vonImma Luise Harms 29.09.2007

Land Weg

Das Land ist Ressource und Erweiterungsgebiet für die Stadt, aber auch ihre bestimmte Negation. Grund zum Beobachten, Experimentieren und Nachdenken.

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Die Walnuss schmeckt zart-süß und fein-herb, eine Spur bitter im Nachgeschmack, nussig im Ganzen. Ist aber doch ziemlich klein. Als G. mir auf dem letzten gentechnik-freien Frühstück in Zollbrücke anbot, einen Sack voll davon unter ihrem Walnussbaum zu sammeln, habe ich gezögert. Jetzt finde ich, für diese Nuss lohnt sich auch das Knacken kleiner Einheiten.

G. wohnt nördlich von Bad Freienwalde, direkt an der alten Oder. Ich will sowieso nach Liepe, um in einem Rinderzuchtbetrieb Fleisch zu kaufen. Die Tiere stehen hier, in dem nördlichen Zipfel des Oderbruchs überall auf der Weide herum und haben es schön. Könnte man doch noch den Nachbarn in Reichenow was mitbringen, dann lohnt sich die weite Fahrt besser. Der Hofladen ist nur freitags geöffnet. Ich kaufe Rouladen, Tafelspitz und eine Beinscheibe. Inzwischen gibt es auch Fleisch vom Bio-Schwein, wegen der steigenden Nachfrage. Aber eine Preisliste gibt es nicht. Die Verkäuferin schreibt mir die Preise von ihrer Waage ab. Sie lobt auch noch ihre Rindersalami und die selbst gemachte Leberwurst. Aber für heute habe ich genug.

Die Straße nach Oderberg ist gesperrt. Schon lange. Die weiträumig und solide angebrachten Umleitungsschilder lassen darauf schließen, dass man die Durchführung der Baumaßnahme als ein Generationenwerk ansieht. Ich nehme aber nicht die Umleitung sondern eine schmale Straße, die sich am nördlichen Rand des Oderbruchs zwischen Oder-Kanal und dem angrenzenden Waldgebiet entlangschlängelt. Die Anwohner kennen natürlich auch diesen Weg. Es gibt reichlich Gegenverkehr, man muss sich gegenseitig Platz machen. Ich fahre an die Seite oder passiere Autos, die für mich ausgewichen sind. Man hebt lässig die Hand vom Lenkrad oder nickt sich zu; man nimmt freundlich voneinander Notiz. Warum müssen Straßen zum schnell aneinander Vorbeirasen ausgebaut werden, wenn die Straße zu teilen einen doch freundlich stimmt?

Am Schöpfwerk geht es über eine Holzbrücke. Die Straße führt zickzack durch das von Gräben, Dämmen und Baumreihen durchzogene Grasland, eine Flusslandschaft, die seltsame, traurig-schöne Gefühle aufsteigen lässt und auch bei grauem Himmel nach träger Nachmittagssonne aussieht. Von Bralitz nach Schiffmühle ist die Straße wieder breit genug für Ignoranz und 100 Stundenkilometer. Sie führt durch lichten hohen Wald. Weiße Pilzhüte sind über den Waldboden verstreut, soweit man sehen kann. Parasole? So viele? Ich halte an, entfalte mein Klappmesser und lasse mich in den Wald locken. Nein, Parasole sind das nicht, aber was? Knollenblätterpilze haben auch so eine gelbe Verfärbung. Das laß ich mal lieber.

Hinter der alten Oder geht es links rein zu G.’s Haus. Eine Reihe von Bauernhäusern, wie man sie sich erträumt, Wohnhaus, Scheune, Ställe und Schuppen. Gemüse, Kräuter, alte Obstbäume hinterm Haus und noch mehr Obstbäume in dem Garten, der sich auf der anderen Straßenseite zum Fluß absenkt. G. steht unter einem Pflaumenbaum. Die Blätter sind schon ab, aber die überreifen Pflaumen halten sich in dichten Trauben zäh am Zweig. „Probier mal, das sind alles unterschiedliche Sorten, die mein Vater hier gepflanzt hat.“ G. ist eine zart gestaltete, energie-geladene Frau im Vorrentenalter, Aktivistin in verschiedenen Naturschutzorganisationen. Sie kämpft tapfer gegen die Fülle der Natur, lenkt sie in sinnvolle Verwertungsbahnen. Unter den geballten Apfelladungen an den schwer herunterhängenden Zweigen stehen schon vollgesammelte Körbe. Morgen kommen die Kinder und nehmen was mit. Die Pflaumen schmecken nicht besonders. Keine der drei Sorten. Die kann man ruhig hängen lassen. Zu wenig Sonne den Sommer über, zu viele Früchte für so einen Baum. Die hat er einfach nicht süß gekriegt.

G. beißt in die Pflaume, klappt sie auseinander und blickt in das Innere. „Stell dir mal vor, es ist was Trauriges passiert. Der E. hat sich umgebracht!“ Wer ist E.? „Das ist ein ganz Lieber, war ein ganz Lieber. Der hat hier immer sein Pferd zum Grasen hergebracht oder Heu gemacht. Hat auch mal hier geholfen. Das war ein ganz Stiller, so um die 40, hatte keine Familie mehr, Eltern tot, nicht verheiratet. Lebte ganz allein in seinem Häuschen in Bralitz.“ Umgebracht. Höflich lasse ich die Nachricht in mich eindringen. „Weiß man denn, warum?“ „Es könnte zwei Gründe gegeben haben. Der E. war ja immer total gesund, so ein Bär war der. Dann ging es ihm vor zwei Wochen nicht so gut, fühlte sich irgendwie schlapp. Ein Freund sagt ihm, jetzt geh doch mal zum Arzt. Er geht also zu dem Arzt in Bralitz, war nie vorher da, weil er ja, wie gesagt, immer gesund war. Der Arzt stellt fest, dass seine Chipkarte von der Krankenkasse abgelaufen ist, und schickt ihn wieder nach Hause, behandelt ihn einfach nicht!“ G. dreht sich zum Fluß, ihr Blick gleitet zwischen den Baumstämmen hindurch. „Das ist doch ungeheuerlich, oder? Wie kann der den einfach wegschicken?“

„Und das andere?“ „Ja, also der E. hat sich ja in allem immer selbst versorgt, hat wahnsinnig bescheiden gelebt, sich absolut nichts gegönnt. Hatte seine Tiere, seinen Garten. Und das war sein Leben. Früher war er bei der Reichsbahn, war aber schon lange arbeitslos. Also auf Hartz 4. Hat von seinem bisschen Geld dadurch trotzdem einiges gespart. Und da schickt ihm das Finanzamt doch vor ein paar Monaten ein Schreiben. Das Geld könnte er nicht von seinem ALG 2 überhaben, das müsste er schwarz verdient haben. Und dann rechnen sie ihm vor, wie hoch die Lebenshaltungskosten nach den Standardsätzen sind, was ja mit seinem Leben überhaupt nichts zu tun hat, und wie viel er demnach von seiner Stütze höchstens übrighaben kann. Also hätte er wohl schwarz ein Gewerbe betrieben. Also soll er 40.000 Euro Gerwerbesteuer nachzahlen.“

Jetzt verwandelt sich meine höfliche Betroffenheit langsam in schwarze Wutwürmer, die aus dem Bauch nach oben kriechen. Ich stelle mir die Sachbearbeiter vor, wie sie auf ihren Drehstühlen vor den Bildschirmen hocken, Vorgänge bearbeiten und in der Frühstückspause Müslijoghurt löffeln. Und ich stelle mir den unbeholfenen Mann vom Land vor, der sich sein Leben selbstgenügsam in einem Netz von Nachbarschaft organisiert hatte. 40.000 Euro. Und tasächlich haben sie dann auch noch einen Gerichtsvollzieher geschickt. Den hat er aber vom Hof gejagt. Erstmal. Ein paar Monate später haben sie, ohne jede Begründung, die Summe von 40.000 Euro auf 7.000 Euro reduziert und dabei aber deutlich gemacht, dass sie diese Summe auf jeden Fall vollstrecken werden. „Den Schrieb mit der Ankündigung, dass sie zum Pfänden kommen, hatte er in seiner Tasche, als er sich am Durchgang zwischen Haus und Scheune aufgehängt hat. Das war vor drei Tagen.“ G. bückt sich, sammelt ein paar Pflaumen zusammen, streicht dabei über das Gras, das E.’s Pferdchen abgeweidet hat. „Das müsste man doch öffentlich machen, oder?“ Finde ich auch. Aber interessiert es wirklich jemand? Muss dazu eine Rührstory daraus gemacht werden? Ich sage: „Wenn du recherchierst, mit den Ämtern und den Verwandten sprichst, dann will ich wohl was drüber schreiben.“

G. hat das Gartentor hinter mir geschlossen, wir gehen über die Straße zum Haus, hinter dem der Walnussbaum steht. „Wie lange hätte ich denn Zeit dazu?“ „Na, vielleicht eine Woche“. G. sagt nichts mehr. Das wird sie nicht schaffen. Die Äpfel, die Kürbisse, die Kinder. Eine Geschichte, die nicht geschrieben wird. Ein Skandal, der keine Folgen haben wird.

Die Zweige des alten Walnussbaumes bedecken ein halbes Fußballfeld. Unter seinem Dach kniet eine Frau, noch ein bisschen älter als G. Blond gehaltenes Haar mit abstehenden Dauerwellen. Das ist die Nachbarin, die auch zum Walnuss-Sammeln gekommen ist. G. macht uns bekannt und lässt uns dann allein. Ich schnappe nach den kleinen hellbraunen Nüssen. Die saftige sattgrüne Schale, in der sie den Sommer über gereift sind, hat sich in schmierige Schärze verwandelt, die sich von der zerklüfteten Schale nicht lösen will. Ich habe einen unverschämt großen Korb mitgebracht, fühle mich etwas unbehaglich. „Ach, sind Sie auch so eine, die immer singt?“ fragt die Nachbarin von der anderen Seite des Baumes. Tatsächlich, ich habe vor mich hingesungen, noch dazu so einen Schwachsinn von Harry Belafonte „Wo meine Sonne scheint und wo meine Sterne stehn…“ Wie ich das hasse, wenn ich singe und es nicht merke. Emotionale Inkontinenz. Ätzend. Ich konzentriere mich aufs Sammeln. Immer rein in den Korb. Es wird überhaupt nicht weniger dadurch. „Jetzt haben Sie aufgehört mit Singen“ stellt die Nachbarin fest. „Mein Mann hat auch immer gesungen. Das haben alle in der Nachbarschaft gewusst. Das fehlt denen jetzt.“ „Wo ist denn Ihr Mann“, frage ich entgegenkommend. „Der ist gestorben. Aber ich singe auch manchmal. Damit ich meine Stimme trainiere. Ich hatte ja ne Schilddrüsenoperation. Danach hatte ich nen richtigen Bass. Jetzt wird es langsam wieder.“

Die Nachbarin hat sich an mich heran gearbeitet. „Sie machen ja die Schalen gar nicht ab! Hier, wollen Sie meine Handschuhe haben?“ „Ich mach die zuhause ab!“ „Dann müssen Sie die Nüsse ja alle noch mal in die Hand nehmen! Machen Sie das man lieber gleich. Soll ich Ihnen helfen?“ Ich finde, dass sie das nichts angeht. Ich sammle intensiv in eine andere Richtung, suche dabei nach unverbindlichen Themen. Die Fähre über die Oder, die immer noch nicht eroffnet ist, usw. Sie greift jedes Thema dankbar auf und hat auch was dazu beizutregen. Sie kommt aus einem Dorf 30 Kilometer östlich von Frankfurt Oder, also aus Polen, vormals Pommern. Da haben sie jetzt regelmäßig Heimatabende. Zusammen mit den Polen. Inzwischen kennen sich alle gut, die alten und die neuen Bewohner. Die Polen hatten es auch nicht einfach. Die sind aus der Gegend von Lemberg hierher umgesiedelt worden. „Die mussten ja unsere Häuser kaufen, die Polen, und dabei wurde ihnen gesagt, dass die deutschen Voreigentümer das Geld kriegen. Die dachten also, dass sie jetzt die rechtmäßigen Besitzer sind. Aber sind sie auch. Wir haben schließlich den Krieg verloren.“

Die Nachbarin hat sich wieder an mich herangesammelt. Ihr Korb ist voll. Jetzt wirft sie die Nüsse, die sie aus der schwarzen Schale pellt, in meinen Korb und erzählt dabei weiter. Dieses und jenes von jetzt und von früher. Dann muss sie plötzlich weg, zu viele Pflaumen gegessen, sagt sie. Ich trage den vollen Korb ins Auto, verabschiede mich von G., die schon wieder woanders Apfel in Körbe füllt. Warum denn nur? „Ich muss doch den Rasen frei kriegen“, sagt sie.

Bei Obi kaufe ich auf dem Rückweg einen Patent-Nussknacker, eine Art Nuss-Garotte, die die Schale schön langsam und gleichmäßig von allen Seiten eindrückt, ohne den Kern dabei zu zermatschen. „Schon Nussknacker?“ fragt die Frau an der Kasse. Es klingt, als hätte sie gesagt: „Schon Weihnachten?“ Ich sage: „Na, es gibt ja auch schon Nüsse!“ „Stimmt“ sagt sie, „bei uns im Garten der Haselstrauch, der hat solche Nüsse“. Sie legt die Registrierpistole aufs Laufband und zeigt mit Daumen und Zeigefinger: „Aber wirklich. So groß!“

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https://blogs.taz.de/jottwehdeh/2007/09/29/44/

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kommentare

  • kann die taz diesen beitrag an alle finanzaemter mailen? und an das bundesministerium fuer arbeit und soziales?

    danke fuer diese realistische poetische prosa über und aus jottwedeh

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