vonImma Luise Harms 12.09.2011

Land Weg

Das Land ist Ressource und Erweiterungsgebiet für die Stadt, aber auch ihre bestimmte Negation. Grund zum Beobachten, Experimentieren und Nachdenken.

Mehr über diesen Blog

(…)

Über die Hälfte der Einwohner Reichenows sind ehemalige Flüchtlinge. Die meisten sind aus Pommern herüber gekommen, das auf der anderen Seite der Oder begann. Sie wurden zuerst in dem verlassenen Schloss und in den zu Wohneinheiten aufgeteilten Gutshof-Gebäuden untergebracht. Dann kam die Bodenreform. Die Flüchtlinge bekamen ein Stück Land und wurden Siedler. So entstand die Neue Dorfstraße. Sie wurde als Ausleger vom Schloß-Gutshof-Komplex aus in das nördliche Ackerland hineingetrieben.

Wie bei vielen Siedlungsdörfern in Brandenburg umschließen die Grundstücke einen lang gezogenen Dorfanger, auf dem anderswo traditionell die für die Gemeinde wichtigen Einrichtungen stehen – die Kirche, die oft auch Versammlungsraum ist, die Schule, die Schmiede, ein Stück Freifläche für Dorffeste, eine Obstwiese, ein bisschen Gartenland zum Anbauen.  Hier ist der Dorfanger fiktiv: die freie Grasfläche, die der Straße ihre Weite gibt. Gemeinde-Entwicklungsland – aber davon später.

Durch die Reichenower „Stalinallee“ fahren weder Panzer noch die riesigen Erntemaschinen, mit denen hier der Krieg gegen den Acker geführt wird. Sie kämen gar nicht durch, denn die Neue Dorfstraße ist eine Sackgasse, genauer: zwei Sackgassen – ein in der Mitte abgeschnürtes Gebilde. Diese Abschnürung ist ein Tribut an die Geschichte.

Schloss und Gutshof, die zusammen einen umfangreichen Baukörper bilden, waren nach Abzug der Baronen-Familie der Gemeinde zugefallen. Die Verantwortlichen standen vor dem Problem, wie man das für normale Menschen bewohnbar machen und die neue Häuserreihe anschließen sollte. Ein Plan bestand darin, den 170 Meter langen Bauriegel aus Stall- und Speichergebäuden in handliche Wohnhäuser zu zerteilen und die Straße zum Anschluss an die Hauptstraße des Dorfes zwischen ihnen hindurchzuführen. Tatsächlich wurde eine 10 Meter breite Lücke in das lange Gebäude geschlagen. Dummerweise lag gerade an dieser Stelle der Eiskeller des Gutshofes. Das ist ein tief in der Erde liegendes Gewölbe, in dem im Winter Eisblöcke eingelagert wurden. Das Kellergewölbe war stabil genug, um das Erdreich darüber zu tragen. Aber ländlicher Straßenverkehr wäre wohl doch zu viel gewesen. So musste das Straßenprojekt aufgegeben werden. Die LPG baute später eine Kälberküche in die Baulücke; auch die ist inzwischen wieder abgerissen. Um die Baulücke ranken sich Legenden.

(wird fortgesetzt)

Anzeige

Wenn dir der Artikel gefallen hat, dann teile ihn über Facebook oder Twitter. Falls du was zu sagen hast, freuen wir uns über Kommentare

https://blogs.taz.de/jottwehdeh/2011/09/12/rekichenower_stalinallee_2/

aktuell auf taz.de

kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert