polis aufzutreten lernen – auf ihren neuen Agoren, den Plätzen, Märkten, Parks und Bahnhofshallen der großen Städte.“
Und da war sie nun, diese Agora: in der Mitte des Mariannenplatzes. Dort hatten die Migranten ein Podium aufgebaut und ringsum Holzwände mit Fotos aufgestellt, die ihre Situation in den von Hunger, Arbeitslosigkeit und Bürgerkrieg heimgesuchten „Herkunftsländern“ und ihre deprimierende Unterbringung in den hiesigen Flüchtlingslagern zeigte. Besonders übel war eines, in dessen Eingang die Heimverwaltung ein großes Transparent gehängt hatte, mit der Aufschrift: „Herzlich willkommen“.
Den Rednern auf dem Tribunal zuzuhören war anstrengend: Sie sprachen zwar „loud and clear“, aber alles musste in mehrere Sprachen übersetzt werden. Über die drei Tage kamen einige tausend „Sympathisanten“ und „Asylanten“, dennoch waren zur selben Zeit immer nur wenig mehr als 100 Leute auf dieser Agora. Bei ihrem Dauercamp waren zuvor sogar Stimmen laut geworden, die wieder „ihren“ alten, „sauberen“ Oranienplatz verlangten, die Migranten mithin weghaben wollten: zurück in ihre unsichtbaren Aufnahmelager.
Seit kurzem gibt es jedoch ganz in der Nähe, am Kottbusser Tor, ein weiteres Dauercamp: von Sympathisanten der Aufständischen in Istanbul, gleich neben der schon fest etablierten Dauerwache der Mieterinitiative „Kotti & Co“, die für ein „Residenzrecht“ der Einkommensschwachen in den von Gentrifizierung bedrohten Innenstadtvierteln kämpft. Hier wurde dieser Tage die halbe Nacht lang diskutiert, am türkischen Dauercamp dagegen getanzt.
Gestützt auf einen Zwischenfall am Oranienplatz, wo ein türkischer Familienvater sich von den dort protestierenden Afrikanern bedroht fühlte und einen Sudanesen mit einem Messer verletzte: „äußerst brutale Szenen“ laut der Springerstiefelpresse, sowie der gewaltsamen Räumung eines Münchner Refugee-Camps, deren Teilnehmer sich im Hungerstreik befanden; und einer rechten Demonstration in Hellersdorf, die sich gegen ein geplantes Flüchtlingsheim richtete, das die Anwohner in Sorge versetzt, wie die Springerstiefelpresse behauptet, macht nun auch die BZ Druck gegen das Flüchtlings-Camp am Oranienplatz – und ruft nach dem „Ordnungsamt“, nachdem die dort Campierenden auch noch die Oranienstraße kurzzeitig blockiert hatten. Am 11. Juli bewog das Klaus Wowereit laut BZ zu einer windelweichen Stellungnahme: „Berlins Bürgermeister ist für eine Auflösung des Kreuzberger Camps, will aber, dass manche Forderungen umgesetzt werden.“
Gleichzeitig ließ das Springer-Blatt den Vizepräsidenten (Schick) des IVD (Ring deutscher Makler/Verband deutscher Makler) zum Problem der Wohnungsnot infolge steigender Mieten in Berlin in intellektuell ähnlicher Manier wie Wowereit verkünden: „Abgesehen von Brennpunkten wie Prenzlauer Berg oder Kreuzberg gebe es keine Wohnungsnot,“ was Schick dann so begründete: „Allein rund um den Hauptbahnhof gibt es Potential für mehrere 10.000 Wohnungen.“ Auf einem Photo daneben lächelt der IVD-Vize derart, dass man den Eindruck hat, er sei rundum zufrieden mit seinem „Statement“ in dem auflagestarken Boulevardblatt der deutschen Hauptstadt.
Abstraktionen und Konkretionen
Die Logik ist, mindestens seit Aristoteles, das Prinzip der Identität (A gleich A). Sie war zunächst wesentlich „Ontologik“, insofern das Sein durch sie begriffen wurde. Mit diesem Begriff des „Seins“ – von Parmenides, der ihn noch als Geschenk der Göttin Dyke empfing, beginnt laut Hegel die Philosophie. Für den Gräzisten Bruno Snell hat sie die Durchsetzung bestimmter Artikel bei der Substantivierung von Verben und Adjektiven (wie Das Sein z. B. ) zur Voraussetzung: ein Abstraktionsvorgang, dessen Übersetzung ins Lateinische z. B. nur um den Preis seiner Rekonkretisierung (einer umständlichen Umschreibung) gelang. In „Die Entdeckung des Geistes. Studien zur Entstehung des europäischen Denkens bei den Griechen“ (1947) schreibt Snell, dass „das Griechische in der Naturwissenschaft den Logos aus der Sprache entbunden hat … Nur hier sind die Begriffe organisch der Sprache entwachsen. Nur in Griechenland ist das theoretische Bewußtsein selbstständig entstanden, alle anderen Sprachen zehren hiervon, haben entlehnt, übersetzt, das Empfangene weitergebildet.“
Der Kulturwissenschaftler Friedrich Kittler hat ausgehend von Snells Studien gemeint, „daß die griechischen Buchstaben seit etwa 450 v. Chr. eine zweite, arithmetische Bewandtnis annahmen: Alpha stand zugleich für Eins, Beta für Zwei, Gamma für Drei usw. Zum erstenmal in aller Mediengeschichte entsprangen die Zeichen für Kardinalzahlen der Reihung oder Ordinalität eines Alphabets.“ Dieser „sogenannte Stoichedon-Stil im archaischen Athen“ war eine der „Möglichkeitsbedingungen von Wissenschaft überhaupt“. Kittler wandte sich mit seiner These „Schrift, Zahl unds Ton im Medienverbund“ explizit gegen jeden marxistischen Versuch, Mathematik und die abstrakten naturwissenschaftlichen Begriffe aus der Ökonomie – konkret: aus der Einführung des Geldes im griechischen Warenhandel (etwa 500 vor Chr. in Ionien) – abzuleiten, wobei er sich namentlich auf Alfred Sohn-Rethel bezog, der an einer historisch-materialistischen Erklärung der angeblich ontologischen Kategorien arbeitete, d. h. es ging ihm um den Ursprung des abstrakten Denkens in Begriffen, die Immanuel Kant als Apriori unserer Wahrnehmung bezeichnete.
Die dazu notwendige „Realabstraktion“ fand für Sohn-Rethel in der Tauschsphäre, der Warenzirkulation, statt – während einige andere Marxisten sie bereits aus der „abstrakten Arbeit“ ableiteten. Die meisten begnügten sich indes damit, das mathematisch-naturwissenschaftliche Denken als adäquate Widerspiegelung der Naturerscheinungen zu begreifen. Die Natur liefert aber „keine identischen Gegenstände wie das Geld als Geld, sie liefert also kein Moment im Erfahrungszusammenhang, das die Möglichkeit der Abstraktion hervorbringen würde“, heißt es bei Rudolf Müller. Die Naturwissenschaftler glauben, die Ausschaltung des Anthropomorphismus und den Zugang zur objektiven Naturerkenntnis geschafft zu haben, sie haben aber laut Alfred Sohn-Rethel „nur einen früheren durch ihren eigenen ersetzt“.
Bei den Psychologen hat es dem gegenüber nicht an entwicklungsgeschichtlichen Erklärungen für das „logische Denken“ gefehlt, es wurde jedoch nicht als „gesellschaftliche Praxis“, sondern „subjektiv“ gefaßt. Folgt man dem „Neukantianer“ Wilhelm Windelband war die „Apriorität“ aber „bei Kant kein psychologisches, sondern ein rein erkenntnistheoretisches Merkmal: es bedeutet nicht ein zeitliches Vorhergehen vor der Erfahrung, sondern eine sachlich über alle Erfahrung hinausgehende und durch keine Erfahrung begründbare Allgemeinheit und Notwendigkeit der Geltung von Vernunftprinzipien.“
Für den englischen Biologen Rupert Sheldrake ist es originellerweise die Logik selbst, die zur Evolution fähig ist: Zunächst gab es nur so etwas wie „atomare Gewohnheiten“, aus denen z. B. „mechanische Gesetze geworden“ sind, diese können sich – ebenso wie die Tier- und Pflanzen-Arten – verändern. Die Evolutionstheorie ist also auch für die Naturgesetze gültig, deswegen gibt es sie eigentlich gar nicht: nur „zeitweilige Gewohnheiten der Natur“, schreibt Sheldrake in seinem Buch „Der Wissenschaftswahn“ (2012). Er macht darin mit der „Logik“ das selbe, was Darwin mit dem „Kapitalismus“ und Engels sowie Stalin mit der „Dialektik“ taten: Sie projizierten deren Entstehung in die Natur. Der Verhaltensforscher Konrad Lorenz hat – als Inhaber des Königsberger Kant-Lehrstuhls ab 1941 – versucht, die Apriori-Begriffe des Philosophen der Französischen Revolution darwinistisch-biologisch aus der Entwicklung und Struktur unseres Erkenntnisapparates, d. h. aus der natur- bzw. stammesgeschichtlichen Entwicklung des Menschen, abzuleiten – um den Kantschen Dualismus von Natur und Vernunft zu überwinden. Die Logik als Ergebnis von Mutationen?
In Lorenz‘ Hauptwerk „Die Rückseite des Spiegels. Versuch einer Naturgeschichte des menschlichen Erkennens“ (1973) heißt es: „So wie die Flosse a priori gegeben ist, vor jeder individuellen Auseinandersetzung des Jungfischs mit dem Wasser, und so, wie sie diese Auseinandersetzung erst möglich macht, so ist dies auch bei unseren Anschauungsformen und Kategorien in ihrem Verhältnis zu unserer Auseinandersetzung mit der realen Außenwelt durch unsere Erfahrung der Fall.“ So spricht Konrad Lorenz auf dem Kant-Lehrstuhl (er weiß sich dabei mit dem Philosophen Karl Popper einig), als Verhaltensforscher hat er jedoch gelernt, genau zu beobachten, wie der Philosoph Wolfgang Thorwald in seinem Aufsatz über Lorenz nahelegt: „Die Gesetze der reinen Mathematik sind für Kant wie die der Geometrie von jeder Erfahrung unabhängig, apriorisch, denknotwendig und besitzen daher für ihn eine absolute Geltung. Dies kritisiert Lorenz als Verabsolutierung einer Abstraktion (Abstraktionen können prinzipiell niemals absolut gelten, weil sie im Wortsinne bestimmte Merkmale eines Gegenstandes von ihm abziehen‘ und isoliert herausstellen. D. h. Abstraktionen sind immer inhaltsärmer als der ihnen zugrundeliegende Gegenstand).
Auch die Mathematik ist nach Lorenz ein Produkt des menschlichen Erkenntnisorgans, das stammesgeschichtlich entstanden ist. Daher kann auch die Mathematik für ihn keine absolute, im eigentlichen Wortsinn apriorische Geltung besitzen. Für Lorenz ist die Mathematik ursprünglich eine Anpassungsleistung des menschlichen Denkorgans an die Außenwelt: Die Mathematik sei nämlich durch das Abzählen realer Einheiten entstanden. Dabei arbeite sie mit Abstraktionen, die den realen Inhalten und Gegebenheiten aber „grundsätzlich nur annäherungsweise“ angemessen seien. Zwei Einheiten seien sich nur deshalb absolut gleich, weil es ,genaugenommen‘ beide Male dieselbe Einheit ,nämlich die Eins‘ ist, die mit sich gleichgesetzt werde. So sei die reine mathematische Gleichung letztlich eine Tautologie‘, und die reine Mathematik wie die Kantischen apriorischen Denkformen inhaltsleere Verabsolutierungen: Leer sind sie tatsächlich absolut‘, aber absolut leer.‘ In der Mathematik besitze Gültigkeit immer nur der leere Satz‘. Die Eins, auf einen realen Gegenstand angewandt, findet im ganzen Universum nicht mehr ihresgleichen.‘ Wohl seien 2 und 2 vier, niemals aber sind zwei Äpfel, Hammel oder Atome plus zwei weiteren gleich vier anderen, weil es keine gleichen Äpfel, Hammel oder Atome gibt‘.“ usw…
(aus „Affen“ – Reihe Kleiner Brehm, Peter Engstler Verlag 2013)
Animal turn
Die Birdwatcherin Ulla-Lena Lundberg folgte „ihren“ Gänsen bis in die äußerste Mongolei, den „turn“, erklärte sie (sich) so: „Von Vogelbeobachtern heißt es, sie seien Menschen, die von anderen Menschen enttäuscht wurden. Darin liegt etwas Wahres, und ich will nicht leugnen, dass ein Teil des Entzückens, mit anderen Vogelguckern gemeinsam draußen unterwegs zu sein, in der unausgesprochenen Überzeugung liegt, die Vögel verdienten das größere Interesse.“
Dieses ist allerdings auch mit größerer Anstrengung verbunden: „Ist es schon schwer genug, die vollständige Geschichte auch nur eines Zugvogels zu beschreiben, so vergrößert sich diese Schwierigkeit noch, wenn man vorhat, die ‚allgemeine Geschichte aller‘ darzustellen. Die Zusammenfassung zu Arten wird daher unvermeidlich,“ merkt Wolf Lepenies zu Buffons „Naturgeschichte der Vögel“ an, die 1836 veröffentlicht wurde. 23 Jahre später erschien Darwins Evolutionstheorie „Über die Entstehung der Arten“.
Seitdem sind diese wieder ins Werden (in flux) geraten – was mit bloßem Auge aber nicht zu erkennen ist. Die „Vogelgucker“, mit und ohne mysanthropischem Background, beobachten deswegen zumeist Artverhalten. Nun, da es nur noch eine „ökologische“, keine „ökonomische Utopie“ mehr zu geben scheint, bahnt sich aber ein neuer „turn“ an.
Für den Münchner Ökologen Josef Reichholf stellt er sich so dar: „Tiere, auch solche in freier Wildbahn, müssen zu Individuen mit besonderen Eigenheiten werden. Zu lange wurden sie lediglich als Vertreter ihrer Art betrachtet, sogar von Verhaltensforschern. Das machte sie austauschbar und normierte sie zum ‚arttypischen Verhalten‘, aus dem die ‚artgerechte Haltung‘ abgeleitet wurde. Das ist falsch. Erst eine ausgeprägte Individualität erzeugt Nähe.“ Und die braucht es anscheinend, wir müssen also gewissermaßen zusammenrücken – auch theoretisch. „Sag Du zum Gnu“ titelte Cicero darob; Die „Jungle World“ blieb jedoch kritisch – angesichts der ganzen „Animal Studies“ in Wort, Bild und Ton: Erst mal müssen die Menschen durchstudiert und aufgeklärt werden, die Befreiung der Tiere – das ist dann „Aufgabe der Geschichte, und zwar einer Geschichte, an der das Tier im Mensch beteiligt ist, wie auch der Mensch die Tiere mit in die Geschichte nimmt.“ Dunkle Worte! Der Wissenssoziologe Bruno Latour ist da naiver – und optimistischer, meint aber das selbe: „Irgendwann wird man es genauso seltsam finden, verspricht er, „dass die Tiere und Pflanzen kein Stimmrecht haben – wie nach der Französischen Revolution, dass bis dahin die Menschenrechte nicht auch für Frauen und Schwarze galten.“
P.S.: Der „Greek turn“ ist nicht so weit entfernt vom „Animal turn“ wie man vielleicht denkt, denn was für die Wiesen das Lachen ist für die Fauna mindestens ein Schmunzeln.